Kitabı oku: «Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus», sayfa 5

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2.8 Zusammenfassung

Nachdem der ursprünglich aus dem Militärischen stammende Avantgardebegriff spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts ins literarisch-künstlerische Feld übergetreten war, hat er in der heutigen Waren- und Konsumgesellschaft endgültig seine Entgrenzung erfahren und ist aus unserem heutigen Alltag nicht mehr wegzudenken. Heute ist alles Avantgarde, was sich als solche bezeichnet, deshalb ist ein linearer und relativer Avantgardebegriff unbrauchbar geworden.

Der Avantgardebegriff wird daher als Epochenbegriff verwendet und bezeichnet die frühe und sogenannte historische Avantgarde zwischen dem ersten futuristischen Manifest und dem Zweiten Weltkrieg. Sie wird vor allem durch ihren Gruppencharakter, ihren Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen und die Auflösung der traditionellen Triade Künstler-Kunstwerk-Rezipient charakterisiert.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts feiert die Avantgarde durch die Studentenproteste und den Eintritt der westlichen Welt in die Postmoderne als Neo-Avantgarde ihr Comeback. Allerdings hatten sich die Umstände avantgardistischen Schaffens grundlegend verändert. Die Avantgarde operierte inzwischen im spätkapitalistischen Kontext einer fortgeschrittenen Waren- und Konsumgesellschaft. Der Kunstmarkt hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg von Europa nach New York verschoben, wo eine vermeintlich ideologiefreie neo-avantgardistische Kunst produziert wurde: aus der zeitlichen und räumlichen Distanz heraus war die frühe Avantgarde in Verruf geraten, schließlich hatte sie nach der Einschätzung mancher mit ihren totalitären Zügen und ihrer Fortschritts- und Geschichtsgläubigkeit die europäische Katastrophe mitzuverantworten. Nachdem die frühe Avantgardeforschung auf der Suche nach einer umfassenden Theorie gewesen war, die die unterschiedlichen avantgardistischen Ismen synthetisieren sollte, differenzierte sie sich mit dem Eintritt der westlichen Gesellschaft in die Postmoderne in den 1980er Jahren aus in verschiedene Teilbereiche und widmete sich bisher unbeachteten Themen, wie z. B. der Position der Frau in der Avantgarde.

Es galt fortan, historische und Neo-Avantgarde zueinander zu positionieren. In der europäischen und insbesondere in der theorieaffinen deutschsprachigen Forschung wurde die historische Avantgarde als tiefgreifender Einschnitt in Kunst und Kultur erlebt. Die Avantgarde brach mit der Moderne und versuchte als erste künstlerische Bewegung, die Institution Kunst zu verlassen und von der Kunst her das Leben zu verändern. Nachdem dieser Versuch mit der Einverleibung der Avantgarde durch die widerstandsfähige Institution Kunst gescheitert war, erreichte die nachfolgende Kunst nie mehr die radikale und revolutionäre Kraft der frühen Avantgarde. Im anglo-amerikanischen Raum dagegen wurden die Errungenschaften der historischen Avantgarde, die dort keine große Rolle gespielt hatte, so gut wie ausgeblendet. Erst mit der Neo-Avantgarde hatte eine echte Revolution in Kunst und Kultur stattgefunden.

In der Avantgardeforschung haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Denkfiguren herausgebildet, die aber nicht als konkurrierend aufgefasst werden sollten, sondern als einander ergänzend und erhellend. Diese Figuren befassen sich mit verschiedenen Fragen. Steht die Avantgarde in der Tradition der Moderne oder bricht sie mit ihr? Ist die Avantgarde vor allem ein ästhetisches oder ein politisches Phänomen? Inwiefern ist die Avantgarde in ihrem Bestreben, die Kunst in Lebenspraxis zu überführen, gescheitert? Wie positioniert sich die Avantgarde zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Wie positioniert sie sich zum Raum?

Angesichts der Fülle an Avantgardetheorien mag es verwundern, dass das Theater bisher noch keinen prominenteren Platz in der Avantgardeforschung eingenommen hat, schließlich können viele Aspekte, Widersprüche und Aporien der Avantgarde am Theater durchdekliniert werden. Die Avantgarde hat die drei wichtigsten Kunstkategorien (Kunstwerk, Künstler, Rezipient) aufgeweicht und steht damit dem Theater nah, wo die Destabilisierung dieser Kategorien bereits institutionell angelegt ist.

