Kitabı oku: «Rot und Schwarz», sayfa 2
4. Kapitel
»Meine Frau ist wirklich ein gescheites Wesen!« sagte sich der Bürgermeister, als er am nächsten Morgen um sechs Uhr zum Vater Sorel nach der Sägemühle hinunterging. »Ich habe ihr zwar meine Absicht mitgeteilt, um die mir zukommende Superiorität zu wahren; aber das wäre mir beileibe nicht eingefallen! Gewiss! Wenn ich mir den kleinen Abbé, der Latein können soll wie ein junger Gott, nicht gleich nehme, so kann der Armenamtsvorstand, dieser Schelm, auf den nämlichen Gedanken kommen und mir ihn wegschnappen! Mit welcher Eingebildetheit würde er von dem Erzieher seiner Söhne reden! Hm! Wenn dieser Sorel einmal in meinem Hause ist, ob er dann jemals Geistlicher wird?«
Rênal grübelte noch über dieses Problem nach, als er von weitem einen Bauern erblickte, einen auffällig langen Mann, den Vater Sorel, der seit Tagesgrauen damit beschäftigt war, Baumstämme zu messen, die am Doubs auf dem Uferpfad lagen. Das Erscheinen des Bürgermeisters kam dem Alten ziemlich ungelegen, weil das Holz den Weg versperrte, was gegen die polizeilichen Vorschriften verstieß.
In hohem Maße überrascht und in noch höherem befriedigt war er aber, als er den sonderbaren Vorschlag vernahm, den ihm Herr von Rênal in betreff seines Sohnes Julian machte. Gleichwohl hörte er mit der mürrischen, unzufriedenen und gleichgültigen Miene zu, hinter der sich die Schlauheit des Bergvolkes versteckt. Eine gewisse Ähnlichkeit mit den Fellachen Ägyptens haftet diesem Menschenschlage von der Zeit der spanischen Fremdherrschaft her an.
Die Antwort, die Sorel gab, bestand zunächst in einer Flut von Höflichkeitsformeln, die er auswendig wusste. Während er diese hohlen Worte herleierte, grinste und greinte er, wodurch der verschmitzte und geradezu spitzbübische Grundzug seines Gesichts noch mehr hervortrat. Der rege Verstand des Alten suchte hinter die Gründe zu kommen, die einen so hohen Herrn wohl veranlassten, seinen Taugenichts von Sohn in sein Haus nehmen zu wollen. Er war mit seinem Julian sehr unzufrieden, und diesem Bürschchen bot Herr von Rênal urplötzlich ein Gehalt von hundert Talern im Jahr, dazu Kost und Wohnung, ja sogar Bekleidung! Die letzte Bedingung hatte der schlaue Vater Sorel schnell noch gestellt, und Rênal war damit einverstanden.
Der Bürgermeister war verblüfft. Er sagte sich: »Da Sorel von meinem Vorschlage nicht besonders entzückt und überwältigt ist, wie er das doch eigentlich sein müsste, so ist es klar, dass ihm schon von andrer Seite Angebote gemacht worden sind. Und woher können die anders kommen als von Valenod?«
Vergebens drang Rênal in den Alten, sich sofort zu entscheiden. Der hinterlistige Sägemüller sträubte sich hartnäckig dagegen. Er wolle erst mit seinem Jungen reden, meinte er, als ob es auf dem Lande Sitte wäre, dass ein vermögender Vater mit einem Sohn, der nichts hat, auch nur pro forma unterhandelt.
Eine Sägemühle besteht aus einem Schuppen dicht am Wasser. Das Dach ruht auf einem Gerüst über vier starken Holzpfeilern. Acht bis zehn Fuß über dem Boden, in der Mitte des Schuppens, geht eine Säge auf und nieder, während eine ganz einfache Vorrichtung einen Stamm gegen die Säge drückt. Ein Schaufelrad, das vom Bache getrieben wird, leitet die doppelte Bewegung, sowohl die der Säge, die auf und nieder geht, wie die des Stammes, der sich der Säge langsam nähert und von ihr in Bretter zerteilt wird.
