Kitabı oku: «Rechtsgeschichte», sayfa 8

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Die laesio enormis hat Eingang in die großen Kodifikationen des Naturrechts, etwa in das geltende Österreichische Allgemeine Bürgerliche [<<104] Gesetzbuch (§ 934 ABGB) oder in das französische Recht gefunden (Art. 1674 Code civil). In Deutschland ist die laesio enormis durch § 282 des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs (ADHGB) von 1861 abgeschafft worden. Das BGB hat sie nicht aufgenommen; es schützt nur, und zwar beide Parteien, durch den Wucherparagraphen 138 Abs. 2 BGB. Die Anwendung des § 138 Abs. 2 BGB setzt auf Seiten des Wucherers ein Ausbeutungsbewusstsein und auf Seiten des Bewucherten einen Zustand der Schwäche oder Unterlegenheit voraus. Beides kann in der Praxis häufig nicht nachgewiesen werden. Daher hat sich das Problem heute von der Beispielsnorm des § 138 Abs. 2 BGB auf die Grundnorm des § 138 Abs. 1 BGB verlagert. So sind gemäß § 138 Abs. 1 BGB Grundstückskaufverträge nichtig, wenn zwischen dem Grundstückswert und dem Kaufpreis ein besonders auffälliges, krasses Missverhältnis besteht. Nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH soll dies schon dann der Fall sein, wenn der Wert der Leistung knapp doppelt so hoch ist wie derjenige der Gegenleistung (vgl. die Nachweise bei Soergel-Hefermehl, 13. Auflage 1999, Rn. 86 a). Auch außerhalb von Grundstückskaufverträgen berücksichtigt die Judikatur Missverhältnisse zwischen dem Wert der Leistungen. Diese Rechtsprechung bildet nicht das einzige Beispiel dafür, dass römische Rechtsfiguren auch dann einen Weg zurück ins geltende Recht finden können, wenn der Gesetzgeber sich gegen ihre Aufnahme entschieden hat.

3. Die Teilung des Reiches

Der Schwerpunkt des römischen Reiches entfernt sich nunmehr zunehmend von Italien und von Rom. Es wird immer schwieriger, das Reich als Einheit zu regieren. Trotz wiederholter Raubzüge von germanischen Stämmen, zunächst vor allem in den westlichen Regionen, bemüht man sich, die Grenzen des Reiches entlang der Rhein-Donau-Linie zu halten. Die Germanen stehen ihrerseits unter dem Druck einer weiträumigen Wanderungsbewegung anderer Völker, insbesondere der gefürchteten Hunnen. Man vermutet, dass schon frühzeitig zwischen Ost- und Westgermanen unterschieden wurde. Zu den Ostgermanen zählen die [<<105] Wandalen, Burgunder und Goten. Da diese Völker alle aus dem Norden gekommen waren, kann man auch die skandinavischen Volkskreise darunter erfassen. Westgermanen sind die eigentlich deutschen Stämme: Franken, Sachsen, Schwaben, Bayern, aber auch die später in Italien sesshaft gewordenen Langobarden und die Angelsachsen. Im 4. Jahrhundert dringen die Goten auch in die östlichen Teile des Reiches ein und nähern sich Konstantinopel, der neuen Hauptstadt für den Osten. Theodosius I. (379 – 395 n. Chr.) war der letzte große Feldherr unter den Kaisern. Ihm gelingt es, die Lage noch einmal in den Griff zu bekommen – allerdings nur um den Preis eines größeren Einflusses von Barbaren.

Nach dem Tod von Theodosius I. (395) erfolgt die Teilung des römischen Reiches in ein west- und ein oströmisches Reich. In Westrom regieren seitdem Honorius (395 – 423) und Valentinian III. (425 – 455). Letzter weströmischer Kaiser ist Romulus Augustulus, der 476 von dem germanischen Söldnerführer Odoaker gestürzt wird, was zugleich die Auflösung des weströmischen Reiches bedeutet. In Italien, dem Kernland des römischen Westreichs, tritt der Ostgotenkönig Theoderich der Große (493 – 526) die Rechtsnachfolge der weströmischen Kaiser an. Theoderich handelt im Auftrag des oströmischen Kaisers Zeno, als er den Usurpator Odoaker gewaltsam absetzt. Zur Legitimation seiner Herrschaft beruft er sich ausdrücklich auf das römisch-kaiserliche Erbe, sein regnum soll „Imitation“ des oströmischen Kaisers und weströmischer Bestandteil des imperium romanum sein. Dieses Streben nach Kontinuität findet auch Ausdruck in einem Rechtstext (Edictum Theodorici), den wahrscheinlich Theoderich hat aufzeichnen lassen (Nehlsen). Von den Ostgoten zu unterscheiden sind die Westgoten, die nicht im Kernland, sondern im ehemaligen weströmischen Provinzialland, dem römischen Gallien siedeln. Auf die rege Gesetzgebungstätigkeit der Westgoten ist noch zurückzukommen (5. Kapitel 2.1, S. 129).

