Kitabı oku: «Die Zerbrechlichkeit der Welt», sayfa 3
WIE BRINGT MAN DATEN IN EINEN KONTEXT?
Daten beschreiben fast immer eines von zwei Dingen: Entweder sie geben die Eigenschaften von Dingen wieder, zum Beispiel wie viel Geld Frau Müller am Konto hat oder wie schnell das Auto von Herrn Mayer gerade jetzt fährt. Oder sie geben an, wie eine Sache mit einer anderen in Verbindung steht. Letzteres ist nichts anderes als eine Verbindung in einem Netzwerk, ein »Link«. Also zum Beispiel: Herr X hat am 2. Juni 2020 Frau Y angerufen, das heißt, am 2. Juni waren X und Y durch ein Telefonat in Verbindung, es bestand ein »Kommunikationslink von X nach Y«. Diesen Link kann man nun in einer Datenbank speichern.
Daten sind bereits oft in einer Form, die die Essenz von komplexen Systemen ausmacht. Sie bilden bereits ab, was für die Beschreibung von komplexen Systemen notwendig ist: die Eigenschaften der Bauteile und die Netzwerke zwischen ihnen. Das ist der Grund, weshalb die Wissenschaft Komplexer Systeme wunderbar mit Big Data zusammenpasst.
Wenn es gelingt, in Daten einen Kontext herzustellen, können wir damit fantastische Dinge tun. Wir können daraus vollkommen neuartiges Wissen gewinnen und neue Einsichten, zum unmittelbaren Nutzen für die Menschheit. Diese Kopie gibt uns die Möglichkeit, den Homo Sapiens und seine Gesellschaften, Institutionen und sozialen Systeme erstmals wirklich zu verstehen, in einer Qualität, die bisher nur in den Naturwissenschaften möglich war. Fast so wie im Pardus-Spiel – nur in echt.
Diese Entwicklung ist mitunter das Spannendste, das ich bisher erlebt habe, denn es erlaubt der Menschheit in weiterer Folge, die Planung unserer Gesellschaft in Zukunft weitaus besser in den Griff zu bekommen. Und sie schafft eine ernstzunehmende Möglichkeit, die »großen Probleme« rational anzugehen und zu meistern.
Die Wissenschaft komplexer Systeme versucht systematisch, Kontext in Daten herzustellen. Um das zu tun, bedient sie sich oft sogenannter Agenten-basierter Modelle. Das sind Computermodelle, bei denen die Bauteile eines Systems als »Agenten« abgebildet werden. Diese Agenten haben Eigenschaften und stehen in Beziehungen zueinander. Diese Beziehungen bilden Beziehungsnetzwerke. Die Modelle beschreiben dann anhand sogenannter update-Regeln, die in Computeralgorithmen implementiert werden, wie sich die Agenten aufgrund der Beziehungen zueinander verändern, und wie sich die Beziehungen aufgrund der neuen Eigenschaften der Agenten zeitlich ändern. Der Algorithmus beschreibt also die zeitlichen Updates von Agenten und Netzwerken. Daten werden dann dazu verwendet, um die update-Regeln zu identifizieren, und um die Eigenschaften der Bauteile sowie die der Netzwerke möglichst realistisch abzubilden.
Besser verständlich wird die Sache anhand eines Beispiels, wie sich Viren ausbreiten. Menschen – die Agenten – haben immer eine von drei Eigenschaften: Sie sind entweder gesund und sind durch einen speziellen Virus ansteckbar, oder sie sind angesteckt und krank, oder sie sind nach überstandener Krankheit wieder gesund und immun und können daher nicht noch einmal angesteckt werden. Diese Agenten stehen über soziale Netzwerke miteinander in Verbindung. Immer, wenn eine Verbindung zwischen einem angesteckten und einem ansteckbaren zustande kommt, kann der ansteckbare angesteckt werden und seine Eigenschaft verändert sich. Seine sozialen Netzwerke ändern sich ebenfalls: Sobald ein Agent glaubt, dass sein Freund angesteckt ist, vermeidet er einige Tage den Kontakt, um nicht selbst angesteckt zu werden. Das nennt sich Social Distancing.
Wenn sich alle so verhalten, lässt sich nicht nur ausrechnen, wie sich die Seuche ausbreitet, sondern auch, wie sich Sozialkontakte über den Seuchenverlauf hinweg verändern. Wenn man das Social Distancing nicht berücksichtigt, kommt man manchmal auf extrem falsche Vorhersagen über die Seuchenausbreitung. An solchen bestand kein Mangel während der Corona-Krise.