Als sich Vater Sorel seiner Mühle näherte, rief er mit Stentorstimme: »Julian!« Es kam keine Antwort. Er sah niemanden als die Hünengestalten seiner älteren Söhne, die mit schweren Äxten die Fichtenstämme bearbeiteten, ehe diese unter die Säge gelangten. Sie verwandten ihr ganzes Augenmerk darauf, den auf das Holz gezogenen schwarzen Strich genau einzuhalten. Jeder Axtschlag spaltete mächtige Splitter ab.
Die jungen Männer hörten den Ruf ihres Vaters nicht. Er wandte sich nach dem Schuppen und betrat ihn. Aber auf dem ihm zugeteilten Posten neben der Säge fand er den Gesuchten nicht. Er bemerkte ihn fünf oder sechs Fuß höher, im Reitsitz auf einem der Dachbalken. Anstatt den Gang des Sägewerks gewissenhaft zu überwachen, las er in einem Buche. Nichts war dem alten Sorel mehr zuwider. Die körperliche Schwäche, die seinen Jüngsten im Gegensatz zu den älteren Brüdern zu schwerer Arbeit untauglich machte, die hätte er ihm vielleicht nachgesehen, aber diese Lesewut hasste er. Er selber konnte nicht lesen.
Umsonst rief er zwei-, dreimal: »Julian!« Das Buch, in das der Junge sich vertieft hatte, war mehr noch denn der Lärm der Säge schuld, dass er die furchtbare Stimme seines Vaters überhörte. Schließlich sprang der Alte trotz seines Alters behänd auf den Stamm, der sich der Säge entgegenschob, und von da auf den Querbalken unter dem Dach. Durch einen heftigen Schlag seiner Faust flog dem Leser das Buch aus der Hand, weit weg in den Mühlgraben. Ein zweiter, ebenso heftiger Schlag traf ihn auf den Kopf. Der Misshandelte verlor das Gleichgewicht. Er wäre die zwölf bis fünfzehn Fuß hinabgestürzt, gerade in die auf und nieder gehende Säge, von der er zerschnitten worden wäre, wenn ihn sein Vater nicht im Fall an der linken Hand gepackt hätte.
»Siehst du, du Faulpelz! Liest immer wieder in deinen verfluchten Büchern, statt auf die Säge aufzupassen! Schmökre gefälligst abends, wo du deine Zeit beim Pfarrer vertrödelst!«
Julian war durch den starken Schlag halb betäubt; auch blutete er. Trotzdem schickte er sich an, seinen Posten bei der Säge wieder aufzusuchen. Die Tränen standen ihm in den Augen, weniger wegen des körperlichen Schmerzes als darüber, dass sein geliebtes Buch dahin war.
»Komm herunter, du Lümmel! Ich habe mit dir zu reden!« schrie der Alte; aber wiederum verschlang das Kreischen der Säge den Befehl.
Vater Sorel war bereits hinabgesprungen. Um nicht nochmals hinaufklettern zu müssen, ergriff er eine lange Stange, die zum Nüsse abschlagen diente, und stieß seinen Sohn damit an die Schulter. Kaum war Julian ebenfalls unten, so trieb ihn der Alte unter rohen Stößen nach dem Wohnhause.
»Gott weiß, was er mit mir vorhat!« dachte der junge Mensch und warf im Weglaufen einen wehen Blick nach dem Mühlgraben, in den sein Buch gefallen war, sein Lieblingsbuch: das Memorial von Sankt Helena. Seine Wangen waren erglüht. Er sah zu Boden.
Julian war ein Bursche von achtzehn oder neunzehn Jahren, schwächlich von Aussehen, mit unregelmäßigen, aber feinen Zügen und einer Adlernase. Seine großen schwarzen Augen, die im gewöhnlichen ruhigen Zustande versonnen leuchteten, blitzten jetzt voll von wildestem Haß. Sein kastanienbraunes, ziemlich tief angesetztes Haar ließ seine Stirn niedrig erscheinen und verlieh ihm im Moment des Zorns etwas Bösartiges. Unter den zahllosen Varianten des Menschenantlitzes ist keine eindringlicher als die zornig-böse. Seine schlanke, gutgewachsene Figur verriet mehr Gewandtheit denn Kraft. Er war von Kindheit an immer überaus grüblerisch und sehr blass gewesen; daher hatte sein Vater geglaubt, er werde nicht lange leben oder, wenn er am Leben bliebe, seiner Familie nur eine Last sein. Von jedermann im Hause verachtet, hasste er seinerseits Vater und Brüder. An den Sonntagen, wenn die Jungen auf dem Markt spielten, bekam er immer Schläge. Erst seit einem Jahre begann ihm sein hübsches Gesicht Wohlwollen unter den jungen Mädchen zu verschaffen.