In den germanischen Nachfolgestaaten gilt für die Rechtsunterworfenen römischer Herkunft weiterhin das römische Recht. Der Grund hierfür liegt im römischen Personalitätsprinzip. Wie bereits angedeutet, standen nach diesem Prinzip Nichtrömer (peregrini) unter ihrem Heimatrecht und blieben zu selbständiger Gesetzgebung und Rechtspflege befugt (2. Kapitel 4, S. 66.). Voraussetzung war lediglich, dass sie derselben [<<106] Nation angehörten. So wurden im römischen Reich lebende Athener nach athenischem Recht, Alexandriner nach alexandrinischem Recht beurteilt. Für römische Bürger galt das ius civile und für den Rechtsverkehr mit oder unter Peregrinen das ius gentium. Da nun die Nachfolgestaaten das Personalitätsprinzip auch nach Auflösung des weströmischen Reiches noch anerkannt haben, wurden Einwanderer auf dem ehemaligen römischen Territorium nach ihren Stammesrechten und die römische Bevölkerung nach römischem Recht beurteilt. Diese Tatsache hat sich für die Wirkungsgeschichte des römischen Rechts als überaus folgenreich erwiesen. Denn das Personalitätsprinzip verhalf dem römischen Recht dazu, auch nach dem Untergang des weströmischen Reichs innerhalb dieses Gebiets noch als geltendes Recht anerkannt zu werden. Die römische Rechtstradition lebte ferner in den Gesetzen der Germanen für die in den eroberten Gebieten lebenden Römer (Leges Romanae) sowie in den Germanenrechten selbst (Leges) weiter (S. 135).

Allerdings war der überlieferte Stoff den Zeitgenossen nur in grober Vereinfachung fassbar. Bis zum 11. Jahrhundert überdauerte das römische Recht in Form des ‚Vulgarrechts‘. Darunter versteht man Rechtsbildungen, die in den Zeiten des Niedergangs und nach Auflösung des weströmischen Reiches an die Stelle der verfeinerten Ausdruckstechnik und Methode der klassischen Juristen getreten sind. Es gewinnen Rechtsvorstellungen juristischer Laien oder halbgebildeter Rechtspraktiker an Boden, die die Substanz des klassischen Rechts vielfach missdeuten und verfälschen. ‚Vulgarrecht‘ ist also kein rechtssystematischer, sondern ein rechtskultureller Terminus. Es wäre jedoch voreilig, den spätantiken Juristen pauschal jede Fähigkeit zur Beherrschung der Feinheiten des klassischen Rechts abzusprechen. Bis zur Auflösung des weströmischen Reiches gibt es in den kaiserlichen Kanzleien und in den Rechtsschulen Juristen mit hervorragenden Rechtskenntnissen. Der alte rechtskulturelle Vorsprung des Westens ist jedoch schon mit dem in Ostrom unter Theodosius II. 429 begonnenen und 439 für das Gesamtreich in Geltung gesetzten Codex Theodosianus (S. 101) gebrochen worden. Die mit diesem Gesetzbuch selbstbewusst ergriffene Führung lässt sich das oströmische Reich nicht mehr nehmen. Erst im 7. Jahrhundert kommt es im byzantinischen Italien zu einem allmählichen Versiegen der geistigen Anstrengungen um das Recht. [<<107]

