Kitabı oku: «Rot und Schwarz», sayfa 3

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6. Kapitel

Übrigens war es nicht allein Julian, der in Aufregung war. Die überaus zarte und scheue Frau von Rênal befand sich in der größten Unruhe, seit sie wusste, dass ein Fremdling fortan befugter maßen zwischen ihr und ihren Kindern stehen sollte. Sie war daran gewöhnt, dass sie mit den drei Jungen zusammen in einem Zimmer schlief. Am Vormittag, als die drei kleinen Betten in das Zimmer getragen wurden, dass nunmehr der Erzieher bewohnen sollte, waren viel Tränen geflossen. Vergebens bat sie ihren Mann, wenigstens das Bett von Stanislaus-Xaver in ihrem Schlafzimmer zu lassen.

Die weibliche Empfindsamkeit war in Frau von Rênal übertrieben entwickelt. Sie machte sich von dem künftigen Hauslehrer das widerlichste Bild, indem sie sich einen groben schlechtgepflegten Gesellen vorstellte, der den Auftrag hätte, ihre Kinder zu malträtieren, und dies aus keinem andern Grunde, als weil er Latein verstand, eine wildfremde unnütze Sprache.

Mit der behänden Grazie, die ihr eigen war, sobald sie sich unbeobachtet fühlte, war Frau von Rênal eben durch die Glastür des nach dem Vorgarten zu gelegenen Salons ins Freie getreten, da bemerkte sie am Tor einen Bauernjungen, der ihr beinahe noch wie ein Kind erschien, mit totenblasssem Gesicht und Tränen in den Augen. Er hatte ein schneeweißes Hemd an und eine saubere ärmellose Weste aus rotblauem Wollstoff.

Seine Gesichtsfarbe war so licht und seine Augen so sanft, dass Frau von Rênal in ihrem ein wenig romantischen Sinn zunächst dachte, es sei ein verkleidetes Mädchen, das dem Bürgermeister irgendein Anliegen vorbringen wolle. Sie bekam Mitleid mit dem armen Wesen, das dort an der Haustür nicht den Mut hatte, die Glocke zu ziehen. Deshalb ging sie hin. Im Augenblick hatte sie Kummer und Sorge über die bevorstehende Ankunft des Erziehers vergessen.

Julian stand der Tür zugewandt und bemerkte das Nahen der Frau von Rênal nicht. Beim Klang einer leisen Stimme ganz dicht an seinem Ohr schrak er zusammen.

»Was willst du, mein Kind?« fragte sie.

Er drehte sich rasch um. Frau von Rênals Augen strahlten so viel Güte aus, dass sich ein Teil von Julians Schüchternheit verlor. Betroffen von ihrer Schönheit vergaß er alles, sogar den Anlass, warum er hergekommen war.

Sie wiederholte ihre Frage.

»Ich soll hier Hauslehrer werden, gnädige Frau«, stotterte er endlich, und voll Scham über seine Tränen machte er den Versuch, sie wegzuwischen.

Frau von Rênal fand kein Wort mehr. Sie blickten einander in die Augen. Julian hatte noch nie eine so gut gekleidete Dame gesehen und vor allem noch nie eine, die so glänzende Haut gehabt und mit so sanfter Stimme zu ihm gesprochen hatte. Und sie, sie schaute auf die dicken Tränen, die auf den eben noch blassen, jetzt aber rosigen Wangen des Bauernburschen standen. Plötzlich begann sie fröhlich und übermütig wie ein junges Mädchen zu lachen. Sie machte sich über sich selbst lustig und vermochte ihr Glück nicht zu fassen. So sah also der Erzieher aus, den sie sich als einen unsauberen und schlecht gekleideten Priester vorgestellt hatte, als Schinder und Quäler ihrer Kinder!

»Aha!« sagte sie schließlich zu ihm. »Herr Sorel, der Lateiner!«

Die Anrede ›Herr‹ war dem jungen Manne so ungewohnt, dass er einen Augenblick nachdachte.

»Jawohl, gnädige Frau!« antwortete er befangen.

In ihrem Glücke wagte Frau Rênal die Frage: »Nicht wahr, Sie werden die armen Kinder nicht grob behandeln?«

»Ich – sie grob behandeln? Aus welchem Grunde?« fragte er erstaunt.

Sie schwieg eine kleine Weile. Dann fuhr sie leise und in wachsender Erregung fort: »Nicht wahr, Herr Sorel, Sie werden gut mit ihnen sein? Versprechen Sie mir das?«

Abermals hörte er sich in vollem Ernst ›Herr Sorel‹ nennen, dazu von einer so vornehmen Dame. Das übertraf seine kühnsten Träume. In seinen jugendlichen Hirngespinsten waren Damen nur dann so gnädig gewesen, mit ihm zu reden, wenn er eine schöne Uniform anhatte.