Als Schwächling von aller Welt gering geschätzt, war er in schwärmerischer Liebe zu jenem alten Stabsarzt entbrannt, der den Bürgermeister einmal wegen der Platanen zur Rede zu stellen gewagt hatte. Der alte Kriegsmann kaufte ihn zuweilen bei seinem Vater tageweise los und erteilte ihm Unterricht im Latein und in der Geschichte, das heißt in der Geschichte des Feldzuges in Italien von Anno 1796. Bei seinem Tode hinterließ er ihm sein Kreuz der Ehrenlegion, die Ersparnisse von seiner dürftigen Pension und dreißig bis vierzig Bücher, deren köstlichstes eben in den öffentlichen Bach geflogen war, dem die Macht des Bürgermeisters einen neuen Lauf gegeben hatte.
5. Kapitel
Kaum war Julian im Hause, so fühlte er die Hand seines Vaters auf seiner Schulter. Es durchschauerte ihn. Er war auf Schläge gefasst.
»Antworte mir ohne Lüge!« schrie ihm der Alte grob in die Ohren und drehte ihn dabei herum wie ein Kind einen Zinnsoldaten. Julians große, schwarze, tränenvolle Augen sahen sich dicht vor den kleinen, grauen, bösen Augen des Müllers, die ihn anblickten, als wollten sie sich in den Grund seiner Seele einbohren.
»Antworte mir ohne Lüge, wenn du das kannst, du Leseratte! Woher kennst du die Frau Bürgermeister? Wann hast du mit ihr gesprochen?«
»Ich habe nie mit ihr gesprochen«, antwortete Julian. »Nur in der Kirche habe ich die Dame gesehen.«
»Aber angestarrt hast du sie, du frecher Wicht?«
»Niemals. Sie wissen, in der Kirche schaue ich Gott allein.«
Julian sagte dies demütig und heuchlerisch. Er hoffte, dadurch weitere Maulschellen von sich abzuwenden.
»Das ist mir nicht ganz geheuer«, brummte der durchtriebene Bauen und schwieg einen Augenblick. »Aber aus dir kriegt man ja nichts heraus, verdammter Heuchler! Gott sei Dank, dass ich dich nun bald los bin. Nicht zum Schaden meiner Mühle. Du hast den Pfarrer oder wer weiß wen zum Freunde. Der hat dir die schöne Stelle verschafft. Pack deine Siebensachen ein! Ich werde dich zu Herrn von Rênal bringen. Du sollst der Erzieher seiner Kinder werden.«
»Was bekomme ich dafür?«
»Kost, Kleidung und hundert Taler im Jahre.«
»Ich mag kein Lakai sein!«
»Schafskopf! Wer sagt was von Lakai sein? Glaubst du, ich ließe zu, dass mein Sohn Lakai wird?«
»Aber mit wem am Tische esse ich da?«
Diese Frage brachte den alten Sorel aus dem Gleise. Er hatte das Gefühl, dass er leicht etwas Unvorsichtiges sagen könne, wenn er weiterredete. Maßlos heftig überhäufte er Julian mit Schimpfworten. Er sei ein Leckermaul. Dann ließ er ihn stehen und holte sich Rat bei seinen andern Söhnen.
Alsbald sah Julian, wie sie, auf ihre Äxte gestützt, miteinander berieten. Eine Weile schaute er hin. Da er aber keine Silbe verstehen konnte, nahm er seinen Platz an der Säge wieder ein, jedoch jenseits von ihr, um vor einem weiteren Überfall gedeckt zu sein. Er wollte sich das Angebot, das sein Schicksal mit einem Mal änderte, überlegen, aber er war unfähig, dies nüchternen Sinnes zu tun. Seine Fantasie malte ihm immer nur vor, was in dem schönen Rênalschen Hause seiner wohl harrte.