Die Vulgarisierung nimmt damit ihren Anfang, dass die klassischen Juristenschriften nach Mitte des 3. Jahrhunderts zum Teil verloren gehen, zum Teil aber auch schlecht überliefert oder von Bearbeitern entstellt werden. Beispiele für solche Bearbeitungen sind die Pauli Sententiae (5 Bücher) oder die Ulpian Regulae (7 Bücher), die nicht von Paulus oder Ulpian stammen. Es handelt sich um später hergestellte Auszüge (epitome) aus ihren Werken. Die Verfasser sind unselbständige Epigonen, die es nicht wagen, ihre Texte unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Zu dieser Literaturgattung gehören auch die Fragmenta Vaticana, eine 1821 im Vatikan entdeckte Sammlung von Exzerpten aus Juristenschriften und Kaiserkonstitutionen sowie die Collatio legum Mosaicarum et Romanorum, ein aus dem 4. Jahrhundert stammender Vergleich zwischen mosaischem und römischem Recht, wobei für letzteres Kaiserkonstitutionen und Exzerpte aus Gaius, Papinian, Paulus, Ulpian und Modestin im Wortlaut angeführt werden. Ein Beispiel für die fortschreitende Vulgarisierung sieht man auch in den Rechtsaufzeichnungen, die nach Auflösung des weströmischen Reiches auf dem nunmehr von germanischen Heerkönigen beherrschten Territorium für die römischen Untertanen angefertigt werden (Leges Romanae). Als wichtigste Quelle dieser Art gilt die Lex Romana Visigothorum (S. 130), die u.a. einen bearbeiteten Auszug aus den ersten drei Büchern der Institutionen des Gaius enthält (epitome Gai).

Um die Wende zum 6. Jahrhundert hat sich das politische Machtzentrum des Imperiums längst nach Osten verlagert. Nach dem Tode des Theodosius I. (395) regieren in Ostrom Arcadius (395 – 408), Theodosius II. (408 – 450), Marcianus (450 – 457) und Leo I. (457 – 474). Mit Justinian I. (527 – 565) gelangt wieder ein Mann römischer Prägung auf den Thron, dem es gelingt, für wenige Jahrzehnte auch die Herrschaft über Italien und den Westen zurückzuerobern. Dann aber setzen sich dort die Germanen wieder durch. Unter Justinian konzentrierte sich bei wirtschaftlicher Prosperität in der neuen Hauptstadt Konstantinopel das gesamte kulturelle und wissenschaftliche Leben. Ostrom vermochte es, die in Wellen einströmenden Völker entweder schon an der Grenze abzuwehren oder durch Verträge zur Anerkennung der oströmischen Oberherrschaft zu bewegen. Die in Berytos (Beirut) seit dem 3. Jahrhundert als überragend bezeugte Rechtsschule und die in Konstantinopel 425 gegründete [<<108] Hochschule haben verhindert, dass es auch im oströmischen Gebiet zu einer Vulgarisierung des Rechts gekommen ist. Im Unterschied zur klassischen Jurisprudenz sehen diese Schulen ihre Aufgabe vornehmlich in der theoretischen Durchdringung des überlieferten Stoffs. Die Bearbeitung und Fortbildung des Rechts anhand der Lösung praktischer Fälle tritt dabei in den Hintergrund. Den Schulen gebührt das Verdienst, einen neuen Weg zum Studium und zum Verständnis der klassischen Juristen bereitet zu haben. Mit ihrer Tätigkeit haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass die Gedanken der klassischen römischen Juristen Eingang in das Gesetzbuch des Kaisers Justinian finden konnten.

4. Die Kodifikation unter Justinian

Bis zur Kodifikation unter Justinian galten noch immer die Zwölf Tafeln als formelle Grundlage des gesamten römischen Rechts. Bis dahin bestand formell auch noch der Gegensatz von ius civile und ius honorarium. In den Jahren 533 und 534 trat an die Stelle des Zwölftafelgesetzes und all dessen, was ihm nachgefolgt war, das kaiserliche Gesetzbuch, mit dem die Arbeit der oströmischen Rechtsschulen zugleich ihren Höhepunkt erreichte. In erster Linie durch die Vermittlung dieses Werks haben wir eine umfassendere Kenntnis von der klassischen römischen Jurisprudenz erlangen können. Das Gesetz enthält vier Teile: Institutionen, Digesten, Codex und Novellen (zur Zitierweise: S. 20). Die Institutionen sind wohl das bedeutendste und am weitesten verbreitete Lehrbuch, das es in der europäischen Rechtsgeschichte gegeben hat. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts haben sie über 660 Ausgaben erlebt. Nach ihrem Vorbild – den Institutionen des Gaius (S. 84 und S. 87) – bringen die Institutionen Justinians das gesamte materielle Recht unter die Einteilung von personae (Personen), res (Sachen) und actiones (Klagen). Dabei steht der als Person durch seine Rechtsfähigkeit definierte Mensch (persona) an erster Stelle, dem anschließend Vermögensgegenstände (res) zugeordnet werden und der schließlich Rechtsschutz (actiones) genießt.