Frau von Rênal war nicht minder überrascht über Julians zartes Gesicht, seine großen schwarzen Augen und sein hübsches Haar, das heute lockiger denn sonst war, weil er, um sich zu kühlen, eben den Kopf in das Brunnenbecken am Markt gesteckt hatte. Ihre größte Freude aber an diesem fatalen Hauslehrer, vor dessen Strenge und Grobheit ihr so sehr gebangt hatte, war seine mädchenhafte Schüchternheit. Für das friedsame Gemüt der Frau von Rênal war der Widerspruch zwischen dem, was sie eben noch befürchtet hatte, und dem, was sie jetzt sah, ein wahres Ereignis. Endlich gewann sie ihren Gleichmut zurück. Nun erschrak sie, dass sie mit einem Bauernburschen in Hemdsärmeln an der Haustür stand.

Ziemlich verlegen sagte sie: »Kommen Sie mit herein, Herr Sorel!«

Nie in ihrem Leben hatte eine ungetrübt angenehme Empfindung sie so stark erregt, und noch nie war ihr etwas so Erfreuliches plötzlich an die Stelle von Angst und Sorge getreten. Ihre netten Jungen, die sie so hegte und pflegte, sollten also doch keinem schmutzigen und nörgelnden Priester in die Hände fallen!

Kaum in dem Hausflur, wandte sie sich nach Julian um, der ihr schüchtern folgte. Sie sah sein Staunen beim Anblick des prächtigen Hauses. Auch das gereichte ihm in ihren Augen zum Vorteil. Nur mit etwas konnte sie sich nicht abfinden: sie hatte das Gefühl, als müsse der Erzieher im schwarzen Rock gehen.

»Können Sie wirklich Lateinisch, Herr Sorel?« begann sie von neuem, indem sie stehen blieb. In all ihrem Glück hatte sie mit einem Male tödliche Angst, es könnte doch nicht so sein.

Ihre Frage verletzte Julians Stolz. Das Entzücken, in dem er eine Viertelstunde gelebt hatte, war dahin.

»Gewiss, gnädige Frau«, erwiderte er, wobei er sich Mühe gab, gleichgültig auszusehen. »Ich verstehe Lateinisch ebenso gut wie der Herr Pfarrer; ja, wie er manchmal zu sagen beliebt, sogar besser.«

Frau von Rênal fand, Julian sähe jetzt recht böse aus. Er stand zwei Schritte von ihr entfernt. Dicht an ihn herantretend, flüsterte sie ihm zu: »Nicht wahr, in den ersten Tagen werden Sie meine Kinder nicht schlagen, auch wenn sie ihre Aufgaben nicht können?«

Beim Klange der sanften, fast flehentlichen Worte einer so schönen Frau vergaß Julian, was er seiner Würde als Lateiner schuldete. Frau von Rênals Gesicht war ganz nahe dem seinen. Er spürte den leisen Duft weiblicher Sommerkleider. Das verwirrte den armen Bauernjungen im höchsten Maße. Er ward feuerrot, und schweratmend sagte er mit bebender Stimme: »Fürchten Sie nichts, gnädige Frau! Ich werde Ihnen in allem folgsam sein!«

Erst jetzt, nachdem sie keine Sorge mehr um ihre Kinder hatte, fiel ihr auf, dass Julian ein sehr schöner Mensch war. Seine fast weiblichen Züge und seine verlegene Miene machten auf sie, die selbst so außerordentlich scheu und schüchtern war, durchaus keinen lächerlichen Eindruck. Im Gegenteil, das echt Männliche, das man gewöhnlich von Mannesschönheit verlangt, hätte Frau von Rênal Furcht eingeflößt.

»Wie alt sind Sie, Herr Sorel?« fragte sie.

»Bald neunzehn, gnädige Frau!«

»Mein Ältester ist elf Jahre«, erzählte sie, nunmehr völlig wieder im Gleichgewicht. »Er könnte beinahe noch Ihr Spielkamerad sein. Sie werden ihm Vernunft beibringen. Sein Vater hat ihn einmal strafen wollen, da ist das Kind eine volle Woche krank gewesen. Und doch war es bloß ein ganz leichter Schlag…«

»Wie anders ist es mir doch ergangen!« dachte Julian bei sich. »Noch gestern hat mich mein Vater geschlagen. Die reichen Leute haben es gut!«

Frau von Rênal glaubte bereits, in der Seele Julians bis in die geringsten Nuancen Bescheid zu wissen. Sie deutete die Betrübtheit, die ihn sichtlich ergriffen hatte, für Schüchternheit und wollte ihn ermutigen.

