Kitabı oku: «Phantomschmerzen», sayfa 3

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2

Früh am nächsten Morgen, noch immer verkrampft und ausgelaugt von der langen Reise, machte sich Simon auf den Weg über die Insel, stieg die einspurige Straße hinauf, die zu dem Hügel fast in der Mitte führte. Von dort aus verlief die Straße wieder abwärts, und da auf dieser Seite von Taransay nur wenige Menschen lebten, war sie steinig, schmal und vernachlässigt.

Nachdem er vier Meilen in gleichmäßigem Tempo zurückgelegt hatte, ging er wieder bergan bis an die Klippen über dem wilderen Meer. Er schaute hinab und erblickte eine langgestreckte Sandbucht. Basstölpel und Möwen krallten sich ans Felsgestein, stiegen ab und zu auf und landeten dann wieder auf den Felsvorsprüngen. Vor ihm lag nur das Meer, das auf dieser Seite nie ruhig war, nie still. Die großen Brecher rollten einer nach dem anderen heran, schäumten in einer langen weißen Linie an den Strand. Über die Brandung und das Krächzen der Vögel hinweg hätte er seine eigene Stimme nicht gehört. Doch hier war auch niemand, mit dem er hätte sprechen können.

Er setzte sich auf einen Vorsprung und genoss die Aussicht. Der Himmel war milchig, die Luft frisch, aber nicht kalt. Und der Wind wehte. Wie immer hier.

Er wusste nicht, ob er je an einem schöneren Fleck gewesen war – vielleicht nicht. Ihm ging das Herz auf. Er liebte die Einsamkeit, die Wildnis, die ständige Bewegung von Wolken, Meer und Dünengras, das Auf und Ab der Vögel. Wie ihn das alles einsaugte, von seiner Gegenwart jedoch keine Notiz nahm.

Die andere Seite der Insel war sanfter, geschützter, näher am Wasser, obwohl der Wind auch hier heulen und toben konnte und das Meer manchmal so rau war, dass die Boote tagelang im Hafen festsaßen und der Fährbetrieb eingestellt wurde.

Ob er hier leben könnte? Das ganze Jahr über, in dem es monatelang um drei Uhr dunkel wurde, an einem Ort, an dem dunkel schwarz bedeutete? Das ganze Jahr über, in dem man für eine Woche oder länger vom Wetter eingesperrt werden konnte? Die elektronische Kommunikation war inzwischen gut, man konnte ebenso leicht mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen wie alle, die auf dem Festland lebten, doch das bedeutete nur Wörter, schriftlich oder mündlich, die im Cyberspace hin und her flogen, keinen engen menschlichen Kontakt.

Trotzdem, dachte er, schaute hinab, als die Sonne herauskam, auf der Meeresoberfläche funkelte und er die Köpfe von drei Seehunden sah, die nah am Strand auftauchten, trotzdem …

Die Seehunde verschwanden so plötzlich, dass er sich umschaute, um zu sehen, was sie aufgeschreckt hatte. Eine Gestalt wanderte nah am Wasser über den Strand. Eine Frau in Watstiefeln und langem braunen Regenmantel, ein Schal um den Hals verbarg ihre Haare fast vollständig. Sie ging mit großen, gleichmäßigen Schritten, den Blick auf den Sand gerichtet. Kurz darauf bückte sie sich und hob etwas auf, prüfte es und steckte es in die Tasche. Ein Stück weiter wiederholte sie das Ganze.

Eine Strandgutsammlerin also; vielleicht gab es dort eine gute Ausbeute, wo das Meer eine Linie aus Steinen und Abfällen hinterließ, wenn die Ebbe einsetzte. Hier waren die Gezeitenströmungen schnell. Die Frau ging weiter. Sie hatte Simon nicht gesehen. Er rührte sich nicht. Bald war sie hinter einem Felsvorsprung außer Sichtweite, und die Seehunde kamen wieder an die Oberfläche.

3

»Noch eine Minute.«

»Fertig.«

Felix kam polternd die Treppe herunter. Graue kurze Hose. Grauer Blazer mit der himmelblauen Paspel, die ihn als Chorjungen der Kathedrale kennzeichnete. Keine Kappe. Die waren abgeschafft worden, als Sam in die Schule kam.