Das Kernstück des Gesetzgebungswerkes sind die in Titel untergliederten 50 Bücher der Digesten (‚Zusammengestelltes‘), auch Pandekten [<<109] (‚Allumfassendes‘) genannt. Dabei handelt es sich um eine in kürzere und längere Abschnitte, sog. Fragmente, gegliederte Sammlung von Auszügen aus Literatur der römischen Jurisprudenz. Nach Justinian soll in den Fragmenten ungefähr ein Zwanzigstel der im 6. Jahrhundert noch verfügbaren klassischen Rechtsliteratur verarbeitet worden sein. Die Digesten wurden durch eine aus Professoren und Rechtspraktikern zusammengesetzte Kommission erarbeitet, darunter der quaestor sacri palatii Triboniam als Vorsitzender und der an der Hochschule in Konstantinopel lehrende Theophilus. Ihre Arbeit bestand vor allem darin, Ausschnitte und Abschriften aus den Klassikertexten anzufertigen. Da man diese Tätigkeit als eine Art von Ausplündern (compilare) ansehen kann, hat man insbesondere diesen Teil des Werkes auch als Kompilation bezeichnet. Die ‚Kompilatoren‘ haben Auszüge aus Werken von ungefähr vierzig Juristen zusammengestellt. Die große Mehrzahl der Auszüge stammt aus der klassischen Periode der römischen Rechtswissenschaft. Aus der Zeit um 100 v. Chr. enthalten die Digesten nur wenige Zeilen, ganze Seiten dagegen noch von um 300 n. Chr.

Justinian selbst sagt in einer seiner Einführungskonstitutionen zu den Digesten, dass die alten Juristenschriften nicht immer unverändert in die Kodifikation übernommen worden sind. Vieles sei im Interesse der Nützlichkeit geändert worden (vgl. Constitutio Tanta, 10). So haben die Redaktoren des Gesetzes die mancipatio beseitigt und durch traditio ersetzt. Auch die in iure cessio ist aus den klassischen Quellen getilgt worden. Wie andere – durch strukturelle Mündlichkeit geprägte – Rechtsinstitute war auch sie schon seit längerem außer Übung gekommen. Die von der Kommission an den klassischen Quellen vorgenommenen Textänderungen pflegt man als Interpolationen zu bezeichnen. Die Interpolationenforschung begann im 16. Jahrhundert (S. 217) und hat mit der ‚neuhumanistischen‘ Richtung im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht (14. Kapitel, S. 299). Kaum eine Digestenstelle blieb vom Verdacht des Eingriffs durch die Kommission verschont. Heute wird das Gewicht der Änderungen längst nicht mehr so hoch wie früher eingeschätzt. Dafür spricht schon der Umstand, dass bei der kurzen Zeit, die der Kommission zur Abfassung des Gesetzeswerkes zur Verfügung stand, Veränderungen an den Klassikertexten über das von Justinian angeordnete Maß hinaus kaum vorgenommen werden konnten. [<<110]

Neben den Institutionen und Digesten enthält das Werk den 534 veröffentlichten Codex, eine zwölf Bücher umfassende chronologische Ordnung von Kaiserkonstitutionen aus rund vier Jahrhunderten – von Hadrian bis Justinian. Dieser Codex heißt auch ‚Codex zweiter Lesung‘ (repetitae praelectionis). Denn 529 war bereits ein erster Codex mit Gesetzeskraft verkündet worden. Der erste, nicht erhaltene Codex ist aus den Codices Gregorianus, Hermogenians und Theodosianus sowie danach ergangenen Konstitutionen zusammengestellt worden. Den letzten und vierten Teil des Gesetzgebungswerks bilden die nach 534 ergangenen Konstitutionen Justinians – die sogenannten Novellen. Sie wurden später hinzugefügt. Die vier Teile hatten ursprünglich keinen gemeinsamen Namen, erst im Mittelalter sind sie als Corpus iuris civilis bezeichnet worden. Dieser Ausdruck ist seit der Gesamtausgabe der Justinianischen Gesetzgebungswerke durch Dionysius Gothofredus (1583) allgemein üblich geworden (S. 218).