»Lieber auf alles das verzichten«, sagte er sich, »als mich so weit erniedrigen, dass ich zusammen mit den Dienstboten esse! Mein Vater möchte mich offenbar dazu zwingen. Eher sterbe ich! Ich habe fünf Taler und vier Groschen in der Tasche, meine Ersparnisse. Damit laufe ich heute Nacht fort. In zwei Tagen gelange ich auf Seitenwegen, wo ich keinen Gendarm zu fürchten habe, nach Besançon. Dort lasse ich mich zu den Soldaten anwerben. Nötigenfalls entwische ich nach der Schweiz. Mit der Karriere ist es dann freilich vorbei. Dann nützt all mein Ehrgeiz nichts. Lebe wohl, schöner Priesterstand, der einem alle Wege öffnet!«
Julians Abscheu vor dem gemeinschaftlichen Essen mit Dienstboten lag nicht in seiner Natur. Um vorwärtszukommen, hätte er noch viel peinlichere Dinge ertragen. Dieser Widerwille rührte aus Rousseaus Bekenntnissen her, dem Buche, nach dem er sich einzig und allein ein fantastisches Bild von der Gesellschaft machte. Nur die Bulletins der Großen Armee und das Memorial von Sankt Helena ergänzten diese seine Bibel. Für diese drei Bücher wäre er in den Tod gegangen. Allen andern misstraute er. Einem Ausspruch des alten Stabsarztes zufolge hielt er die ganze Weltliteratur für Lug und Trug, für Machwerke von Narren und Strebern.
Zu Julians Feuerseele gesellte sich ein fabelhaftes Gedächtnis, wie es sonst eher törichte Leute haben. Um den alten Pfarrer Chélan zu gewinnen, von dem sein künftiges Schicksal abhing, wie er wohl wusste, hatte er das Neue Testament lateinisch auswendig gelernt, an dessen Echtheit er indessen nicht glaubte. Außerdem kannte er das Papstbuch von Maistre, das er aber auch nicht für Wahrheit nahm.
Wie aus stummer Übereinkunft vermieden es Vater und Sohn, an jenem Tage miteinander zu sprechen. Gegen Abend ging Julian zum Pfarrer, zum theologischen Unterricht. Aus Vorsicht erzählte er ihm nichts von dem sonderbaren Angebot, das man seinem Vater gemacht hatte. »Vielleicht war das nur eine Falle«, sagte er sich. »Ich muss so tun, als hätte ich die Sache gar nicht ernst genommen!«
Am andern Tage früh ließ Herr von Rênal den alten Sorel zu sich bitten. Nach länger denn einer Stunde begab sich der Sägemüller schließlich hin. Schon an der Tür erschöpfte er sich in tausend Entschuldigungen und ebenso viel Bücklingen. Im Laufe der Verhandlung vergewisserte sich Sorel nach allen möglichen Einwänden, dass sein Sohn für gewöhnlich die Mahlzeiten mit dem Herrn und der Frau des Hauses einnehmen, aber an Tagen, wo Gäste da wären, in einem besondern Zimmer zusammen mit den Kindern essen werde. Je mehr er merkte, dass es Rênal eilig hatte, umso mehr Schwierigkeiten machte er. Ebenso misstrauisch wie verblüfft begehrte er unter anderm den Raum zu sehen, wo sein Sohn schlafen sollte. Es war ein großes, sehr freundlich ausgestattetes Zimmer, in das die Betten der drei Kinder bereits hereingeschafft wurden.
Der alte Bauer schmunzelte insgeheim, verlangte aber nunmehr, dreist geworden, den Anzug zu sehen, den sein Sohn bekäme. Herr von Rênal öffnete sein Schreibpult und nahm hundert Franken heraus.
»Mit diesem Geld«, sagte er, »wird Ihr Sohn zum Schneider Durand gehen und sich einen kompletten schwarzen Anzug machen lassen.«
»Wenn ich meinen Jungen aber einmal wieder von Ihnen fortnehme, kann er dann den Anzug trotzdem behalten?«
Sorel hatte jedwede Katzbuckelei vergessen.