»Oboe?«

Er schenkte Kieron Bright, seinem Stiefvater, einen langen, leidvollen Blick. Wenn er alles andere vergaß, dann doch bestimmt niemals seine Oboe, das Instrument, das er so bereitwillig angenommen hatte, dass es ihm innerhalb weniger Monate angewachsen schien.

»Auf geht’s!«

Kierons Fahrstrecke zum Polizeipräsidium Bevham führte ihn nicht an der Kathedrale vorbei, doch seit den ersten Tagen seiner Ehe mit Cat hatte er sich angeboten, Felix zu seinen frühen Chorproben zu fahren.

»Das ist ganz einfach«, hatte er gesagt. »Es bedeutet, dass ich Felix jeden Morgen für mich habe. Dass ich gleich als Erster zur Arbeit komme. Es bedeutet, du musst es nicht machen, und wenn es für mich ein kleiner Umweg ist, dann ist es für dich auf deinem Weg zur Praxis ein großer. Keine Widerrede.«

Das war sinnvoll, aber der beste Grund für sie war nicht der offensichtliche und praktische. Ihr Mann wollte eine Beziehung zu ihrem jüngeren Sohn aufbauen, und Felix schien mit der Abmachung ganz zufrieden – wobei Felix leicht zufriedenzustellen war. Er war ein glückliches, ruhiges Kind und nahm das Leben, wie es kam, freute sich an dem, was es bot, und hatte ihr kaum Ängste bereitet.

Hannah, die an der Schule für darstellende Künste war, hatte sich von einem problematischen Kind zu einem talentierten jungen Mädchen entwickelt, das die unbeschwerte Fröhlichkeit ihres Bruders Felix teilte. Sam, ihr Ältester, war der Schwierige.

Sie schaute dem Auto nach, wie es aus der Einfahrt bog, ihr Sohn wandte sich Kieron zu und plauderte angeregt. Dann fluchte sie leise vor sich hin, denn sie hatte vergessen, die beiden daran zu erinnern, dass sie am Abend Probe mit den St.-Michael-Singers hatte, die erste der neuen Saison. Ob Kieron daran dachte, dass er und Felix zum Abendessen allein zu Hause waren?

Kieron schon. Ihn zu erinnern, wäre überflüssig. Er war Mr Planvoll, Mr Ordentlich, Mr Tüchtig.

Er war auch der Ehemann, nach dem sie nie gesucht oder den sie nach Chris’ Tod erwartet hätte. Sie hatten gewisse Gemeinsamkeiten, was ihr schon immer klar gewesen war, aber Organisationsvermögen gehörte nicht dazu. Das hatte Chris nur in seiner Allgemeinpraxis an den Tag gelegt. Doch seine Hingabe und sein Engagement für die Arbeit waren dieselben gewesen, und Cat respektierte es, ebenso wie die Tatsache, dass diese Arbeit häufig an erster, zweiter und dritter Stelle kam, vor ihr. Sie hätte es nicht anders haben wollen. Im Übrigen, dachte sie jetzt, als sie hinaufging, um ihr Make-up für den Tag fertig aufzulegen, hatte sie oft ihre eigene Karriere vornan gestellt, was ein Familienleben nicht immer leicht machte. Als sie praktische Ärztin war, vor der neuen Regelung, die ihnen die Verpflichtung genommen hatte, nachts und an Wochenenden in Rufbereitschaft zu sein, hatte sie sich zwischen ihren Patienten und ihren Kindern zerrissen, und nur weil Chris auch Arzt war, ging es einigermaßen. Auch als sie Oberärztin im Imogen House war, dem Hospiz von Lafferton, hatte sie sich zwischen Loyalität und Pflichten aufgerieben.

Nun war sie wieder Allgemeinmedizinerin in Teilzeit, keine Partnerin in einer Gemeinschaftspraxis. War alles verkehrt herum gelaufen? Mit zwei Kindern, die meist außer Haus waren, und einem Ehemann, mit dem sie Leben, Heim und Herd teilte, sollte sie mehr Stunden ihrer Arbeit widmen, nicht weniger.

Doch das Verfassen eines Buches über Palliativpflege in der Allgemeinmedizin füllte die Stunden aus, die sie eingespart hatte, und sie hatte vor, noch mehr zu schreiben. Ihre Eltern waren beide Krankenhausärzte gewesen, hatten doziert, geforscht und geschrieben. Sie trat in die Fußstapfen der Familie.