Die erste Fassung des Codex Justinians (529) enthielt noch das theodosianische Zitiergesetz (S. 102), das in der Neufassung von 534 (repetitae praelectionis) getilgt wurde. Der Grund liegt darin, dass Justinian mit Fertigstellung der Digesten (533) jenes Ziel erreicht hat, an dem Theodosius II. 100 Jahre vorher gescheitert war, nämlich auch das Juristenrecht (ius) zu kanonisieren. Hinzu kommt, dass Justinian glaubte, durch die Gesetzgebungskommission seien alle Meinungsverschiedenheiten beseitigt worden. In seinen Einführungskonstitutionen behauptet er wiederholt, das neue Gesetz sei frei von Widersprüchen:

Einander widersprechende Rechtssätze können aber in diesem Gesetzbuch keinen Raum beanspruchen, und man wird sie auch nicht finden, sobald man mit scharfem Verstand die Gründe für den Unterschied gehörig prüft. Es gibt demgegenüber nämlich immer irgend etwas, sei es neu eingeführt oder an versteckter Stelle stehend, das den beklagten Missklang auflöst, der Sache ein anderes Aussehen gibt und den Eindruck eines Widerspruches beseitigt (Constitutio Tanta, 15).

Nichts ist weniger wahr als diese Behauptung. Juristen haben bekanntlich die Neigung, unterschiedliche Meinungen zu vertreten. Die römischen Juristen bilden hier keine Ausnahme (S. 84). Außerdem ist das [<<111] Spektrum an Meinungen innerhalb der römischen Jurisprudenz über die Jahrhunderte hinweg stetig gewachsen und weiter ausdifferenziert worden. Im Rahmen einer bloßen Zusammenstellung von Rechtsliteratur können die mit Juristenkontroversen zwangsläufig verbundenen Widersprüche nicht alle beseitigt werden. In einzelnen Fällen lässt sich die Widersprüchlichkeit von Fragmenten aber auch darauf zurückführen, dass eines von beiden unecht ist. Die Glossatoren prüften später „mit scharfem Verstand die Gründe“ für die Widersprüche und suchten die voneinander abweichenden Stellen zu harmonisieren (8. Kapitel 2, S. 197.). Da Justinian sich in dem Glauben wiegte, durch seine Kodifikation alle Widersprüche erledigt zu haben, verbot er, die Digesten zu kommentieren. Er verband damit die Hoffnung, ein Wiederaufleben alter Streitfragen sowie nachträgliche Verfälschungen und Entstellungen seines Werks verhindern zu können:

Es erscheint uns angebracht, was uns auch schon am Anfang richtig erschienen ist, als wir dieses Werk mit Gottes Beistand in Auftrag gegeben haben, auch jetzt noch einmal gesetzlich zu bekräftigen, daß nämlich niemand es wage – weder diejenigen, die gegenwärtig über Gelehrsamkeit verfügen noch diejenigen, die später in deren Besitz gelangen – diesen Rechtssätzen Kommentare hinzuzufügen (Constitutio Tanta, 21).

Wer der Meinung war, eine Rechtsfrage sei in den Digesten nicht beantwortet worden, sollte sich um Rat an den Kaiser wenden:

Weil aber nur göttliche Dinge vollkommen sind, die menschliche Rechtsordnung dagegen so beschaffen ist, daß sie sich stets in eine unbestimmte Zukunft bewegt und es in ihr nichts gibt, was dauernden Bestand haben kann – denn die Natur ist begierig, stets neue Formen hervorzubringen –, rechnen wir fest damit, daß späterhin neuartige Rechtsgeschäfte auftauchen werden, die noch nicht festgeknüpften rechtlichen Bindungen unterworfen sind. Wenn daher irgend etwas derartiges geschehen sollte, ist ein kaiserliches Rechtsmittel zu erbitten, weil Gott das hohe kaiserliche Amt zu dem Zweck über die menschlichen Verhältnisse gesetzt hat, daß es alles, was neu entsteht, verbessern, befrieden und angemessenen Formen und Regeln übergeben kann (Constitutio Tanta, 18). [<<112]

Recht ist im Denken der römischen Antike kein Kommando – kein vom Staat ausgehender, menschliche Handlungen leitender Befehl. Wo die römische Tradition wirksam wird, erscheint das staatliche Gesetz vielmehr als ein dienendes Instrument, das eine bereits vorhandene Rechtsordnung klärt, ändert oder erneuert und als Medium und Quelle der eigenen Geltung voraussetzt (Behrends). Die Gesetzgebung Justinians steht in Einklang mit der augusteischen Idee von der res publica restituta, der unter monarchische Obhut genommenen und wiederhergestellten Republik. Danach dienen die novellierenden Rechtsetzungen der Kaiser einer bereits bestehenden Ordnung und sind auf sie bezogen. Justinian erlässt das Kommentierungsverbot auch deshalb, weil die konkrete Verwirklichung dieser vorgegebenen Ordnung schwanken und durch den Menschen immer wieder verdorben werden kann.

