Kitabı oku: «Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren», sayfa 14

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III. Neuere Rechtsprechungstendenzen

1. Vollstreckungslösung bei konventionswidriger Verfahrensverzögerung

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Mit der Grundsatzentscheidung des Großen Senats, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen im Wege einer Vollstreckungslösung zu kompensieren[21], ist nun bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe ein Härteausgleich für erledigte, an sich gesamtstrafenfähige Vorstrafen im Wege der Anrechnung per Vollstreckungsfiktion zu gewähren[22].

2. Keine Strafrahmenverschiebung bei selbstverschuldeter Trunkenheit

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Der sich vor 10 Jahren ankündigende Rechtsprechungstrend, noch weniger Nachsicht mit Mord- und Totschlagsverdächtigen zu üben, hat sich verfestigt. Es hatte sich schon klar abgezeichnet: Von Ausnahmefällen abgesehen[23] kommt nach der neueren Rechtsprechung des BGH bei selbstverschuldeter Trunkenheit eine Strafrahmenverschiebung in der Regel nicht mehr in Betracht[24].

3. Keine unbedingte Unverwertbarkeit bei fehlender qualifizierter Belehrung

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Der unbelehrt einvernommene Beschuldigte ist nunmehr zu Beginn der Folgevernehmung zusammen mit der Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO darauf hinzuweisen, dass wegen der bis dahin unterbliebenen Belehrung die zuvor gemachten Angaben unverwertbar seien (sog. qualifizierte Belehrung)[25]. Da der Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung aber nach Auffassung des BGH nicht dasselbe Gewicht hat wie der Verstoß gegen die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, ist in einem solchen Fall die Verwertbarkeit der weiteren Aussagen nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung durch Abwägung im Einzelfall zu ermitteln[26].

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Es bedarf keiner Hervorhebung, dass sich mit dieser Rechtsprechung ein dramatischer Rückschritt vollzieht. Mit seiner über alle Strafsenate hinweg abgestimmten Grundsatzentscheidung vom 27.02.1992[27], ein Verwertungsverbot für Belehrungsfehler unabhängig von der Schwere des Vorwurfs und losgelöst davon anzuerkennen, ob es sich um eine bewusste Belehrungsfinte oder ein bloßes Versehen des Beamten gehandelt hat, hatte der 5. Strafsenat in verdienstvoller Weise erstmals eine konsistente Lösung gefunden, die Rechtssicherheit bot und den Rechtsanwender von schwierigen, oftmals willkürlich anmutenden Abwägungen zum „Unrechtsbewusstsein“ des jeweiligen Beamten befreite. Es ist in keiner Weise einleuchtend, dass ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur „qualifizierten“ Belehrung anders zu behandeln ist als sonstige ganz „normale“ Belehrungsmangelfälle[28].

4. Keine Entlastungsmöglichkeit durch freiwilligen Polygraphentest

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Nach wie vor ist nach Auffassung des BGH[29] der freiwillige, vom Tatverdächtigen zu seiner Entlastung beantragte Polygraphentest als Beweismittel weder geeignet noch zulässig. Die vom BGH im Jahre 1998[30] dargelegten grundsätzlichen Einwände bestünden uneingeschränkt fort[31]. Der Revisionsführer hatte in der Hauptverhandlung vergeblich die der Einholung eines Sachverständigengutachtens vorgeschaltete Untersuchung[32] des Angeklagten unter Einsatz eines Polygraphen beantragt.

5. Keine Strafbarkeit erbetener Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch

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Der 2. Strafsenat des BGH hat in einem viel beachteten Grundsatzurteil zur Sterbehilfe am 25.06.2010 entschieden, dass die Behandlung eines unheilbar erkrankten Patienten straflos abgebrochen werden darf, wenn dies dessen zuvor geäußertem Willen entspricht. Bei bewusstlosen Patienten sei allein deren mutmaßlicher Wille maßgeblich. Freigesprochen wurde ein Anwalt, der seiner Mandantin zugeraten hatte, den Ernährungsschlauch ihrer seit Jahren im Wachkoma liegenden Mutter zu durchtrennen[33].