»Wie ist Ihr voller Name, Herr Sorel?« fragte sie, mit einer Innigkeit im Ton, deren Zauber Julian empfand, ohne sich sagen zu können, warum.

»Ich heiße Julian Sorel, gnädige Frau. Mir ist bange, weil ich zum ersten Male in meinem Leben ein fremdes Haus betrete. Darum bedarf ich Ihrer Fürsprache und in den ersten Tagen in vielen Dingen Ihrer Nachsicht. Ich bin nie in die höhere Schule gegangen. Dazu war ich zu arm. Auch habe ich nie mit andern Menschen gesprochen, außer mit dem Stabsarzt, einem Verwandten von uns. Er war Ritter der Ehrenlegion … Und mit dem Herrn Pfarrer Chélan. Er wird Ihnen Gutes über mich sagen. Meine Brüder haben mich immer verprügelt. Denen dürfen sie keinen Glauben schenken, wenn sie mich schlechtmachen! Verzeihen Sie mir meine Fehler, gnädige Frau! Ich werde nie mit Absicht etwas Schlechtes tun.«

Während dieser langen Rede gewann Julian seine Selbstbeherrschung wieder. Er schaute Frau von Rênal an. Wirkliche angeborene Anmut ist allgewaltig, zumal wenn sie einem Menschen eigen ist, der gar nicht an sie denkt. Julian, der sehr wohl wusste, was Weibesschönheit ist, hätte in diesem Augenblick geschworen, Frau von Rênal sei erst zwanzig Jahre alt. Urplötzlich durchzuckte ihn der verwegene Gedanke, ihr die Hand zu küssen. Gleich darauf erschrak er freilich über sich selber. Aber dann wieder sagte er sich: »Es wäre feig von mir, wenn ich eine mir vielleicht nützliche Tat nicht ausführte. Es wird die Missachtung verringern, die diese schöne Frau gegen mich armen Burschen, der eben der Sägemühle entronnen ist, wahrscheinlich hegt.« Sein Mut wuchs wohl ein wenig, weil er sich erinnerte, dass seit einem halben Jahre bisweilen sonntags von hübschen Mädchen hinter ihm getuschelt ward, er sei ein hübscher Kerl.

Wie er so mit sich kämpfte, unterwies ihn Frau von Rênal mit ein paar Worten über die Art, wie er sich bei den Kindern einführen solle. Die Gewalt, die er sich antat, machte ihn von neuem leichenblass. Nur mit Mühe brachte er die Worte heraus: »Gnädige Frau, niemals werde ich Ihre Kinder schlagen. Das schwöre ich bei Gott!«

Bei diesen Worten wagte er Frau von Rênals Hand zu erfassen und an seine Lippen zu führen.

Die Geste hatte sie überrascht. Im Nachdenken ward sie betroffen. Es war ein sehr heißer Tag. Deshalb trug sie die Arme bloß, nur von einem Schal bedeckt. Als Julian ihre Hand an seinen Mund zog, war der eine ganz nackt gewesen. Alsbald zürnte sie sich selbst. Es dünkte sie, dass sie viel schneller hätte empört sein müssen.

In diesem Augenblick trat Herr von Rênal aus seinem Arbeitszimmer. Er hatte die Stimmen gehört. In dem salbungsvollen und väterlichen Ton, den er annahm, wenn er im Amt eine Trauung vollzog, sprach er zu Julian: »Es ist höchst wichtig, dass ich mit Ihnen rede, ehe die Kinder Sie zu sehen bekommen!«

Damit ließ er Julian in sein Zimmer eintreten. Seine Frau wollte die beiden allein lassen, aber Herr von Rênal hielt sie zurück. Nachdem die Tür geschlossen war, setzte er sich gravitätisch. Sodann begann er: »Der Herr Pfarrer hat mir gesagt, Sie seien ein tüchtiger Mensch. Es wird Sie hier jedermann mit Achtung behandeln, und wenn ich mit Ihnen zufrieden bin, werde ich Ihnen später behilflich sein, damit Sie einen kleinen festen Posten bekommen. Ich will, dass Sie fortan weder mit Ihren Verwandten noch mit Ihren Bekannten verkehren. Das Gehabe dieser Leute ist nichts für meine Kinder. Hier sind zwölf Taler für den ersten Monat! Aber ich verlange Ihr Ehrenwort, dass Ihr Vater keinen Groschen davon bekommt.«

Der Bürgermeister war auf den alten Sorel schlecht zu sprechen, weil er ihn bei dem Handel doch übertrumpft hatte.