Allerdings ist das Kommentierungsverbot schon zu Zeiten Justinians übertreten worden. Die byzantinische Rechtspraxis war durch das umfangreiche, in Latein verfasste Gesetzeswerk überfordert. Um sein Verständnis zu erleichtern, entstehen in den byzantinischen Rechtsschulen Anmerkungen und Paraphrasen, die zum Teil noch von den Kommissionsmitgliedern selbst herrühren. Zur Vermeidung von Verzögerungen der Gerichtsverfahren hat Justinian 544 dem Richter die Kompetenz zur eigenen Entscheidung auch für den Fall der Lückenhaftigkeit des Gesetzes übertragen (Nov. 125). Damit ist die Pflicht zur Berichterstattung, eine frühe Form des sogenannten référé législatif (S. 115), de facto wieder abgeschafft worden. In der an Justinian anschließenden Zeit entstehen zahlreiche einfachere Darstellungen seiner Gesetzgebung in griechischer Sprache. Zum Teil greifen die Verfasser dieser Werke auf Stellen römischer Klassiker zurück, die nicht im Corpus iuris enthalten sind. Diese Schriften bilden eine zusätzliche wichtige Quelle, aus der die Nachwelt Kenntnis vom klassischen römischen Recht schöpfen kann (9. Kapitel 3, S. 216.). [<<113]

5. Resümee und Ausblick

Am Anfang und am Ende der Geschichte des römischen Rechts steht also ein bedeutendes Gesetz, das Zwölftafelgesetz und das höchst erfolgreiche Unternehmen des Kaisers Justinian, sich der literarischen Hinterlassenschaft der klassischen Juristen in Form einer „Kodifikation“ zu bemächtigen. Der Begriff der Kodifikation könnte freilich zu Missverständnissen führen, er bedarf der Präzisierung. Unter Kodifikation versteht man die umfassende Regelung eines Teilbereichs der Rechtsordnung durch Gesetzgebung. So ist etwa das BGB eine Kodifikation des Privatrechts, das StGB eine Kodifikation des Strafrechts. Kodifizierte Rechtsordnungen beruhen auf der Prämisse, dass ein staatlicher Gesetzgeber imstande ist, zuverlässige Prognosen über die Entscheidung künftiger Fälle zu erteilen. Deshalb werden feste Regeln vorgeschrieben, die bei Eintritt des prognostizierten Ereignisses (nachträglich) anzuwenden sind. Nach einem solchen Selbstverständnis kleidet sich die juristische Entscheidung in das logische Schema eines Schlusses, mit dessen Hilfe der Rechtsanwender ein tatsächliches Geschehen unter den Wortlaut des Gesetzes bringt. Rechtsfortbildende oder gar rechtsschöpferische Kompetenzen räumt dieses Modell dem Juristen, wenn überhaupt, in höchst unterschiedlichem Maße ein.

5.1 Das Kommentierungsverbot

Mit dem Kommentierungsverbot stellt Justinian sicher, dass nur sein Rechtsgebot gilt. Eine Rechtsbildung durch Rechtsprechung oder Wissenschaft wird dadurch ausgeschlossen. Zwei der Gründe, warum die Juristen zum bloßen Gesetzesbüttel herabgewürdigt werden sollen, sind bereits genannt worden: Justinian glaubt, durch seine Kodifikation alle Widersprüche beseitigt und damit ein Maß an Konsistenz und Klarheit erreicht zu haben, das eine Kommentierung entbehrlich macht (S. 111). Außerdem geht es ihm darum, eine vorgegebene Rechtsordnung zu schützen (S. 113). Hinzu kommt der Wunsch nach Sicherung der Bürger vor richterlicher Willkür und Machtmissbrauch (Constitutio Tanta, 17). Dies lässt auf Gemeinsamkeiten mit Regelungen der Neuzeit schließen, [<<114] deren Bedeutung aber nicht zu überschätzen ist: Auch in der Neuzeit haben absolute Monarchen immer wieder Versuche unternommen, die Stellung der Juristen durch Auslegungs- und Kommentierungsverbote zu beschränken. Hatte der Richter einen Fall zu beurteilen, für den das Gesetz keine eindeutige Regelung vorsah, musste er bei den Legislatoren um Rat fragen (référé législatif). Berühmtes Beispiel aus der Neuzeit ist das Kommentierungsverbot des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 (S. 285). Die negative Einstellung des ALR zur richterlichen Rechtsschöpfung hat sich zwar weder im französischen Code civil von 1804 (13. Kapitel 3, S. 287.) noch im Österreichischen ABGB von 1811 (13. Kapitel 4, S. 291.) durchsetzen können. Doch ist in der Entstehungsphase dieser beiden Kodifikationen ein Verbot der Kommentierung ebenfalls gefordert worden. So heißt es etwa im ersten Entwurf zum Österreichischen ABGB, dem Codex Theresianus von 1766 (13. Kapitel 4, S. 291.):