Teil 1 Einführung › B › IV. Reformbestrebungen

IV. Reformbestrebungen

1. Überlegungen zur weiteren Verschärfung von Jugendstrafen

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Auf der Agenda steht auch die weitere Verschärfung des Jugendstrafrechts[34]. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 vereinbart, im Jugendstrafrecht die Höchststrafe für Mord auf 15 Jahre anzuheben[35]. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung (BT-Drs. 16/13142) auf eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 16/8146) hervorgeht, ist nicht beabsichtigt, das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen.

2. Härtere Strafen für Hassdelikte

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Der Bundesrat hat am 02.03.2012 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Aufnahme menschenverachtender Tatmotive als besondere Umstände der Strafzumessung verabschiedet, das durch Änderung des § 46 StGB eine härtere Bestrafung von Täter erreichen will, die aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Motiven gehandelt haben[36].

3. DNA-Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener?

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Aus aktuellem Anlass war über eine Erweiterung der Gründe für die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen nachgedacht worden. Im Dezember 1993 kam es in Düsseldorf zu einem Überfall auf eine Videothek. Der Täter fesselte die Angestellte, stülpte ihr eine Plastiktüte über den Kopf und verschloss diese mit Klebeband so fest am Hals, dass die 28-Jährige qualvoll erstickte. Ihr Mörder flüchtete mit 650 DM aus der Tageskasse. Der mutmaßliche „Videothekenmörder“ Werner P. wurde kurz darauf gefasst, aber 1994 vom Gericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen. 2006 wurde bei einem Routineabgleich an einem Klebeband, das als Mordwerkzeug gedient hatte und 1993 am Tatort – in der Videothek – gefunden worden war, genetisches Material des 1994 freigesprochenen Mannes gefunden. Dieser hatte 80.000 DM Entschädigung für die „zu Unrecht“ erlittene Untersuchungshaft erhalten.

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Mord verjährt zwar nicht, doch wer einmal rechtskräftig freigesprochen wurde, darf infolge Strafklageverbrauchs später nicht noch einmal wegen desselben Tatvorwurfs angeklagt werden. Die Bundesländer Bayern und NRW haben daraufhin einen Gesetzesentwurf für Fälle eingebracht, in denen der zu Unrecht Freigesprochene mit Hilfe neuer wissenschaftlich anerkannter Untersuchungsmethoden doch noch überführt werden kann[37]. Die Diskussion um die Einführung eines dieser Situation Rechnung tragenden neuen Wiederaufnahmegrundes ist mittlerweile verstummt, nachdem der Tatverdächtige Werner P. verstorben ist.

Anmerkungen

[1]

Köhne, Mord und Totschlag – Die notwendige Reform der vorsätzlichen Tötungsdelikte, NStZ 2007, 165; s. auch Kreuzer, StV 2007, 598.

[2]

Vom 26.01.1998, BGBl. I, 160; hierzu Schöch, NJW 1998, 1257.

[3]

6. StrRG vom 26. 01.1998, BGBl. I, 164 ff.; Überblick bei Stächlin, StV 1998, 98 und Kreß, NJW 1998, 633 sowie Sander/Hohmann, NStZ 1998, 273.

[4]

Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 2003 (BKA 2004), S. 133. Erheblich zugenommen haben allerdings erneut die erfassten Fälle gefährlicher und schwerer Körperverletzung; S. 231.

[5]

Überblick Rn. 1451.

[6]

Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und begleitende Regelungen v. 22.10.2010, BGBl. I 2300.

[7]

EGMR Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04, NStZ 2010, 263 = StV 2010, 181, rechtskräftig seit 10.05.2010.

[8]

Abdruck im Wortlaut Rn. 2966.

[9]

Hierzu ausführlich Rn. 2965.

[10]

BVerfG Urt. v. 04.05.2011 – 2 BvR 2333/08 u.a., BVerfGE 128, 326 = NStZ 2011, 450 = StV 2011, 470.

[11]

Näheres Rn. 1464.

[12]

BTDrs. 173/12, s. Rn. 1461.

[13]

Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen, 40. StÄG vom 22.03.2007 [BGBl. I S. 354]; hierzu Mosbacher, NStZ 2007, 665

[14]

BGBl. 2007 I S. 1327.