»Zuvörderst, Herr Sorel… ich habe nämlich den Befehl gegeben, dass Sie hier jedermann mit Herr anzureden hat. Sie werden die Vorteile, in ein vornehmes Hauswesen gekommen zu sein, bald verspüren. Was ich sagen wollte, Herr Sorel: Es schickt sich nicht, dass die Kinder Sie in Hemdsärmeln sehen … Sind die Dienstboten ihm so begegnet?«

Die letzte Frage richtete er an seine Frau.

»Nein, mein Lieber«, erwiderte sie versonnen.

»Umso besser. Hier, ziehen Sie das mal an!« Er reichte dem erstaunten jungen Mann einen Rock von sich. »So! Jetzt geht's zum Schneider Durand!«

Als Herr von Rênal mit dem neuen, nunmehr ganz in Schwarz gekleideten Hauslehrer nach einer reichlichen Stunde zurückkam, fand er seine Frau noch immer auf dem nämlichen Flecke sitzen. In Julians Gegenwart fühlte sie sich beruhigt. Während sie ihn musterte, verlor sie jede Angst vor ihm. Julians Gedanken aber weilten nicht bei ihr. Trotz aller seiner Menschen- und Schicksalverachtung war er in diesem Augenblicke seelisch ein Kind. Es war ihm, als sei in den drei Stunden, seit er voll Hangen und Bangen in der Kirche gesessen, ein jahrelanges Stück Leben vergangen. Da bemerkte er die eisige Miene der Frau von Rênal. Er begriff, dass sie ihm zürnte, weil er ihr die Hand zu küssen gewagt. Aber mit den neuen Kleidern, die so ganz anders waren denn die, die er gewohnt war zu tragen, hatte sich das Gefühl des Stolzes bei ihm eingestellt. Er war über die Maßen erregt, aber gleichzeitig vom Drange beseelt, seine Freude zu verbergen. Dadurch kam etwas Jähes und Halbverrücktes in jede seiner Bewegungen. Frau von Rênal betrachtete ihn voller Erstaunen. Und Herr von Rênal ermahnte ihn: »Würde, Haltung! Das ist die Hauptsache, Herr Sorel! Sonst haben die Kinder keinen Respekt vor Ihnen.«

»Herr Bürgermeister«, entgegnete Julian, »der neue Anzug beengt mich noch. Als armer Bauernsohn habe ich nur immer Westen getragen. Wenn die Herrschaften gestatten, ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück.«

Als der Ankömmling verschwunden war, fragte Herr von Rênal seine Frau: »Na, was sagst du zu unsrer neuen Erwerbung?«

Ohne dass sie es wollte und ohne dass sie sich über das Wie und Warum klar ward, machte Frau von Rênal eine Bewegung, die ihren Mann über ihre wirklichen Empfindungen täuschen sollte.

»Ich bin durchaus nicht so entzückt wie du von diesem Bauernjungen. Dein Entgegenkommen wird ihn so dreist machen, dass du ihn schon nach ein paar Wochen wieder wegschicken musst.«

»So schicken wir ihn eben wieder weg! Die Sache hat uns dann hundert und so und so viel Franken gekostet, aber Verrières hat die Kinder des Herrn von Rênal in Begleitung eines Erziehers gesehen. Besagter Zweck wäre nicht erreicht, wenn ich Julian in seinem Bauernkittel gelassen hätte. Und wenn ich ihn wieder wegschicke, so geht er selbstverständlich ohne den kompletten, schwarzen Anzug, den ich eben für ihn bei Durand bestellt habe. Ihm verbleibt nur das Fertiggekaufte, das ich ihn gleich habe anziehen lassen.«

Die Stunde, die Julian in seinem Zimmer verbrachte, verging Frau von Rênal wie ein Augenblick. Die Kinder hatten die Ankunft des Hauslehrers erfahren und bestürmten ihre Mutter mit allerlei Fragen. Endlich erschien Julian. Er war wie umgewandelt. Er sah nicht nur würdevoll aus; er war es durch und durch.

Er ward den Kindern vorgestellt, und der Ton, indem er sie begrüßte, versetzte sogar Herrn von Rênal in Verwunderung.

»Meine jungen Herren«, schloss Julian seine Ansprache, »ich bin hier, euch das Latein zu lehren. Ihr wisst, was es heißt, ein Kapitel auswendig zu lernen. Hier habe ich die Heilige Schrift…« Dabei zeigte er ihnen seine schwarz eingebundene Miniaturausgabe der lateinischen Bibel. »Es ist die Geschichte unsers Heilands Jesu Christi, also der Teil, den man das Neue Testament nennt. Ich werde euch oft Kapitel daraus auswendig lernen lassen. Heute will ich selber einmal eins aufsagen.«

Adolf, der älteste Junge, hatte das Buch entgegengenommen.