Durch das erwähnte »in Kontext bringen« und durch das Verbinden von Agenten durch Netzwerke entsteht in der Wissenschaft komplexer Systeme manchmal eine Zusammenschau von verschiedenen Disziplinen. Es entsteht sogenannte Interdisziplinarität. Die Komplexitätsforschung verbindet das Fachwissen aus mehreren verschiedenen Bereichen, wie etwa der Physik, der Biologie, den Sozialwissenschaften, der Chaostheorie oder der Spieltheorie und der Theorie der Differenzialgleichungen aus der Mathematik.
KOMPLEX ODER KOMPLIZIERT?
Viele Phänomene und Systeme sind kompliziert. Sie sind deswegen aber noch lange nicht komplex. Wie wir besprochen haben, entsteht Komplexität erst, wenn die unterschiedlichen Bauteile eines Systems und ihre Verbindungen sich gegenseitig beeinflussen und sich in enger Abhängigkeit voneinander über die Zeit hinweg verändern.
Ein Beispiel aus der Physik: Die Planetenbewegung ist vielleicht kompliziert, speziell wenn man sie selbst berechnen soll, aber sie ist nicht komplex. Die Bauteile, nämlich die Sonne und die Planeten ändern sich nicht, nur ihre Position verändert sich. Auch ändert sich die Interaktion zwischen ihnen nicht. Die Wechselwirkung bleibt immer dieselbe: die Schwerkraft. Diese ändert zwar die Position der Planeten, aber die Bewegung der Planeten ändert in der klassischen Physik nichts an der Schwerkraft. Die Wechselwirkung bleibt dieselbe. Das System ist also nicht komplex. Auch eine Rakete, die zum Mond fliegt, ist nicht komplex. Sie folgt bekannten, vielleicht manchen etwas kompliziert anmutenden Differenzialgleichungen. Es kommen aber keine sich verändernden Netzwerke vor.
Ganz anders verhält es sich bei gesellschaftlichen Phänomenen. Wieder ein einfaches Beispiel: Ein Freund, mit dem ich durch einen »Freundschaftslink« verbunden bin, schenkt mir ein Buch zum Geburtstag. Die Lektüre ändert nun zum Beispiel nachhaltig meine Sichtweise zum Thema Tierschutz. Am nächsten Tag gehe ich in eine Tierklinik und spende ihr tausend Euro, was mir nicht nur Freude macht, sondern auch viele neue Freunde einbringt. Die Interaktion, mit der mein Freund mir das Buch geschenkt hat, ändert zunächst meine Eigenschaften, indem sie meinen Altruismus steigert, und bringt mir dann eine Menge neuer Interaktionen ein.
Durch die Veränderung der Individuen verändert sich das Netzwerk ihrer Freundschaften, und durch die Veränderung des Freundschaftsnetzwerkes verändern wir uns als Individuen. Das ist komplex.
NETZWERKE, NETZWERKE, NETZWERKE
Die meisten komplexen Systeme sind natürlich auch sehr kompliziert. Als Faustregel gilt: Wenn sich ein Netzwerk über die Zeit hinweg verändert und sich dadurch die Eigenschaften der Komponenten des Netzwerks verändern, dann ist ein System meist auch komplex. Mit dieser Definition wird nun klar, welche Systeme tatsächlich komplex sind: Jedes Ökosystem, jedes soziale System, jedes Finanzsystem, jede Zelle ist komplex. Aber auch jedes Lebewesen, ein Ameisenhaufen, das Gesundheitssystem, das Klima, das Internet und so fort. Das alles sind komplexe Systeme.
Als Organismen sind Menschen selbst komplexe Systeme. Sie sind umgeben und eingebettet in natürliche komplexe Systeme. Als soziale Wesen errichten sie ständig neue komplexe Systeme, wie zum Beispiel ihre sozialen Netzwerke. Die Welt besteht aus miteinander verwobenen, interagierenden, aufeinander einwirkenden und sich ständig verändernden komplexen Systemen.
Hinter vielen komplexen System stehen oft mehrere dynamische Netzwerke, die miteinander direkt zusammenhängen und sogenannte »Netzwerke von Netzwerken« bilden. So zum Beispiel hängen das Stromversorgungsnetzwerk, das Internet und das Kommunikationsnetzwerk zusammen. Das wird bei einem Stromausfall deutlich: Wenn ein umstürzender Baum eine Stromleitung lahmlegt und ein Transformator durchbrennt, sollte diese Störung natürlich über das Kommunikationsnetzwerk an eine Reihe von Personen weitergeleitet werden. Wenn durch den Stromausfall aber die Stromversorgung des Internets oder des Kommunikationsnetzwerks nicht mehr funktioniert, dann geht das nicht mehr. Dann kann man nicht mehr davon ausgehen, dass die notwendigen Maßnahmen an den anderen Stellen des Stromversorgungsnetzwerkes getroffen werden, dass zum Beispiel Transformatoren vom Netz genommen werden, damit sie nicht ebenfalls durchbrennen. So verursacht der Ausfall eines Netzwerkes den Ausfall eines anderen und verstärkt dadurch noch das Ausmaß des ersten. Wir werden im Laufe des Buches noch öfter auf Ausfälle dieser Art zurückkommen.