»Gewiss!«
»Na, schön!« meinte Sorel bedächtig. »So bliebe nur noch eins auszumachen: Wieviel Gehalt wollen Sie geben?«
»Was!« fuhr Rênal entrüstet auf. »Darüber sind wir uns doch schon gestern einig geworden! Ich gebe hundert Taler. Ich dächte, das wäre genug, ja übergenug!«
»Das war Ihr Gebot! Sehr richtig!« erwiderte Vater Sorel. Seine Rede ward noch überlegsamer, und indem er Herrn von Rênal scharf anblickte, fügte er hinzu: »Andere Leute zahlen besser.«
Das war so recht die geniale Frechheit eines Bauern der Freigrafschaft! Der Bürgermeister sah im Augenblick ganz verdutzt aus. Er fasste sich jedoch sofort, und nach reichlich zweistündigem Hin- und Hergerede, wobei kein unüberlegtes Wort fiel, siegte die Schlauheit des Bauern über die Schlauheit des Patriziers, dieweil sie bei diesem nicht Daseinsbedingung war. Julians neue Lebensweise ward in einer langen Reihe von Punkten festgelegt. Sein Gehalt solle vierhundert Franken im Jahre betragen, zahlbar jeden Ersten des Monats im Voraus.
»Also zahle ich ihm monatlich fünfunddreißig Franken!« erklärte Herr von Rênal.
»Sagen wir: sechsunddreißig, eine runde Summe.« Und schmeichlerisch fügte der Bauer hinzu: »Ein reicher und freigebiger Mann wie der Herr Bürgermeister wird sich nicht lumpen lassen!«
»Abgemacht!« sagte Rênal. »Aber nun bleibt es dabei!«
Der Zorn verlieh ihm plötzlich den Ton der Bestimmtheit. Der Bauer merkte, dass er nicht weiter gehen durfte. Jetzt gewann wieder Herr von Rênal die Oberhand. Er dachte nicht daran, die sechsunddreißig Franken für den ersten Monat dem Alten anzuvertrauen, der sie am liebsten auf der Stelle für seinen Sohn eingestrichen hätte. Auch fiel Herrn von Rênal ein, dass er seiner Frau etwas Imponierendes über seine Verhandlung mit dem Bauern berichten musste.
»Geben Sie mir die hundert Franken wieder, die ich Ihnen vorhin eingehändigt habe«, sagte er ärgerlich. »Durand ist mir etwas schuldig. Ich werde mit Ihrem Sohne hingehen und den Anzug selber aussuchen.«
Sorel hatte seine Kraft erprobt; jetzt verschanzte er sich schlauerweise abermals hinter höflichem Gerede. Dies dauerte eine gute Viertelstunde. Als er am Ende aber einsah, dass platterdings nichts mehr zu erreichen war, empfahl er sich. Seine letzte Verbeugung ward von den Worten gekrönt:
»Ich schicke meinen Sohn sofort ins Schloss.«
So nannten die Unterbeamten des Bürgermeisters dessen Haus, wenn sie sich bei ihm einschmeicheln wollten.
Als der alte Sorel in seine Mühle zurückkam, suchte er seinen Sohn vergeblich. Dem ihm Bevorstehenden nicht trauend, war er mitten in der Nacht aufgebrochen, um seine Bücher und das Kreuz der Ehrenlegion in Sicherheit zu bringen. Er schaffte alles zu seinem Freund, einem jungen Holzhändler namens Fouqué, der in den Bergen oberhalb von Verrières wohnte.
Als er heimkehrte, schrie ihn der Vater an:
»Verfluchter Faulpelz, weiß der Teufel, ob du genug Ehre im Leibe hast, mir je das Geld wiederzuerstatten, das ich für deine Erziehung in den vielen Jahren aufgewendet habe. Jetzt schnür dein Bündel und scher dich zum Bürgermeister!«
Julian wunderte sich, dass er keine Prügel bekam, und trollte sich schleunigst von dannen. Aber kaum war er außer der väterlichen Sehweite, als er seine Schritte verlangsamte. Es fuhr ihm durch den Sinn, dass es von Nutzen sei, wenn er aus Scheinheiligkeit in der Kirche Station machte.