„Wir verbieten auch allen Richtern, unter dem nichtigen Vorwand einer von der Schärfe der Rechten unterschiedenen Billigkeit von der klaren Vorschrift Unserer Gesetze im Mindesten abzugehen.“

Napoleon soll, als ihm der erste, aus der Feder von Maleville stammende Kommentar des Code civil präsentiert wurde, ausgerufen haben: „Mon Code est perdu“! Im Unterschied zum Absolutismus der Neuzeit betrachtet Justinian die Rechtsordnung nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer freien Verfügbarkeit. Er begreift sich nicht als sinnstiftender Herrscher und Gesetzgeber, der durch seine Befehle eine Rechtsordnung erst herstellt, sondern als Herrscher einer Rechtsordnung, die am Anfang der römischen Geschichte von göttlichem Geist geschaffen und ihm zur Bewahrung und zum Schutz vor den Juristen anvertraut wurde (Behrends). Auch heute gibt es im Übrigen noch Regelungen, in denen der Gesetzgeber durch Interpretationsbeschränkungen einer Konfiskation des Rechts von Seiten der Juristen entgegenwirken möchte (s. die Beiträge von P. Buck-Heeb und D. Großekathöfer im Literaturverzeichnis).

Mit dem Verbot von Auslegung und Kommentierung verbindet sich der Wunsch, dass niemand zwischen den Gesetzgeber und sein Gesetz treten soll. Doch ist das Gesetz einmal in Kraft, so beginnt es, ein Eigenleben zu entfalten. Schon seit langem weiß man, dass Gesetze „klüger sein [<<115] können als ihre Urheber“, und dass der Interpret sie möglicherweise „besser versteht“ als ihre Verfasser (dazu näher Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, 106). Seit alters wird behauptet, dass Kommentare Gesetze töten würden. Der Kommentar bedroht vor allem die Verständlichkeit des Rechts. Hier liegt vielleicht ein weiteres Motiv dafür, dass Justinian die Juristen möglichst eng an seine Kodifikation hat binden wollen. In seinen Einführungskonstitutionen betont er geradezu notorisch, dass sein Werk „knapp“, „klar“, „wohlgeordnet“, „sachnah“ und „so schön wie möglich“ sein müsse, dass „rätselhafte Abkürzungen“, „verfängliche Siglen“, „überflüssige Längen“ und „Wiederholungen“ zu vermeiden seien. Heute wissen wir jedoch, dass es weder Justinian noch den Schöpfern der preußischen, französischen oder österreichischen Kodifikation gelungen ist, die Kontroversen der Juristen zu beenden.