[15]

BVerfG Beschl. v. 13.02.1996 – 1 BvR 262/91, BVerfGE 94, 1 = NJW 1996, 1529.

[16]

Vgl. etwa BGH Beschl. v. 08.06.2004 – 4 StR 519/03, NStZ-RR 2005, 10

[17]

Hierzu Herrmann, StraFo 2011, 133.

[18]

Herrmann, aaO; S. 133.

[19]

Krit. Malek, StV 2010, 200.

[20]

BGBl. I S. 2280.

[21]

BGH Beschl. v. 17.01.2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124 = NStZ 2008, 234 = StV 2008, 133.

[22]

Hierzu unten Rn. 228.

[23]

Vgl. hierzu BGH Beschl. v. 20.01.2009 – 3 StR 505/08, NStZ-RR 2009, 230.

[24]

BGH Urt. v. 27.08.2009 – 3 StR 246/09, NStZ-RR 2009, 372 mwN.

[25]

Vgl. BGH Urt. v. 03.07.2007 – 1 StR 3/07, teilw. in BGHSt 51, 367 = NStZ 2007, 653 = StV 2007, 450 [452]; Urt. v. 18.12.2008 – 4 StR 455/08, BGHSt 53, 112 = NStZ 2009, 281= StV 2010, 1.

[26]

BGH Beschl. v. 09.06.2009 – 4 StR 170/09, NStZ 2009, 702 = StV 2010, 4.

[27]

BGH Beschl. v. 27.02.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214 = NStZ 1992, 294 = StV 1992, 212.

[28]

S. auch Neuhaus, StV 2010, 45.

[29]

BGH Beschl. v. 30.11.2010 – 1 StR 509/10, NStZ 2011, 474 = StV 2011, 518.

[30]

BGH Urt. v. 17.12.1998 – 1 StR 156/98, BGHSt 44, 308 [323] = StV 1999, 74.

[31]

S. auch Putzke/Scheinfeld, Entlastungsbeweis: polygraphische Untersuchung – Taktisches zur Beweismittelerhebung im Strafverfahren, StraFo 2010, 58; Rill, Vossel, Psychophysiologische Täterschaftsbeurteilung („Lügendetektion“, „Polygraphie“): Eine kritische Analyse aus psychophysiologischer und psychodiagnostischer Sicht, NStZ 1998, 481.

[32]

Vgl. hierzu BGH Beschl. v. 30.07.1999 – 3 StR 272/99, NStZ 1999, 578 = StV 1999, 579.

[33]

BGH Urt. v. 25.06.2010 – 2 StR 454/09, NStZ 2010, 630 = NJW 2010, 2963; hierzu Gaede, NJW 2010, 2925.

[34]

Verschärfung des Jugendstrafrechts?, Pro und Contra, ZRP 2008, 71.

[35]

http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/Koalitionsvertrag.

[36]

BR-Dr 26/12.

[37]

BT-Dr 655/07; hierzu Scherzberg/Thiee, ZRP 2008, 80.

Teil 1 Einführung › C. Spezifische Erkenntnisprobleme bei Tötungsdelikten

C. Spezifische Erkenntnisprobleme bei Tötungsdelikten

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Die Verurteilung wegen eines vollendeten Tötungsdelikts setzt die Feststellung voraus, dass das Opfer zum Tatzeitpunkt schon oder noch gelebt hat. Dies zu klären, kann im Einzelfall schwierig genug sein. Verbleiben Zweifel, kommt allenfalls Versuchsstrafbarkeit in Betracht, wie etwa im Fall eines Gynäkologen, der im Einvernehmen mit der Patientin während einer Kaiserschnittentbindung darauf hinwirkte, dass das von ihm im Mutterleib für lebend gehaltene missgebildete Kind durch das Fehlen ausreichender Sauerstoffversorgung absterben würde[1]. Ebenso problematisch kann im Einzelfall die Kausalitätsfrage sein[2].