Anders als Si, dachte sie und zog die Bürste aus der Wimperntuschehülse. Sie musste ihm später noch eine E-Mail schreiben.

Dann sollte sie sich noch mit Sam in Verbindung setzen, Sam oben in Newcastle, angeblich um einem Freund dabei zu helfen, sich an der Universität zurechtzufinden, eher jedoch, vermutete sie, um von zu Hause und der Notwendigkeit wegzukommen, Entscheidungen über seine eigene Zukunft zu treffen – und womöglich weg von seinem Stiefvater, obwohl sie sich in der Hinsicht nicht ganz sicher war. Kieron hatte gesagt, zwischen ihnen laufe alles gut, nur dass sie sich noch zurechtruckeln mussten. Sam hatte sich dazu nicht geäußert.

Bei ihrer Hochzeit war er still gewesen, aber ganz gut gelaunt. Nur die Familien und ein paar enge Freunde waren dabei gewesen, und sie hatte in der kleinen Marienkapelle der Kathedrale stattgefunden. Sie und Kieron hatten von Anfang an beschlossen, sie sollte von niemandem zu ihm geführt werden, sie wollten sich gemeinsam präsentieren, auf Augenhöhe. Ebenfalls von Anfang an hatte ihr Vater gesagt, dass er nicht teilnehmen werde. Simon hatte sich noch nicht erholt, nachdem er nach dem Angriff auf der Schwelle des Todes gestanden, den linken Arm verloren und ein paar Wochen im Krankenhaus verbracht hatte. Er hatte freudig gewirkt, aber zurückhaltend, und war immer noch traumatisiert. Der Tag war schön gewesen, Cat hatte keinerlei Zweifel daran gehabt, wieder zu heiraten, war jedoch froh, als es vorbei war und sie sich nach den paar Tagen in New York, mit denen Kieron sie überrascht hatte, im Alltag einrichten konnten.

Sie schminkte sich fertig, fuhr sich rasch noch einmal mit der Bürste durch die Haare und machte sich auf den Weg in die Praxis, wobei sie sich durchaus bewusst war, dass sie ihren früheren Enthusiasmus für die Arbeit eingebüßt hatte. Es war nicht dasselbe. Die Krise in der Allgemeinmedizin hatte die Hingabe und Leidenschaft bei der Sorge um Patienten stark beeinträchtigt, die ihrerseits von Ärzten und den ihnen erwiesenen Diensten desillusioniert und demzufolge fordernder waren und mehr zu Beschwerden neigten.

Auf dem Fahrersitz fand sie einen Zettel.

Kopf hoch. Der Tag wird gut. Ich liebe dich. K.

Er hinterließ ihr solche Notizen, nicht jeden Tag, denn dann könnte sie die ja als selbstverständlich ansehen, sondern nur zufällig, einen Klebezettel an ihrem Spiegel oder auf dem Kissen, ein Blatt aus einem Notizbuch, so wie heute im Auto. Sie steckte den Zettel in ihre Tasche und fuhr los, ein Lächeln auf den Lippen.

Als sie in die Praxis kam, sah sie eine vertraute Gestalt an der Rezeption. Mrs Coates, neunundachtzig und zerbrechlich, litt schon lange unter Arthritis und Polymyalgie, hatte sich erst vor Kurzem von einer Lungenentzündung erholt und beklagte zunehmende Sehschwäche. Sie lebte allein, war eisern gewesen, hatte aber, so glaubte Cat, genug davon, alleine mit dem Leben zu kämpfen.

»Ich verstehe ja«, sagte sie gerade zu Angella, einer der Arzthelferinnen, »ich weiß genau, wie beschäftigt Sie alle sind. Das weiß ich wohl.«

»Ich hätte da einen Termin bei Dr. Sanders am Montag in einer Woche um halb drei. Wollen Sie den?«

Cat wollte nicht unterbrechen und Angella in die Quere kommen, doch als sie vorbeihuschte, drehte Mrs Coates sich um.