MEHR ALS DIE SUMME DER TEILE
Oft werden komplexe Systeme beschrieben als solche, bei denen »das Ganze« mehr ist als die »Summe seiner Teile«. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich bereits, was den Unterschied zwischen der Summe der Teile und dem Ganzen ausmacht: Es ist das Netzwerk der Interaktionen. Diese Netzwerke von Wechselwirkungen führen letztlich zu den Eigenschaften und Phänomenen der komplexen Systeme, die man beim Betrachten der Einzelteile – ohne Netzwerk – nie erwarten würde.
Man kann eine einzelne Ameise noch so genau untersuchen, studieren und bis ins kleinste Detail verstehen, man würde aus den entdeckten Eigenschaften der einzelnen Ameise niemals erwarten, dass sie in Gemeinschaft mit anderen Ameisen einen komplexen Staat errichten würde mit klaren Aufgaben, Arbeitsteilung und einem einfachen Sozialleben. Man würde vielleicht noch erwarten, dass eine einzelne Ameise, wenn man sie auf einen Tisch setzt, in einem zufälligen Muster herumspazieren würde. Doch setzt man zwei Ameisen auf den Tisch, beginnt die eine dem Geruch der anderen zu folgen. Früher oder später werden sich beide in einem Kreis verfolgen. Das ist etwas völlig anderes als das zufällige Wandermuster einer einzelnen Ameise. Wenn hunderte Ameisen zusammen sind, beginnen sie, einen Staat zu bilden. Das ist wieder ein vollkommen anderes System mit vollkommen anderen Eigenschaften.
Ähnlich verhält es sich mit Neuronen, den auf Erregungsleitung spezialisierten Nervenzellen. Ein einzelnes Neuron funktioniert im Grunde ähnlich wie ein elektrisches Kabel. Es leitet einen elektrischen Impuls entlang des Axons, eines schlauchartigen Zellfortsatzes. Das ist nicht komplex. Doch wenn mehrere Neuronen über Synapsen, vergleichbar etwa mit biologischen »Lötstellen«, zusammengeschaltet sind, geschieht etwas vollkommen Unerwartetes: Sie können plötzlich lernen. Einige von ihnen können zum Beispiel einen Schaltkreis bilden, der im Kopf einer Fliege deren Flugverhalten steuert. Wenn sehr viele Neuronen zusammenkommen, entsteht irgendwann einmal sogar etwas wie ein Bewusstsein. Es sind immer dieselben Bauteile, die Nervenzellen, es sind immer dieselben Verbindungen, die Synapsen. Entscheidend für die »kognitiven« Eigenschaften ist die Plastizität der Schaltstellen, also der Umstand, dass die »Lötstellen« nicht immer gleich gut miteinander verbunden sind, sondern sich verändern. Zellverbindungen, die oft verwendet werden, werden stärker »verlötet«, das neuronale Netzwerk ändert sich. Wesentlich für die kognitiven Fähigkeiten ist auch die Größe des Systems.
Das Phänomen, dass sich die Eigenschaften eines komplexen Systems nicht unmittelbar aus dessen Bauteilen erschließen, nennt man Emergenz. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »herauskommen« und bezeichnet das Hervorkommen von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Der Ameisenstaat und das Fliegenhirn sind Beispiele für Emergenz. Ein weiteres, offensichtliches Beispiel dafür ist Massenpanik, die in großen Menschenmengen entstehen kann. Ein Verhalten, das einzelne Menschen allein nicht zeigen. Oder das Verhalten von Fischen oder Vögeln in Schwärmen. Man nennt Phänomene, die aus den sogenannten Mikroeigenschaften seiner Bauteile in Kombination mit deren Wechselwirkungsnetzwerken entstehen, die Makroeigenschaften. Manchmal wird Emergenz als das Gegenteil vom erwähnten Reduktionismus gesehen, bei dem versucht wird, »das Ganze« durch das Verständnis der Elemente allein zu verstehen. Bei komplexen Systemen ist das eben nicht möglich.