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Die rechtliche Einordnung von Straftaten stellt den Rechtsanwender im Bereich des allgemeinen Strafrechts nur selten vor schwierige Abgrenzungsfragen. Im Bereich der Kapitaldelinquenz ist dies grundlegend anders. Aggressionshandlungen mit tödlichem Ausgang begegnen uns in unendlich vielgestaltiger Form; entsprechend breit ist die Palette der Straftatbestände, die im Einzelfall ernsthaft in Betracht zu ziehen sind. So gut wie nie ist auf Anhieb erkennbar, ob von Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, fahrlässiger Tötung oder sogar nur von einer Rauschtat gem. § 323a StGB auszugehen ist. Wird das Opfer lediglich verletzt oder übersteht es den Angriff unversehrt, könnte sich der Tatverdächtige mangels Tötungsvorsatzes oder infolge Rücktritts vielleicht nur wegen einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung strafbar gemacht haben, womöglich auch allein wegen Bedrohung, Nötigung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oder unerlaubten Schusswaffengebrauchs[3].

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Mord und Totschlag können auch durch Unterlassen versucht oder verwirklicht werden. Am Ende kommt es vielleicht „nur“ zur Verurteilung wegen Aussetzung (§ 221 StGB) oder unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB)[4] oder, wenn ungewiss bleibt, ob selbst schnellste Hilfe dem Opfer Rettung oder zumindest Linderung seiner Qualen bringen konnte[5], zu einem Freispruch. Umgekehrt kann ein Verhalten, das vielleicht zunächst lange Zeit wie ein Fahrlässigkeitsdelikt aussieht und auch so angeklagt wird, erstmals in der Hauptverhandlung dem Strafrichter als Vorsatztat erscheinen und Veranlassung geben, die Hauptverhandlung auszusetzen und gem. § 270 StPO Verweisung des Falles vom AG ans SchwurG zu beschließen[6]. Auch die Anklage wegen Nichtanzeige einer geplanten Straftat kann u.U. in den Vorwurf münden, an dem zugrunde liegenden Tötungsdelikt beteiligt gewesen zu sein[7]. Ist die Sache bei der allgemeinen Strafkammer rügelos „anverhandelt“ worden, ist eine Verweisung ans SchwurG jedoch unzulässig[8].

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Die Schwierigkeiten beginnen bei der stark von subjektiven Aspekten gefärbten Mordkasuistik[9]. Kopfzerbrechen bereitet in praxi auch die Beurteilung jener Fälle, in denen nicht alle Tatbeteiligten ein und dasselbe oder überhaupt ein Mordmerkmal verwirklichen. Genauso verzwickt ist mitunter die Frage nach dem Vorsatzelement, das durch die Rechtsfigur des Eventualvorsatzes[10] kaum noch feste Konturen aufweist. Auch im Kapitalstrafverfahren werden die Täter in steigender Zahl im Labor überführt. Es dominiert der Sachverständigenbeweis. Für einen Großteil der Gewalttaten gibt es ohnehin keinen unmittelbaren Augenzeugen. Zudem ist die Fähigkeit des Menschen, ein bestimmtes Ereignis in allen Facetten lückenlos wahrzunehmen, in der Erinnerung zu speichern und unverfälscht zu reproduzieren, äußerst begrenzt. Unzutreffende Zeugenaussagen sind bekanntlich an der Tagesordnung. Aber auch das Geständnis[11] des Tatverdächtigen, die „Königin aller Beweise“, bedarf grundsätzlich der Absicherung und Überprüfung. Zwar kommen die Vernehmungsspezialisten erstaunlich oft schon in den ersten Verhören des Festgenommenen zum Ziel, doch häufig folgt dem Schuldbekenntnis der Widerruf. Und keineswegs ist dies in allen Fällen der durchsichtige Versuch eines Schuldigen, das Tateingeständnis, das man mit zeitlichem Abstand bereut und als ärgerliche Torheit empfindet, nachträglich aus der Welt zu schaffen.

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Immer wieder sorgen Falschgeständnisse für Aufsehen und Verwirrung. Sie führen nicht nur zu katastrophalen Fehlurteilen, sondern versperren zugleich den Blick auf den unbehelligt gebliebenen wahren Täter und begünstigen womöglich ein folgenschweres Wiederholungsdelikt. Auch der Verteidiger lässt sich von der suggestiven Kraft des Geständnisses blenden. Im Innersten misstraut er den neuerlichen Unschuldsbeteuerungen seines Mandanten und steuert eine maßvolle Strafe an, anstatt auf rückhaltlose Aufklärung zu drängen. Die Blamage ist riesig, wenn sich im Nachhinein erweist, dass der Verteidiger einen wirklich Unschuldigen vom Widerruf abgehalten oder zur Erneuerung des widerrufenen Geständnisses ermuntert hat[12].