»Oh, Frau Doktor Deerbon, ich sehe ja ein, wie es ist, aber ich habe versucht, zu Ihnen zu kommen, und Sie haben immer so viel zu tun, da ist nie ein Termin zu haben. Und es ist so schwer, jedes Mal an einen anderen Arzt zu geraten und alles von vorn erklären zu müssen, wenn ich auch weiß, dass Sie alle sehr gut sind.«

»Ich habe versucht, Mrs Coates zu erklären, dass Sie alle ihre Krankenakte vor sich haben, es spielt wirklich keine Rolle, zu wem sie geht.«

»Ich weiß. Darf ich mal eben schauen?«

Ein kurzer Blick auf den Bildschirm mit den Terminen zeigte ihr, was sie schon wusste, nämlich dass ihre Sprechstunden der nächsten beiden Wochen restlos ausgebucht waren, und länger im Voraus durften Patienten sich nicht anmelden. Dasselbe galt für Mrs Coates, das war ihr klar. Nach dem neuen System sollten Patienten jeden Termin annehmen, der bei einem beliebigen der sieben Ärzte verfügbar war. Das war gut für jemanden mit einer Halsentzündung oder für ein Kind mit Ausschlag – jeder Mediziner wäre geeignet. Doch für ältere Patienten oder solche mit einer langen Krankengeschichte, die ein Arzt besonders gut kannte, oder für Menschen, denen es unangenehm war, mit jemandem zu sprechen, den sie nicht kannten, sollte die Möglichkeit bestehen, einen Termin beim Arzt ihrer Wahl zu bekommen.

»Geht es um etwas Neues, Mrs Coates? Sie müssen hier nicht alles ausbreiten, aber sagen Sie einfach, ob Sie über etwas Akutes oder über eine chronische Sache sprechen wollen.«

Angella sah wütend aus.

»Neu ist es nicht, Frau Doktor, es ist …«

»Könnten Sie um zehn nach eins wiederkommen? Dann schiebe ich Sie dazwischen.«

Die Sprechzeit war um halb eins zu Ende, wurde aber in aller Regel um zwanzig oder dreißig Minuten überschritten.

»Tut mir leid, wenn ich Sie bitten muss, noch einmal zu kommen, nur habe ich heute Morgen wirklich keine Lücke mehr.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Doktor, sehr nett. Kein Problem, ich kann noch einmal kommen. Danke. Ich verstehe ja, wie schwer es ist, das verstehe ich.«

»Das weiß ich doch. Dann bis später.«

An der Rezeption wurde es langsam voller, die Telefone klingelten, Angella warf Cat einen gehässigen Blick zu. Auch das verstehe ich, dachte Cat. Nur zu gut. Aber Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden. Sie würde sich nicht zu einer Entschuldigung zwingen lassen.

Sie loggte sich ein, als sich die ersten Schritte auf dem Flur ihrem Sprechzimmer näherten. Menschen wie Mrs Coates, die freundliche Behandlung brauchten, gab es noch genug. Wie oft hatte sie bei Praxisbesprechungen gesagt, das System sollte ihnen dienen, aber sie liefen andauernd Gefahr, sich von ihm beherrschen zu lassen.

4

An s.serrailler@police.gov.uk

Von chief.bright@police.gov.uk

Guten Morgen, Simon. Hoffe, alles ist in Ordnung auf Taransay. Ruh dich aus. Du brauchst es. Aber ich hoffe, der Polizist in dir sitzt noch immer in den Startlöchern, wenn du wieder zu Atem gekommen bist. Wir werden etwas finden, womit wir dich langsam wieder eingewöhnen.

Hier läuft alles rund.

Kieron

An s.serrailler@police.gov.uk

Von sam101notout@gmail.com

Hi, Si, noch immer im Newkybroon Land. Montag wieder zurück, und frag nicht, was dann. Muss planen, muss mich entscheiden. Will reden. Wann bist du zu Hause? Letztes Spiel Samstag. Vermute, das wär’s dann jetzt für dich, krickettechnisch gesehen. Krass. Mum klingt quietschfidel. Flixer auch. Hatte ich nicht auch noch eine Schwester?