Scheinheiligkeit! Welche umständliche seelische Entwicklung gehört dazu, ehe ein Bauernkind solch ein abscheuliches Wort bewusst gebraucht!
Als kleiner Junge hatte Julian sechste Dragoner gesehen, in langen weißen Reitermänteln, mit großen schwarzen Haarbüschen auf den Helmen. Sie kamen auf ihrem Rückmarsch aus der Lombardei durch die Stadt, und etliche halfterten ihre Pferde am Fenstergitter seines Vaterhauses an. Dieser Anblick hatte den kleinen Julian für den Soldatenberuf begeistert. Später lauschte er voll Entzücken dem alten Stabsarzte, wenn er ihm von den Schlachten bei Arcole, Lodi und Rivoli erzählte. Die glühenden Blicke, die der alte Mann auf sein Ehrenkreuz warf, vergaß er nie.
Aber als Julian vierzehn Jahre alt war, wurde in Verrières eine Kirche erbaut, die in einem so kleinen Ort für prunkvoll gelten konnte. Besonders staunte er vier Marmorsäulen an. Sie wurden in der ganzen Gegend berühmt, denn sie waren der Anlass der Todfeindschaft zwischen dem Ortsrichter und dem aus Besançon her versetzten jungen Vikar, der als Spion der Jesuiten galt. Der Ortsrichter hätte beinahe seinen Posten verloren – wenigstens war dies die allgemeine Meinung –, weil er es gewagt, in Zwist mit einem Priester zu geraten, der fast alle vierzehn Tage nach Besançon, offenbar zum Herrn Bischof, fuhr.
In der Folge hatte der Ortsrichter, Vater einer zahlreichen Familie, mehrere Urteile gefällt, die man als Ungerechtigkeit auffasste, und zwar samt und sonders zuungunsten von Leuten, die den Constitutionnel, das Blatt der Liberalen, lasen. Die sogenannte gute Sache hatte also gesiegt! Es handelte sich bei besagten Urteilen allerdings nur um geringfügige Strafen, um ein paar Franken, aber eine dieser Entscheidungen traf einen Paten Julians, einen Nagelschmied. In seinem Zorn rief der Mann aus: »Ja, ja, die Zeiten haben sich geändert. Zwei Jahrzehnte hindurch galt uns der Ortsrichter als anständiger Mann!«
Julians Freund, der alte Stabsarzt, war tot. Urplötzlich hörte Julian auf, von Napoleon zu reden. Jetzt erklärte er die Absicht, Priester zu werden. Alsbald sah man ihn beständig in der Schneidemühle seines Vaters beim Auswendiglernen einer lateinischen Bibel, die ihm der Pfarrer geliehen hatte. Verwundert über die Fortschritte des jungen Menschen, verbrachte der alte Mann manchen langen Abend mit ihm, um ihn in der Theologie zu unterweisen. Julian offenbarte ihm nur fromme Regungen. Kein Mensch konnte ahnen, dass dieser bleiche, zarte, mädchenhafte Bursche den unerschütterlichen Vorsatz in sich trug, tausendmal sein Leben zu riskieren, wenn er nur sein Glück machte.
Sein Glück machen! Das hieß zunächst, aus Verrières hinauskommen. Er hasste seine Heimat. Alles, was er daselbst sah, hemmte sein fantastisches Innenleben.
Von klein auf hatte er Augenblicke höchster Erregung gehabt. In Wonnen träumte er sich aus, wie er eines Tages die Bekanntschaft hübscher Pariserinnen machen werde, nachdem er ihre Aufmerksamkeit durch eine außerordentliche Tat auf sich gezogen. Warum sollte er nicht von einer von ihnen geliebt werden, wie Bonaparte, noch arm, von der wunderschönen Frau von Beauharnais geliebt worden war? Schon viele Jahre lang war auch nicht eine Stunde verronnen, in der Julian nicht vor Augen gehabt, dass sich Bonaparte, der unbekannte mittellose Artillerieleutnant, durch seinen Degen zum Herrn der Welt gemacht hatte. Der eine Gedanke tröstete ihn in all seinem Ungemach, das er für ein großes Unglück hielt, und durchsonnte die Freuden, die ihm bisweilen zuteilwurden.