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Kaum verwunderlich also, dass dem Sachbeweis nicht zuletzt dank neuer oder verbesserter kriminaltechnischer Untersuchungsmöglichkeiten ständig wachsende Bedeutung zukommt. Unproblematisch ist dies jedoch nicht. Es beginnt mit höchst umstrittenen Methoden der Beweisgewinnung. Da werden mittlerweile ganze Dorfgemeinschaften einem DNA-Vergleich unterzogen. Im Mordfall einer 11-Jährigen aus Stücklingen (Kreis Cloppenburg) wurden im Frühjahr 1998 etwa 18.000 Männer zwischen 18 und 30 Jahren zur freiwilligen Speichelprobe gebeten. Etwa 15.000 haben teilgenommen; unter ihnen auch der später festgenommene mutmaßliche Mörder, der sich offensichtlich zur „freiwilligen“ Mitwirkung „genötigt“ gesehen hat, um nicht Tatverdacht auf sich zu lenken. Die Kosten allein dieses Gen-Massentests beliefen sich auf etwa 4,5 Millionen DM. Der damals 30 Jahre alte Täter, ein Familienvater mit drei Kindern, gestand weitere Missbräuche und einen zweiten Mord. Im Prozess erhielt er die Höchststrafe. Der Reihengentest und die Teilnahme auf freiwilliger Basis wird nun durch § 81h StPO ausdrücklich geregelt.

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Und häufig genug werden auch in Schwurgerichtsverfahren durch Experten interpretierte Untersuchungsbefunde zur reinen Glaubensfrage, weil die angewandten Untersuchungsmethoden aus Juristensicht wenig durchschaubar, geschweige denn in allen Details nachvollziehbar und überprüfbar sind. Die Interpretation von Spurenbildern und Befunden birgt Tücken, wenn es darum geht, Aufschlüsse über die Person des Täters oder den Tathergang zu gewinnen und einen bestimmten Tatverdächtigen zu überführen oder als Täter auszuschließen. Nicht immer ist rechtsmedizinisch sicher zu klären, ob der Tod einer Person auf Fremdverschulden, Selbstmord, einen Unglücksfall oder auf eine natürliche Todesursache zurückgeht. Bei 31.832 gestorbenen Personen wurde im Jahr 2009 ein Unfall, Suizid oder eine vorsätzliche Handlung als Todesursache ermittelt. Allein 7.533 Personen starben laut Leichenschauschein bei häuslichen Unfällen[13].

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Wie schnell man in falschen Verdacht geraten kann, zeigt der Fall eines vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochenen Angeklagten, dem zur Last gelegt worden war, seine damalige Lebensgefährtin während einer Auseinandersetzung aus Eifersucht durch Schläge auf den Gesichtsbereich körperlich so schwer misshandelt zu haben, dass diese nach hinten mit dem Kopf auf ein Möbelstück oder auf den Boden fiel und wenige Tage später an den Folgen des dabei erlittenen beidseitigen subduralen Hämatoms verstarb. Den Ausführungen der 3 hinzugezogenen medizinischen Sachverständigen folgend war das LG davon ausgegangen, dass die Geschädigte die zum Tode führenden Verletzungen im Schädel-Hirn-Bereich bei einem Sturz mit Anprall auf das Hinterhaupt erlitt. Ein Tod durch fremde Hand war jedoch nicht nachweisbar, insbesondere nicht, dass ein Handeln des Angeklagten, etwa ein Faustschlag auf die Kopfregion der Geschädigten, zu diesem Sturz führte. Es erschien vielmehr aufgrund der Darstellung des Angeklagten nicht ausgeschlossen, dass die Lebensgefährtin während des Duschens auf dem nassen Untergrund der Duschbadewanne ausgerutscht war und die subdurale Blutung sich erst später bemerkbar gemacht hat, als die Lebensgefährtin über Unwohlsein klagte und zusammenbrach, woraufhin der Angeklagte den Rettungswagen und den Notarzt alarmierte[14].