Unter dem Einfluss der historischen Schule kamen im Laufe des 19. Jahrhunderts neue Vorstellungen über Gesetzgebungstechnik und Richteramt zum Durchbruch (14. Kapitel 3, S. 304). Die Schöpfer des Sächsischen BGB von 1865 (16. Kapitel 1, S. 341), des Zürcher Privatgesetzbuchs von 1854 (S. 355), des Schweizer Obligationenrechts von 1881 (S. 358) oder des Deutschen BGB von 1900 (16. Kapitel 3, S. 347) streben nicht nach einer lückenlosen Darstellung des Rechtsstoffs innerhalb des Gesetzes. Stattdessen haben sie Wissenschaft und Rechtsprechung Raum für Auslegung, Kommentierung und Rechtsfortbildung gewährt. Den Abschluss dieser Entwicklung bildet das Schweizer Zivilgesetzbuch von 1912 (16. Kapitel 5.2, S. 357), das in Art. 1 Absatz 2 den Richter anweist, notfalls nach der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Die neuen Ideen über das Verhältnis von Gesetz und Richter führten zu einer Ausweitung der Rechtsfortbildung durch großzügige Interpretation, insbesondere der Generalklauseln. Hinzu kommt die wachsende Zahl von Rechtsquellen (18. Kapitel, S. 389), die – in den Worten Justinians – die Rechtsordnung in „Verwirrung“ stürzen. Derzeit mehren sich die Klagen über die zunehmende Unverständlichkeit des Rechts und der Gesetzessprache. Ob die neuestens zu beobachtenden Beschränkungen der Auslegung, etwa in den Bereichen des Kapitalmarkt- oder Gentechnikrechts, einen Rückschritt gegenüber dem um 1900 erreichten Stand der Gesetzestechnik bedeuten, ist ein Desiderat der Forschung. [<<116]

5.2 Das justinianische Gesetz als Kodifikation

Nun hatte Justinian das Corpus iuris zwar als Gesetz verkünden und in Kraft treten lassen. In Wirklichkeit enthalten seine wichtigsten Teile aber gar keine Gesetze, sondern eine Zusammenstellung von eben jenen Problemlösungen, welche die klassischen römischen Juristen erarbeitet hatten. Römisches Recht ist kein Gesetzesrecht, sondern Fallrecht, das in seiner klassischen Form in der Rechtsprechung der Prätoren und in den Schriften der Juristen ausgebildet worden ist (vgl. Kaser, RP II, 38 f.). Das Corpus iuris ist daher eher Kompilation als Kodifikation. Als erster hat der bedeutende Romanist Friedrich Carl von Savigny (14. Kapitel 2, S. 302.) den Versuch einer Begriffsklärung unternommen, und zwar in seinen erst kürzlich edierten, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedachten Notizen zu Vorlesungen über die juristische Methode:

„Im römischen Recht Gesetze sind ursprünglich die Novellen und die neueren Constitutionen des Codex, also bey weitem das schlechteste – nicht Gesetze die Pandekten und die Rescripten, bey weitem das beste und wichtigste (nämlich daß dieses alles durch Justinian Gesetz geworden ist ändert nichts).“15

Dass Justinian Fallösungen als Basis für das juristische Argumentieren bereitstellt, ist übrigens auch einer der Gründe für die besondere Aktualität des römischen Rechts. Mehr als hundert Jahre nach Inkrafttreten des BGB kommt den Juristen bei der Rechtsbildung eine noch größere Rolle zu, als dessen Verfasser angenommen haben. Immer seltener ist der Jurist in der Lage, das zu beurteilende Geschehen unter den Wortlaut des Gesetzes zu bringen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges werden juristische Problemlösungen daher zunehmend im Wege des Richterrechts und fallgruppenspezifisch entwickelt. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lehren, dass der Gesetzgeber bei fortschreitender Dynamik und wachsender Kompliziertheit der Lebensverhältnisse weniger prospektiv als [<<117] reaktiv tätig wird. Die Impulse, Recht weiterzuentwickeln, gehen häufig von Juristen aus. Die Aufgabe des Gesetzgebers beschränkt sich dann darauf, die neu erarbeiteten Lösungsansätze im Nachhinein festzuschreiben.

Literatur

Quellen: Corpus iuris civilis, hg.v. Th. Mommsen / P. Krüger / R. Schoell / G.Kroll, 1. Band: Institutionen, Digesten, 2. Band: Codex, 3. Band: Novellen (1868 ff., ND 1972), lateinischer Text mit deutscher Übersetzung: hg.v.O. Behrends / R. Knütel / B. Kupisch / H. H. Seiler, 1. Band: Institutionen, 2. Auflage (1997), 2. Band: Digesten Buch 1 – 10 (1995), 3. Band: Digesten Buch 11 – 20 (1999), 4. Band: Digesten Buch 21 – 27 (2005); B. Schilling / K. F. F. Sintenis u. a., Das Corpus iuris civilis in’s Deutsche übersetzt, 1831 (ND 1984); Theodosiani libri XVI (Codex Theodosianus), hg.v. Th. Mommsen, 1904 / 05 (ND 1962); Römische Rechtstexte, hg.u. übers. v. M. Fuhrmann und D. Liebs (1988).

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