Liebe Grüße von Sam

An s.serrailler@police.gov.uk

Von cat.deerbon@lafferton.nhs.uk

Si, liebster Bruder, wie geht’s? Hier umwerfend, 26 Grad heute, Sonne ohne Ende, und Felix beklagt sich, dass er seinen Blazer anziehen muss. Kieron fährt ihn noch immer zur Schule, aber so kann es nicht weitergehen, oder? Wie steht’s mit dem Arm? Gibt’s was Neues vom endgültigen? Ich weiß, ich soll ihn nicht erwähnen, doch du wirst dich damit abfinden müssen – hast du was von Dad gehört? Ich bin mir ziemlich sicher, die Antwort wird Nein lauten, und für gewöhnlich lässt er mir alle paar Wochen ein paar knappe Worte zukommen, aber er hat sich seit Mitte Juli nicht gemeldet. Judith kommt nächste Woche für ein paar Tage vorbei, und es wird toll sein, sie zu sehen, aber das Thema Dad wird der Elefant im Raum sein, wie immer, und das ist nicht leicht.

Hannahs Schule probt das Musical Guys and Dolls – sie schickt aufgeregte SMS, sehnt sich nach einer guten Rolle. Achtung: – wir müssen alle hin.

Sam sollte demnächst zurückkommen, weiß aber nicht wann. Er ist ziemlich unbeständig. Mit K. hat er anscheinend kein Problem. Sie kommen gut miteinander klar. Weiß der Himmel, was er dieses Jahr vorhat. Seine Abschlussnoten waren gut, aber offenbar überdenkt er gerade seine Berufswahl. Keine Ahnung, wie die ausfällt. Darüber können wir grade nicht reden. Ein oder zwei Mal hat er sogar ein Medizinstudium erwähnt. Bisher war es die ganze Zeit Polizei – obendrein auch noch bewaffnete Sondereinheiten. Und für Medizin hat er sich nie begeistert, und das muss man.

Ich habe immer gehofft, einer von den dreien würde die Familientradition fortsetzen und Mediziner werden, doch das möchte ich jetzt niemandem wünschen, es sei denn, sie sind wie besessen davon, und dann sollte es ein seltener Fachbereich sein. Neurologie wäre gut. Gesichtsrekonstruktion bei Kriegsopfern, auch gut. Pädiatrische Onkologie, okay. Allgemeinmedizin – lieber nicht.

Alles Liebe. Und ruf mal zu Hause an.

C

Simon saß am Ende des Kais in der Sonne, die laut Wetterbericht gegen Abend Regen, Sturm und hohem Wellengang weichen sollte. Es war nicht immer leicht zu sagen, wie lange das schlechte Wetter anhielt, aber wenn es nachließ, bestand die Möglichkeit, dass die spätsommerliche Sonne nicht zurückkam, schon gar nicht mit der Wärme, die sie heute noch ausstrahlte. Die Fähre sollte bald mit einer Ladung Vorräte und Post anlanden, und er wollte beim Entladen helfen. Er konnte relativ große Kartons und Kisten tragen, nur nicht die schwersten. Nicht mit dem Arm. Nicht so, wie er es früher problemlos geschafft hatte. Er hatte sich nie besonderer Muskelstärke gerühmt, obwohl er immer Sport getrieben hatte und fit war. Nach der Physiotherapie in der Reha war er wahrscheinlich so fit wie noch nie, aber man hatte ihn davor gewarnt, die Prothese übermäßig zu belasten und zu schwere Sachen zu heben oder zu tragen. Später, wenn er den neuen, endgültigen Arm hatte. Später. An dieses Wort hatte er sich inzwischen gewöhnt. Später. Doch die Physiotherapeuten waren sehr positiv eingestellt gewesen. Nein. Niemals. Geht nicht. Diese Wörter existierten in ihrem Vokabular nicht.

Er steckte sein iPhone in die Tasche. In den E-Mails hatte nichts Beunruhigendes gestanden. Sam würde sein Ziel erreichen – wie immer es aussehen mochte. Cat schien überglücklich zu sein. Aus persönlicher Sicht hatte Simon nie Einwände gegen ihre Ehe mit dem Chief gehabt. Da er noch krankgeschrieben war, hatte sich bisher beruflich noch kein Konflikt daraus ergeben, dass sein Boss gleichzeitig sein Schwager war. Das würde vielleicht auch nie vorkommen – nicht nur, weil sie sich große Mühe geben würden, einander entgegenzukommen, sondern weil er Zweifel hinsichtlich seines Wiedereinstiegs in die Arbeitswelt hegte. Was für ein Polizist konnte er noch sein? Man hatte ihm versichert, dass der Arm sich »weder auf persönlicher noch auf beruflicher Ebene in irgendeiner Weise« auswirken würde. Stimmte das?