»Schlage es aufs Geratewohl auf!« fuhr Julian fort. »Und sage mir das Anfangswort irgendeines Absatzes auf! Ich werde die Heilige Schrift, die unser aller Richtschnur ist, auswendig hersagen, bis ihr mir Halt sagt.«

Adolf schlug das Buch auf und las ein Stück vor. Julian sagte die ganze Seite her, mit einer Leichtigkeit, als spräche er Französisch. Herr von Rênal warf seiner Frau einen Blick des Triumphes zu. Die Knaben merkten das Staunen ihrer Eltern und machten große Augen. Ein Diener kam an die Türe des Salons. Julian fuhr fort, Lateinisch zu sprechen. Der Dienstbote blieb eine Weile starr stehen und verschwand dann. Alsbald erschienen die Kammerjungfer der Frau von Rênal und die Köchin an der Tür. Inzwischen hatte Adolf bereits die achte Stelle aufgeschlagen. Julian sagte eine wie die andre glatt auf.

»Ach, du lieber Herrgott!« sagte die Köchin ganz laut, eine brave, sehr fromme Person. »So ein hübscher junger Priester!«

Dem Bürgermeister ging es an seine Eitelkeit. Statt den Hauslehrer weiterhin zu prüfen, suchte er in seinem Gedächtnis eifrigst nach lateinischen Brocken. Daraufhin zitierte er einen Vers aus Horaz.

Julians Latein beschränkte sich auf die Bibel. Er zog die Stirn hoch und erklärte: »Der fromme Beruf, dem ich mich geweiht habe, verbietet mir das Studium profaner Autoren.«

Herr von Rênal kramte noch eine stattliche Anzahl angeblicher Horazverse aus und erläuterte seinen Kindern, wer Horaz war. Aber sie schenkten seiner Rede keine Aufmerksamkeit. Sie starrten und staunten Julian an.

Da die Dienstboten noch immer an der Tür lauschten, hielt es Julian für angebracht, die Probe zu verlängern.

»Stanislaus-Xaver«, sagte er zu dem jüngsten Knaben, »jetzt musst auch du mir eine Stelle aus der Heiligen Schrift bezeichnen!«

Der Kleine las schlecht und recht, aber voller Stolz, den Anfang eines Absatzes vor. Julian sagte die ganze Seite her. Um dem Triumph des Bürgermeisters die Krone aufzusetzen, erschienen just während Julians Rezitation Herr Valenod, der Besitzer der schönen normannischen Pferde, und Herr Charcot von Maugiron, der Landrat des Kreises. Durch diese Episode war der Titel Herr anerkannt. Auch keinem der Dienstboten fiel es ein, ihn Julian streitig zu machen.

Am Abend strömten sämtliche Bekannte des Herrn von Rênal herbei, um das Wunder zu schauen. Julian spielte den Unnahbaren und hielt sich alle vom Leibe. Die Kunde seines Wissens verbreitete sich so rasch in der ganzen Stadt, dass Herr von Rênal Angst bekam, Julian könne ihm abspenstig gemacht werden. Bereits in den nächsten Tagen schlug er ihm vor, einen Vertrag auf zwei Jahre zu unterzeichnen.

»Nein, Herr Bürgermeister«, erwiderte Julian kühl, »wenn Sie mich je wegschicken, so muss ich gehen. Was nützt mir also ein Vertrag, der mich bindet, Sie aber zu nichts verpflichtet? Ich kann nicht darauf eingehen.«

In der Folge verstand sich Julian so gut zu benehmen, dass er noch vor Ablauf des ersten Monats sogar die Achtung des Herrn von Rênal errang. Der Pfarrer hatte sich mit dem Bürgermeister entzweit. Somit konnte niemand seine ehemalige Schwärmerei für Napoleon verraten. Julian selbst sprach von seinem Abgotte nur in verächtlichen Worten.