MAKROEIGENSCHAFTEN
Komplexe Systeme bilden häufig sogenannte Makroeigenschaften aus. Sie können dabei unterschiedliche Systemzustände einnehmen. Ein einfaches, nicht komplexes Beispiel für eine Makroeigenschaft sind die Aggregatzustände von Wasser. Chemisch gesehen ist Wasser immer eine Ansammlung von Molekülen, die meist aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom bestehen. Je nach Temperatur bewegen sich diese Moleküle unterschiedlich schnell und sind dadurch unterschiedlich stark aneinander gebunden. Ist es kalt, ist Wasser fest, bei Raumtemperatur ist es flüssig, und durch Erhitzen wird es irgendwann dampfförmig. Es ist immer dasselbe Molekül – mit drei grundverschiedenen Makroeigenschaften.
Ein anderes Beispiel für eine Makroeigenschaft ist der Zustand einer Volkswirtschaft. Es gibt einen Systemzustand, in dem die Wirtschaft boomt, in dem Vollbeschäftigung herrscht und Überschüsse produziert werden, die umverteilt werden können. Alle haben Arbeit und den meisten geht es gut. Auch für jene, die nicht arbeiten, ist genug vorhanden. Dieselben Menschen mit exakt denselben Eigenschaften und denselben Fähigkeiten können sich aber auch in einem anderen Systemzustand befinden, in dem die Wirtschaft am Boden liegt, viele arbeitslos sind und wo so wenig produziert wird, dass die meisten verarmt sind. In diesem Zustand macht es für niemanden mehr Sinn, die Initiative zu ergreifen, und niemand investiert mehr. Diese Makroeigenschaft »Krise« kann über lange Zeit bestehen bleiben.
Zwischen den verschiedenen Systemzuständen oder Makroeigenschaften gibt es häufig abrupte Übergänge, die sogenannten Kipp-Punkte oder Tipping Points, die wir im ersten Kapitel kennengelernt haben. Bei Wasser liegen diese bei 0 und 100 Grad Celsius, wo der radikale Übergang von fest zu flüssig und von flüssig zu gasförmig stattfindet. In der Wirtschaft kann es ein äußerer Anlass sein, wie zum Beispiel eine Finanzkrise, die zu einem Übergang von einer Boom- in eine ausgedehnte Depressionsphase führen kann. Hier ist es schon weitaus weniger klar, wo sich die Kipp-Punkte befinden und welche Faktoren zum Kollaps führen.
Zu den wichtigsten Makroeigenschaften von komplexen Systemen zählen Eigenschaften wie: Stabilität, Robustheit, Effizienz, Resilienz und Anpassungsfähigkeit. Ein System ist stabil und robust, wenn es einen Schock aushält und übersteht, ohne in seiner Funktion stark beeinträchtigt zu werden. So weit so logisch. Das hat noch wenig mit Komplexität zu tun. Schwieriger wird es beim Begriff der Effizienz. Ein System ist effizient, wenn es gut funktioniert in dem Sinn, dass der Output in Relation zum Input hoch ist. In komplexen Systemen hängt Effizienz oft stark mit den Details der zugrundeliegenden Netzwerke zusammen.
Zum Beispiel hängt der Output einer Firma stark damit zusammen, wie sie organisiert ist. Wie hierarchisch ist sie, wie sehen die Interaktionsnetzwerke zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus? Wie sind die Produktionsabläufe und die Verwaltungsstrukturen in Netzwerken organisiert, wie beeinflussen diese die Motivation und Produktivität der einzelnen MitarbeiterInnen? Wie stabil sind die Zuliefernetzwerke und wie verlässlich sind die internationalen Handelsnetzwerke?
ANPASSUNGSFÄHIG UND RESILIENT
Die meisten komplexen Systeme sind anpassungsfähig und brechen nicht gleich beim geringsten Schock zusammen. Die Anpassungsfähigkeit kommt daher, dass sich die Netzwerke in den Systemen aufgrund von äußeren Störungen verändern können. Anpassungsfähigkeit führt dann zu dem, was Resilienz genannt wird. Ein System ist resilient, wenn es durch einen Schock zwar getroffen wird und zunächst nicht mehr so gut funktioniert wie zuvor, dass es aber die Fähigkeit besitzt, sich quasi selbst zu reparieren, und nach einiger Zeit wieder zu einer Funktionsfähigkeit wie vor dem Schock kommt.