Cats Bemerkung über ihren Vater ließ er an sich abprallen. Seit Richard Serrailler wegen Vergewaltigung angeklagt worden und es ihm gelungen war, einen ausreichend cleveren Verteidiger zu finden, der die Staatsanwaltschaft überzeugen konnte, das Verfahren einzustellen, hatte Simon sich jeglichen Gedanken an ihn aus dem Kopf geschlagen. Ihre Beziehung war immer schwierig gewesen, aber abgesehen davon hatte er nicht den leisesten Zweifel, dass der Staatsanwalt einen Fehler begangen hatte.

Er blickte aufs Meer hinaus und sah, dass die Fähre gerade in den Hafen einbog. Ein paar Leute sammelten sich dort unten, noch mehr würden erscheinen. Pub und Laden würden jetzt allmählich Vorräte für den bevorstehenden Winter anlegen und alle Lagerräume füllen, die ihnen zur Verfügung standen. Sie leerten sich teilweise in der Sommersaison, wenn die Fähren häufiger kamen. Simon sprang auf.

Die Insulaner wussten alle über seinen Unfall und den Verlust des linken Arms Bescheid, und es hatte viel freundlichen Zuspruch oder Einladungen auf einen Drink gegeben, aber ansonsten war kein großes Aufheben gemacht worden, wofür er dankbar war. Jetzt wartete er, während die Fähre vorsichtig andockte und das Tau von Bord geworfen wurde. Nur wenige Minuten vergingen, bis die ersten Kartons und Kisten entladen wurden. Simon und zwei andere luden kleinere Kartons mit Lebensmitteln auf Sackkarren, die sie dann zum Lager hinter dem Laden schoben.

»Kerzen.« Das war die Stimme der Frau, die auf der anderen Seite der Insel am Strand entlanggegangen war. Sie war groß, und ihr blondes Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. »Sind Sie gestern angekommen?«, fragte sie.

»Vorgestern Abend.« Er hatte Schwierigkeiten, die Sackkarre zu greifen und den Abhang hinaufzumanövrieren, und wollte daher seinen Atem nicht an ein Gespräch verschwenden, was die Frau aber anscheinend sofort begriff. Sie bot ihm keine Hilfe an, ging ihm nur aus dem Weg und wuchtete ihre eigene Karre die Anhöhe hinauf.

Das Entladen, Holen, Schleppen und Einlagern dauerte eine Stunde. Die Fähre war voll beladen, und außer den zwei Mann Besatzung war niemand an Bord.

Kerzen. Batterien. Dicke Socken. Strapazierfähige Gummistiefel. Butangaszylinder. Haushaltsreiniger. Fässer mit Speiseöl. Salz. Regenkleidung. Und so weiter.

Simon blieb stehen, um zu verschnaufen. Er hatte seit seinem Unfall viel trainiert, aber seine Kraft war noch nicht wieder auf normalem Stand, und seine Schulter schmerzte höllisch.

»Fast geschafft.«

Die Frau hievte Kisten von der Sackkarre in den hinteren Bereich des Lagers und tat so, als sei es ein Klacks. Er war wütend auf sich. Vor einer Frau schlappmachen! Das wäre ihm früher nie in den Sinn gekommen. Jetzt war er gereizt. Sein Stolz war verletzt.

»Das war’s«, rief jemand. »Der Letzte zahlt.«

Gut gelaunt eilten alle zum Taransay Inn.

»Hast du Sandy schon kennengelernt?« Douglas tauchte aus dem Gedränge auf. »Sie ist kurz nach deinem letzten Besuch hier eingetroffen und gehört inzwischen zum Inventar.«

Die Frau hob ihr Bierglas. Sie war vielleicht Ende vierzig, möglicherweise etwas jünger – Wind und Wetter verliehen allen, die einen oder zwei Winter blieben, eine spröde, rötliche Gesichtshaut, die sie älter erscheinen ließ.

»Simon Serrailler.«

»Sandy Murdoch.«

Simon hatte sich ein großes Glas Malt bestellt, um den Schmerz in seiner Schulter zu betäuben. Er hatte starke Medikamente verschrieben bekommen, bevorzugte aber Whisky.