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Fehlbeurteilungen aus Expertenmund lösen völlig unnötige Ermittlungen aus[15] oder leiten sie in die falsche Richtung – zuweilen mit verhängnisvollen Folgen. Im sog. Kälberstrick-Fall war der Beschuldigte Hetzel im Jahre 1955 aufgrund eines haltlosen Gutachtens wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden. Spuren am Hals des „Opfers“, die durch Aufliegen des Leichnams auf einem Ast entstanden waren, hatte der Gerichtsmediziner bei Betrachten von Fotoaufnahmen irrtümlich als durch einen Kälberstrick hervorgerufene Drosselmarke klassifiziert[16]. 1969 wurde Hetzel im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Einander widersprechende gerichtsmedizinische Gutachten (beispielsweise zur Todesursache)[17], die mitunter zu heftigen Kontroversen im Gerichtssaal führen, verleiten Juristen leider allzu oft, sich in großer Selbstüberschätzung „kraft eigener Überlegungen“ auf die eine oder andere Seite zu schlagen, anstatt den einzig vernünftigen und sicheren Weg über den Zweifelssatz zu wählen.

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Zunehmend greift man zur Verbrechensaufklärung, insbesondere von Serienstraftaten auf Experten zurück, die sog. crime profiler, die in den USA seit Längerem zum Einsatz kommen[18]. Diese Kriminalpsychologen versuchen, anhand des Spurenbildes und sonstiger Tatumstände ein Profil des Täters zu erstellen. Derartige Psychogramme, die bereits in den siebziger Jahren vom FBI entwickelt worden sind, dürfen als Ermittlungsgrundlage in ihrer Aussagekraft nicht überschätzt werden. Sie können Fehlvorstellungen in Bezug auf den Täter erzeugen. Die Täteranalyse vermag ohnehin die eigenständige unabhängige Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zu ersetzen[19].

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Crime profiling hat allerdings auch in der Bundesrepublik schon zu vereinzelten Ermittlungserfolgen geführt. Durch Analyse seines von Psychologen detailgenau zusammengefügten Charakterbildes konnte vor mehreren Jahren die Polizei eine wirksame Strategie entwickeln, den ausgebrochenen „Heidemörder“ Thomas Holst zu veranlassen, sich freiwillig den Strafverfolgungsbehörden zu stellen.

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Ist der Täter gefunden, stellt sich die Frage nach der subjektiven Tatseite. Welche Vorstellungen oder Affekte haben ihn beherrscht? War er uneingeschränkt schuldfähig? Ist er als potenziell gefährlich einzustufen? Hier sind die Psychowissenschaften gefragt. Längst nicht in jedem Fall sind sich die Psycho-Sachverständigen in der Beurteilung der Täterpersönlichkeit oder des Tatgeschehens einig.

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In Ausübung seiner Kontroll-, Entlastungs- und Schutzfunktion hat der Verteidiger, ausgehend von der Sachdarstellung des Mandanten, jeden auch nur ansatzweise zweifelhaft erscheinenden Befund akribisch zu überprüfen. Hierbei gehört das Studium einschlägiger Fachliteratur ebenso zum Handwerkszeug wie die Konsultation von Experten. Immer wieder sind in Schwurgerichtsverfahren schwerwiegende Versäumnisse, Fehleinschätzungen und Irrtümer von Sachverständigen oder Kriminaltechnikern aufzudecken. Aufklärungsdefiziten ist mit Ermittlungsanträgen oder eigenständigen Nachforschungen zu begegnen. Das Aufspüren von Entlastungsbeweisen kann in Kapitalstrafsachen von überragender Bedeutung sein und im Wirken der Verteidigung einen breiten Raum einnehmen[20]. Schließlich ist nach eingehender Beratung mit dem mord- oder totschlagsverdächtigen Beschuldigten verantwortlich zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er sich zur Sache äußert bzw. an Explorationen mitwirkt – wohl eine der schwierigsten Fragen überhaupt. Inhalt, Umfang, Zeitpunkt und Form der Einlassung entscheiden womöglich über den Verfahrensausgang und somit über die Zukunft des Mandanten.