7. Kapitel

Die Kinder beteten Julian an. Er liebte sie durchaus nicht. Seine Gedanken waren anderswo. Aber was die Bürschchen auch angeben mochten, er verlor niemals die Geduld. Kalt, streng, gleichgültig, erntete er doch Liebe, weil seine Ankunft immerhin Leben ins Haus gebracht hatte. Er war ein guter Erzieher. Insgeheim aber empfand er nur Hass und Verachtung gegen die gute Gesellschaft, an deren Tisch oder vielmehr an deren Tischende er saß. Letzteres war vielleicht die Begründung seines Hasses und seiner Verachtung. Etliche Male nahm er auch an der Tafel teil, wenn Gäste im Hause waren, wobei er nur unter großer Mühe seinen Hass gegen alles, was ihn umgab, zu verbergen vermochte. Einmal, es war am Ludwigs-Tage, als Valenod im Hause des Bürgermeisters das große Wort führte, hätte sich Julian beinahe verraten. Er rettete sich schnell noch in den Garten, indem er vorgab, er wolle nach den Kindern sehen.

»Dieses Selbstlob des Spießbürgertums!« knirschte er. »Als ob das Menschentum Höchstes sei! Dabei genießt dieser Valenod Achtung und hündischen Respekt bei den Leuten, obgleich man allgemein weiß, dass er sein Vermögen verdoppelt und verdreifacht hat, seitdem er das Armengut verwaltet! Ich wette, er bereichert sich sogar durch Gelder, die für die Findelkinder bestimmt sind, die unter den andern Elenden heilig sein sollten. Ihr Raubtiere! Ihr Bestien! Ach, ich bin auch so etwas wie ein Findelkind! Mein Vater, meine Brüder, meine ganze Familie, alle hassen sie mich!«

Etliche Tage zuvor war Julian in dem kleinen Gehölz oberhalb der Stadtpromenade, die Schöne Aussicht genannt, allein, in sein Brevier vertieft, spazieren gegangen. Auf dem einsamen Fußwege waren ihm seine beiden Brüder begegnet. Ihnen auszuweichen, war unmöglich. Sein schöner schwarzer Rock, sein gepflegtes Aussehen und am allermeisten seine offenkundige Absonderung reizten den Neid der groben Holzknechte dermaßen, dass sie Julian halb tot schlugen. Ohnmächtig und stark blutend blieb er liegen. Zufällig kam Frau Rênal auf einem Spaziergang mit Herrn Valenod und dem Landrat ebendahin. Als sie Julian am Boden sah, glaubte sie, er sei tot. Das ergriff sie so stark, dass Valenod eifersüchtig wurde.

Seine Befürchtung war verfrüht. Julian fand Frau von Rênal zwar bildschön, aber er hasste sie gerade ob ihrer Schönheit. Denn diese war die erste Klippe, die das Schifflein seines Glückes bedrohte. Er sprach möglichst wenig mit ihr, um das Feuer zu ersticken, das ihn am ersten Tage verführt hatte, ihr die Hand zu küssen.

Elise, Frau von Rênals Kammer Jungfer, hatte sich ohne weiteres in den jungen Hauslehrer verliebt. Mehrfach gestand sie es ihrer Herrin.

Diese Verliebtheit hatte Julian die Feindschaft eines der Diener im Hause eingebracht. Eines Tages hörte er, wie dieser Mensch zu Elise sagte: »Seit dieser dreckige Schulmeister hier ist, bin ich Luft für Sie!«

Julian verdiente gerade diesen Vorwurf durchaus nicht, aber fortan verdoppelte er die Pflege seines Äußeren. Ohne dass er sich's eingestand, trachtete er danach, ein hübscher Kerl zu sein. Auch Valenods Ingrimm wuchs. Vor möglichst vielen Leuten erklärte er, Julian sei ungemein eitel. Das gezieme sich nicht für einen angehenden Geistlichen. Julian ging wie ein junger Abbé, nur dass er keine Soutane trug.

Frau von Rênal bemerkte, dass er mehr als früher mit Elise sprach. Es geschah aus Anlass seiner höchst ärmlichen Garderobe. Er besaß so wenig Leibwäsche, dass er genötigt war, sie in einem fort zur Waschfrau zu schicken. Zu diesen kleinen Besorgungen hatte er Elise nötig. Frau von Rênal, die so übergroße Armut nicht vermutet hatte, war gerührt. Am liebsten hätte sie ihn beschenkt, aber das getraute sie sich nicht. Diese leise Gegenstimme machte sie in ihrer Beziehung zu Julian zum ersten Male vor sich selber stutzig. Bis dahin hatte sie nichts als reine, seelische Freude an ihm gehabt. Der Name Julian war ihr sozusagen eine Bezeichnung des Glückes gewesen.

Die Kenntnis von seiner Armut lastete auf ihr, und so bat sie ihren Mann, ihm Wäsche zu schenken.