»Wie lange bleiben Sie hier?«

»Eine, zwei, drei Wochen. Ich habe keinen festen Plan.«

»Den hatte ich auch nicht. Ich kam für eine Woche, aus einer Woche wurde ein Monat, und das war so ungefähr vor vier Jahren.«

Ihr Akzent klang nicht schottisch, doch sie hatte den Tonfall von Taransay ein wenig angenommen, dessen Singsang Simon so noch nirgendwo anders gehört hatte.

»Wie finden Sie die Winter?«

Sandy zuckte mit den Schultern. »Der Wind kann einen wahnsinnig machen. Aber ich mag ihn. Man verkriecht sich.«

Das Lokal war voll, und die Neuankömmlinge hatten feuchte Schultern und Haare. Regen lief an den Fenstern herunter.

»Und Sie?«, fragte Sandy, obwohl sie ihn nicht anschaute. »Sie hatten einen Unfall.«

»Ja.«

»Mit dem Auto?«

»Nein.«

»Aha.«

»Kommen Sie, ich gebe Ihnen noch einen aus.« Simon stand auf. »Einen Bitter Shandy? Einen Kurzen?«

»Nein, nein, ich trinke das harte Zeug nicht. Nur manchmal gegen die Kälte. Aber danke.«

Kirsty war hereingekommen und sprach mit Douglas an der Bar. »Was kann ich euch bestellen? Douglas?«

»Nein, ich bin schon fast weg, um Robbie abzuholen, ich bin spät dran, und die Schule ist heute zur Abendessenszeit aus.«

Sandy winkte, als Kirsty mit wehenden Haaren hinauslief und die Regenjacke zuknöpfte.

»Douglas?«

»Danke. Nur den Single, und dann muss ich mich mit einer Rolle Zaundraht auf den Weg zur anderen Seite machen.«

Als die beiden Whiskys über die Bar geschoben wurden, füllte Douglas sein Glas aus dem Krug auf dem Tresen auf. Serrailler verzog das Gesicht. »Verdammter Frevel«, sagte er. »So ein guter Malt, und du ruinierst ihn mit deiner Limonade. Das krieg ich nie in den Kopf.«

Douglas lachte. »Irgendwelche Neuigkeiten?« Er hatte mit einem Nicken auf Simons Arm gedeutet.

»Nein, es dauert noch ein paar Wochen. Die sagen mir nicht viel.«

»Fängst du wieder an zu arbeiten, bevor du diesen bionischen Arm bekommst, wie Robbie ihn nennt?«

»Ich weiß nicht, Douglas, ich weiß es einfach nicht … die Stelle ist da, sie werden sie so lange frei halten, wie ich es möchte, aber das kann nicht für immer und ewig sein.«

»Kannst du nicht sukzessive wieder einsteigen?«

»Wahrscheinlich schon. Aber will ich das? Das heißt überhaupt wieder als Polizist arbeiten?«

»Was sonst?«

Simon leerte seinen Whisky und antwortete nicht. Die Frage hatte er sich oft gestellt, ohne eine Antwort darauf zu haben.

Douglas richtete sich auf. »Danke«, sagte er. »Sieht so aus, als hätte Sandy dir da drüben den Platz warmgehalten.«

»Wer ist sie? Jedenfalls keine Einheimische. Woher kommt sie?«

Douglas zog eine Augenbraue hoch. »Bisschen alt für dich.«

»Hör auf, das habe ich nicht gemeint, und das weißt du. Hab mich bloß gewundert. Ein Neuankömmling, der nach Taransay kommt und bleibt …«

»Tja, nun … sie hat sich von Anfang an nützlich gemacht. Apropos, ich könnte Hilfe beim Zaun gebrauchen … wäre in der Hälfte der Zeit damit fertig. Sie packt bei den meisten Sachen mit an. Hilft hier aus, wenn im Sommer viel Betrieb ist. Iain sagt, sie muss in einem anderen Leben selbst eine Kneipe geführt haben. Aber jetzt geht es um den Zaun.« Er schob sich durch die volle Gaststube zu Sandys Platz.

Erst als Simon zum Laden hinüberging, um ein paar Vorräte zu holen, fiel ihm ein, dass Douglas ebenso gut ihn hätte bitten können, beim Zaunbau zu helfen. Aber er hatte es nicht, und das stieß Simon bitter auf.

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