Resilienz konnte zum Beispiel während des Lock-Downs in der Corona-Krise beobachtet werden. Durch einen Lock-Down wird etwa das Produktionsnetzwerk stark in Mitleidenschaft gezogen, weil viele nicht mehr arbeiten gehen können und dadurch Lieferketten unterbrochen werden. Die Produktion und die Wirtschaftsleistung sinken. Nach dem Lock-Down funktionieren die Links in den verschiedenen Produktionsnetzwerken aber wieder. Vielleicht hat man in der Zwischenzeit sogar überlegt, verschiedene Dinge besser oder anders zu machen. Letzteres verändert dann das Produktionsnetzwerk und damit die Gesamtfunktionsweise des Systems. Wenn viele dieser kleinen Änderungen im Netzwerk gleichzeitig passieren, kann es zu massiven sprunghaften Änderungen kommen, zu Systemumbrüchen oder Phasenübergängen. Tipping Points wurden dann erreicht.
TIPPING POINTS
Das bringt uns wieder zurück zu den Tipping Points. Erstmals verwendet wurde der Begriff Mitte der 1950er-Jahre bei Untersuchungen zur Rassentrennung, heute wird er häufig im Zusammenhang mit Klimamodellen und dem Kippen von Ökosystemen verwendet. Als ein Kipp-Punkt im Zusammenhang mit der Klimakrise gilt zum Beispiel das Auftauen von Permafrost-Böden. Eines der zentralen Probleme bei der Erforschung komplexer Systeme ist das Auffinden solcher Kipp-Punkte, beziehungsweise – noch grundlegender – jener Parameter, die zu abrupten Veränderungen des Gesamtsystems führen. Bei vielen sozialen und ökonomischen Systemen ist derzeit noch völlig unklar, welche Faktoren das sind. In der Physik, also bei »einfachen« Systemen, sind die Tipping Points, oder »Phasenübergangsparameter« hingegen oft gut bekannt, etwa der Gefrier- oder Siedepunkt.
Eine weitere Eigenschaft von komplexen Systemen ist, dass sie manchmal extrem sensibel auf kleine Veränderungen reagieren. Sie können also auch das Gegenteil von robust und stabil sein. Das heißt, dass eine kleine Änderung einer Input-Größe einen riesigen Effekt auf den Output hat, dass er sich vielleicht sogar sprunghaft ändert.
Aus der Chaostheorie ist der sogenannte »Schmetterlingseffekt« bekannt. Dieser besagt, dass eine minimale Änderung eines Parameters, wie zum Beispiel das Flattern eines Schmetterlings in Brasilien, zu riesigen Auswirkungen führen kann, wie etwa zu einem Tornado in Texas. Der Grund für diese großen Auswirkungen kann entweder an der nicht-linearen Natur der komplexen Systeme liegen oder stammt von einem Schneeballeffekt, einer Kettenreaktion.
Der Ausfall einer Komponente in einem komplexen System kann den Ausfall mehrerer anderer Komponenten verursachen. Die Ansteckung einer Person mit einem Virus bedeutet, dass diese Person mehrere weitere Personen anstecken kann. Das steckt hinter der Reproduktionszahl »R«, die in der Corona-Krise bekannt geworden ist. Andere komplexe Systeme wiederum können anpassungsfähig und resilient gegenüber Störungen sein, sodass selbst größere Veränderungen einzelner Parameter kaum merkliche Reaktionen im Netzwerk hervorrufen. Störungen werden quasi vom Netzwerk absorbiert, indem es sich an Veränderungen anpasst, es ist adaptiv.
Die wenigsten komplexen Systeme sind von einem Erfinder oder einem Ingenieur entworfen worden, oder wurden von einem intelligenten Designer geschaffen. Sie schaffen sich und funktionieren scheinbar von selbst, ohne äußeres Zutun. Sozialwissenschaftler nennen dieses Phänomen spontane Ordnung. Sie tritt zum Beispiel bei sogenanntem Herdenverhalten auf, bei dem eine Gruppe von Personen ihre Aktionen ohne zentrale Planung koordiniert. Wenn etwa alle gleichzeitig dieselben Aktien kaufen oder alle zugleich in Panik geraten.
In den Naturwissenschaften spricht man von Selbstorganisation, etwa wenn sich Moleküle scheinbar von selbst zu einer Schneeflocke anordnen oder wenn Ameisen einen Staat errichten. Damit Selbstorganisation stattfinden kann, sind natürlich bestimmte Eigenschaften der Bauteile und der Interaktionsregeln notwendig. Kennt man diese, kann man die emergenten Eigenschaften des gesamten Systems vorhersagen. Die Wissenschaft komplexer Systeme versucht genau das zu tun: komplizierte Makrophänomene wie Effizienz, Stabilität und Resilienz aus relativ einfachen netzwerkbasierten Interaktionsregeln abzuleiten.