»Unsinn!« brummte er. »Wozu sollen wir einem Menschen, mit dem wir völlig zufrieden sind und der seine Sache gut macht, etwas schenken? Das wäre doch nur nötig, wenn er zu wünschen übrig ließe, um ihn anzustacheln.«

Diese Auffassung empörte Frau von Rênal. Vor Julians Ankunft hatte sie derlei gar nicht wahrgenommen. Jedes Mal, wenn sie jetzt das äußerst adrette, dabei so schlichte Äußere des jungen Mannes musterte, fragte sie sich: »Wie bringt er dies bei seinen geringen Mitteln nur zuwege?«

Allmählich empfand sie Mitleid bei allem, was an Julian mangelhaft war. Nichts berührte sie dabei unangenehm.

Luise von Rênal war eine jener Frauen der Provinz, die einem in den ersten vierzehn Tagen, wenn man sie kaum kennengelernt hat, leicht beschränkt vorkommen. Sie besaß durchaus keine Lebenserfahrung und hatte kein Bedürfnis, viel zu reden. Im unbewussten Streben nach Glück, das allen Lebewesen innewohnt, lebte ihre feinsinnige und hochmütige Seele still über dem Tun und Treiben der groben Naturen, unter die sie das Schicksal verschlagen hatte.

Sie wäre durch ihren natürlichen regen Verstand aufgefallen, wenn sie die geringste geistige Erziehung genossen hätte. Aber als reiches junges Mädchen war sie bei den Betschwestern des Sacré-Cœur erzogen worden, wo man ihr vor allem einen wilden Hass gegen alles Jesuitenfeindliche beigebracht hatte. Allerdings war sie klug genug, alles im Kloster Erlernte für dummes Zeug zu halten und alsbald wieder zu vergessen. Da aber in diese Lücke nichts trat, wusste sie eigentlich rein gar nichts. Die zu frühen Schmeicheleien, mit denen sie als Erbin eines großen Vermögens umworben ward, und ihr beträchtlicher Hang zu leidenschaftlicher Frömmigkeit hatten sie veranlasst, sich ganz in ihr Innenleben zu verkriechen. Scheinbar unterwarf sie sich zwar völlig dem Willen ihres Gatten, weshalb sie zum nicht geringen Stolze des Herrn von Rênal von den Ehemännern zu Verrières ihren Frauen als Muster hingestellt wurde, in Wirklichkeit war aber ihre Seele eine Hochburg der Unnahbarkeit. Manche ob ihres Stolzes verschriene Prinzessin schenkt dem Treiben ihres Hofstaates ungleich mehr Beachtung als diese so sanfte, sichtlich bescheidene Frau den Worten und Werken ihres Mannes gönnte. Bis zu Julians Ankunft hatte sie wirklichen Anteil nur an ihren Kindern. Ihr Gesundheitszustand, ihre kleinen Leiden und Freuden beschäftigten allein ihr empfängliches Gemüt, das noch nichts auf der Welt geliebt hatte denn Gott ehedem im Herz-Jesu-Kloster zu Besançon.

Ohne dass sie sich herabgelassen hätte, es jemandem anzuvertrauen, versetzte sie der Fieberanfall, den einer der Knaben bekam, in einen Leidenszustand, der fast so war, als sei das Kind gestorben. In den ersten Jahren ihrer Ehe, als sie noch den Drang hatte, sich mitzuteilen, hatte sie derlei Sorgen ihrem Manne eingestanden, aber immer nur ein rohes Gelächter, ein Achselzucken, dazu irgendeine triviale Redensart über die Torheit der Weiber geerntet. Bei solchen Scherzen, zumal wenn sie sich auf die Krankheiten der Kinder bezogen, hatte sich ihr Herz jedes Mal wie unter einem Faustschlag zusammengekrampft. Und das nach dem verführerischen Honigseim des Jesuitenklosters! Der Schmerz war ihr Erzieher. Zu stolz, ihr Leid auch nur ihrer Freundin, Frau Derville, zu klagen, bildete sie sich ein, alle Männer wären wie der ihre. Rohheit und brutale Unempfindlichkeit gegen alles, was nicht Geld, Vorrang oder Auszeichnung hieß, blinde Wut gegen jedwede andre Meinung, hielt sie für Dinge, die zum Manne ebenso unvermeidlich gehören wie Stiefel und Filzhut.