Der Kirchenbau und die Urteile des Ortsrichters waren die Ursache, dass es ihm mit einem Schlage wie Schuppen von den Augen fiel. Diese Erleuchtung machte ihn wochenlang toll und durchflammte ihn schließlich mit jener Allgewalt, die die erste selbstgefundene Idee in einer leidenschaftlichen Seele erzeugt.
Er sagte sich: »Als Bonaparte aus dem Dunkel hervortrat, stand Frankreich vor dem Einmarsch der fremden Mächte. Das Soldatentum war notwendig und Mode. Heutzutage sieht man Priester, die mit vierzig Jahren ein Einkommen von hunderttausend Franken haben. Das ist dreimal mehr, als die weltberühmten Divisionsgenerale Napoleons bezogen. Die Priester brauchen Helfershelfer. Da ist zum Beispiel dieser Ortsrichter, ein heller Kopf und bisher ein Ehrenmann – aber auf seine alten Tage entehrt er sich aus Angst vor einem jungen Vikar von dreißig Jahren! Ja, heutzutage muss man Pfaffe werden!«
Einmal freilich verriet sich Julian trotz aller seiner neuen Frömmigkeit, nachdem er bereits zwei Jahre Gottesgelehrter war, durch einen jähen Ausbruch der Glut, die seine Seele heimlich verzehrte. Es war im Hause des Pfarrers Chélan bei einem Priestermahle. Der gute Pfarrer hatte ihn als seinen Musterschüler vorgestellt; da hatte er das Missgeschick, von Napoleon schwärmerisch zu reden. Zur Strafe und Buße band er sich den Arm in eine Binde, behauptete, er hätte sich ihn beim Wälzen eines Fichtenstammes ausgerenkt, und trug ihn acht Wochen lang in dieser unbequemen Lage. Nach dieser Selbsttortur verzieh er sich.
So war der neunzehnjährige Bursche, den man ob seines schwächlichen Aussehens kaum siebzehn Jahre alt schätzte. Sein kleines Bündel unterm Arme, betrat er die prächtige Kirche von Verrières. Sie war dunkel und menschenleer. Eines Kirchfestes wegen waren sämtliche Fenster des Schiffes mit scharlachrotem Tuch verhängt. An der Sonnenseite schimmerte Licht dahinter und schuf eine feierliche weihevolle Stimmung. Den einsamen Julian durchschauerte es. Er ließ sich auf der Kirchenbank nieder, die ihm am vornehmsten aussah. Sie trug das Wappen des Herrn von Rênal. Auf dem Brett für das Gebetbuch lag ein Stück bedrucktes Papier, das merkwürdig auffällig war. Sein Blick fiel darauf, und er las:
»Einzelheiten von der Hinrichtung und den letzten Augenblicken Ludwig Jenrels, enthauptet zu Besançon am …«
Das Weitere war abgerissen. Auf der Rückseite standen die Anfangsworte einer Zeile:
»Der erste Schritt…«
»Wer mag das Papier hierhin gelegt haben?« fragte sich Julian. »Armer Teufel!« dachte er und seufzte auf. »Sein Name hat dieselbe Endsilbe wie meiner.«
Er knüllte das Papier zusammen.
Beim Wiederhinausgehen kam es Julian vor, als seien Blutflecke am Weihwasserbecken. Es war der Widerschein der Fensterbehänge, der ein paar übergespritzte Wassertropfen blutrot färbte. Da schämte er sich seiner geheimen Angst.
»Bin ich ein Feigling?« fragte er sich. »An die Gewehre!«
Dies Kommandowort, das in den Kriegserinnerungen des alten Stabsarztes eine große Rolle gespielt hatte, war für Julian ein Symbol des Heldentums. Er machte sich auf und ging raschen Schritts nach dem Rênalschen Hause.
Aber so tapfer er sein wollte, er wurde doch beim Anblick des Gebäudes von unüberwindlicher Scheu befallen. Die Gittertür des Vorgartens stand offen. Sie kam ihm prunkvoll vor. Um zur Haustür zu gelangen, musste er hindurch.