Viele Jahre waren vergangen, und noch immer hatte sich Frau von Rênal nicht an die Geldjäger gewöhnt, in deren Mitte sie leben musste. Deshalb machte der Bauernjunge Julian Eindruck auf sie. Sie fand sich seiner edlen und stolzen Seele wahlverwandt. Dass sie eine solche gefunden, war ihr ein süßer, unerwarteter und erhabener Genuss. Dass er gänzlich ungebildet war, verzieh sie ihm sofort. Dies erschien ihr sogar reizvoll. Ebenso sah sie ihm seine ungeschliffenen Manieren nach, und es gelang ihr, sie zu glätten. Es dünkte sie der Mühe wert, ihm zuzuhören, mochte er auch von alltäglichen Dingen reden, wie einmal von einem armen Hunde, der beim Laufen über die Straße von einem im Trabe daherkommenden Bauernwagen überfahren worden war. Ihr Mann hätte roh gelacht, wenn er dergleichen mit angesehen hätte, während Julians schöne, schwarze, fein geschwungene Brauen vor Schmerz vibrierten. Sie beobachtete es und sagte sich, dass kaum jemand mehr Menschlichkeit und Edelmut hegen könne als dieser angehende Geistliche. Die Zuneigung und die Bewunderung, die solche Tugenden in hochherzigen Seelen erwecken, fühlte sie zum ersten Male in ihrem Leben vor Julian.

In Paris hätten Julians Beziehungen zu Frau von Rênal eine einfache und rasche Entwicklung gehabt. In den Großstädten ist die Literatur die Verführerin zur Liebschaft. Dem jungen Hauslehrer und seiner scheuen Herrin wäre aus dem oder jenem Roman die Erleuchtung gekommen, und selbst Operettencouplets hätten den beiden die Augen geöffnet. Romangestalten hätten ihnen die Worte vorgesprochen und ihnen die Wege gezeigt. Früher oder später hätte ein solches Vorbild Julian zur Nachahmung gereizt. Er wäre diesem Ideale unbedingt gefolgt, wenn auch vielleicht ohne jeden Genuss, vielleicht sogar mit Widerstreben.

In südlicherer Gegend, etwa am Aveyron oder in den Pyrenäen, hätte die Glut der Sonne das kleinste Ereignis folgenschwer gemacht. In kühleren Himmelsstrichen verkehrt ein junger Mann, dessen sentimentaler Ehrgeiz über die mit Geld zu erlangende Befriedigung kleiner Gelüste nicht hinausgeht, tagtäglich mit einer dreißigjährigen Frau, die wirklich tugendhaft ist und in der Erziehung ihrer Kinder aufgeht, ohne dass es ihm beikommt, wie ein Romanheld zu handeln. Überdies entwickeln sich in ländlichen Gegenden die Dinge langsam und allmählich, aber natürlicher.

Wenn Frau von Rênal über die Armut des jungen Hauslehrers nachdachte, traten ihr zuweilen Tränen der Rührung in die Augen. Eines Tages, als sie so weinte, ward sie von Julian überrascht.

»Ist Ihnen ein Leid widerfahren, gnädige Frau?«

»Nein, mein Lieber«, antwortete sie ihm. »Rufen Sie die Kinder! Wir wollen ausgehen.«

Sie nahm seinen Arm und stützte sich darauf in einer Weise, bei der Julian ganz sonderbar zumute ward. Es war das erste Mal, dass sie ihn Mein Lieber nannte. Gegen Ende des Spazierganges bemerkte er, dass sie ein hochrotes Gesicht hatte. Sie verlangsamte ihre Schritte.

»Es wird Ihnen nicht unbekannt sein«, begann sie, ohne ihn anzublicken, »dass ich die einzige Erbin einer sehr reichen Tante bin, die in Besançon wohnt. Sie überhäuft mich mit Geschenken … Meine Söhne machen … wirklich erstaunliche Fortschritte … und deshalb möchte ich Sie bitten… ein kleines Geschenk anzunehmen… ein Zeichen meiner Dankbarkeit… nur ein paar Goldstücke,.. für die Sie sich neue Wäsche anschaffen könnten … Aber …«

Sie wurde noch röter und blieb in ihrer Rede stecken.

»Gnädige Frau …«, erwiderte Julian.

»Aber mein Mann braucht nichts davon zu wissen …«, fuhr sie fort, den Blick zu Boden gesenkt.

Julian blieb stehen und richtete sich kerzengerade in die Höhe. Seine Augen blitzten vor Zorn.

»Ich bin ein armer Schlucker, gnädige Frau, aber kein Lump! Über den Unterschied haben Sie nicht recht nachgedacht. Ich stände tiefer als ein Lakai, wenn ich Herrn von Rênal etwas verheimlichen wollte, was mein Geld anbeträfe.«

Frau von Rênal fühlte sich tief beschämt.

Julian fuhr fort: »Der Herr Bürgermeister hat mir fünfmal je sechsunddreißig Franken gegeben, seit ich in seinem Hause bin. Ich kann ihm mein Ausgabebuch jederzeit vorlegen. Ihm wie jedem andern. Selbst Herrn Valenod, meinem Feinde.«

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