Der umstrittene Begriff des Avantgardetheaters umfasst das Theater der historischen Avantgarde in der Zwischenkriegszeit, das nouveau théâtre der späten 1940er und der 1950er Jahre und das postdramatische Theater ab den 1960er Jahren. Der Zweite Weltkrieg kann insofern als Zäsur für das Avantgardetheater gelten, als sich die äußeren Bedingungen avantgardistischen Schaffens nach 1945 drastisch verändert hatten. Die Differenzen können wie folgt festgehalten werden:


Abb. 12

Mit dem postdramatischen Theater erfuhr das Avantgardetheater erneut einen Bruch, der es – diesmal von innen heraus – verwandelte:


Abb. 13

Trotz oder gerade aufgrund der Pluralität und Entgrenzung des Avantgardebegriffs besteht auch im 21. Jahrhundert noch immer Klärungsbedarf. Mit dem Altern der Avantgarde und den neuen Medien haben sich neue Bereiche für die Avantgardeforschung aufgetan. Dabei muss die Avantgarde sowohl als ästhetisches Phänomen, aber auch als revolutionäre Kraft betrachtet werden.

Schließlich bietet sich die Avantgarde auf ganz besondere Weise an für die wichtige Diskussion um das Praktischwerden von Literaturwissen und die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften, denn sie hat alternative Lebensentwürfe aufgezeigt und eine bessere Welt in Aussicht gestellt.

3 Das surrealistische Theater
3.1 Der Surrealismus

Das poetische Theater, das Gegenstand dieser Arbeit ist, steht in einer avantgardistischen Tradition und führt, das wird sich zeigen, das Theater des Surrealismus fort. Im Folgenden sollen der Surrealismus und sein Theater kurz skizziert werden, um später wichtige Verbindungslinien zwischen surrealistischem und poetischem Theater identifizieren zu können. Nach einem kurzen Abriss über den Surrealismus – eine vertiefte Auseinandersetzung ist z.B. bei Carrouges1 (1950), Nadeau (1964), Bréchon (1971), Durozoi2 (1997) und Murat (2013) zu finden – sollen die Stellung des Theaters im Surrealismus und die Theatralität der surrealistischen Bewegung beleuchtet werden. Unter Bezugnahme auf Schriften von Surrealisten oder Personen im Umkreis des Surrealismus sowie auf das von Henri Béhar formulierte Korpus surrealistischer Theaterstücke werden die wichtigsten Aspekte des surrealistischen Theaters, die später für das poetische Theater von Relevanz sein werden, zusammengefasst.

Als Gründungsdatum des Surrealismus gilt das Jahr 1924, in dem das Manifeste du surréalisme veröffentlicht wurde. Die surrealistische Gruppe hatte sich von den Dadaisten um Tristan Tzara losgesagt, da ihre Provokationen und Schockstrategien ins Leere gelaufen waren.3

Der Surrealismusbegriff war Jahre zuvor schon von Guillaume Apollinaire verwendet worden: im Programm zum Ballett Parade vom Mai 1917 hatte er die gelungene Vereinigung verschiedener Künste und Disziplinen als „une sorte de sur-réalisme“4 bezeichnet und darin die Ankündigung eines neuen Geistes gesehen. Im Vorwort zu seinem ebenfalls im Jahr 1917 aufgeführten Stück Les mamelles de Tirésias, das er als „drame surréaliste“ bezeichnet hat, liefert Apollinaire eine Definition des Surrealismus: „Quand l’homme a voulu imiter la marche, il a créé la roue qui ne ressemble pas à une jambe. Il a fait ainsi du surréalisme sans le savoir.“5 Die Realität dient als Ausgangspunkt für die Kunst, wird aber von dieser nicht photographisch als tranche de vie wiedergegeben, sondern als eine die objektiv wahrnehmbare Realität transzendierende Wirklichkeit.

Ein Anhänger des Apollinaireschen Surrealismus war Ivan Goll, der die Realität ebenfalls als Grundlage jeder Schöpfung betrachtete. In seinem Manifeste du surréalisme, das nur einige Tage vor dem seines Rivalen Breton veröffentlicht wurde, heißt es: „La réalité est la base de tout grand art. […] Tout ce que l’artiste crée a son point de départ dans la nature.“ Goll definiert den Surrealismus als „transposition de la réalité dans un plan supérieur (artistique)“6. Der Surrealismus ist Goll zufolge das, was übrigbleibt, wenn der Oberflächenrealismus durchdrungen wird und das Wahre an den Tag tritt. Im Vorwort zu seinem Stück Mathusalem (1920) ist zu lesen: „Le surréalisme est la plus forte négation du réalisme. Il fait apparaître la réalité sous le masque de l‘apparence, favorisant ainsi la vérité même de l’être.“7

Das Material des Künstlers ist die ganze Welt, so hat Pierre Albert-Birot, der ebenfalls den Surrealismus Apollinaires vertrat, es in seiner Erklärung zum „théâtre nunique“ von 1916 geschrieben: „Le monde entier est son atelier, le monde entier est son cabinet de travail, le monde entier est son modèle et il ne peut avoir que des aspirations à ce que l’on pourrait appeler le mondialisme ou l’universalisme.“8 Der Surrealismusbegriff ist also in den intellektuellen Pariser Kreisen schon in Gebrauch, bevor André Breton ihn für sich beansprucht. Der Apollinairesche Surrealismus strebt die Vereinigung verschiedener Künste an, er nimmt die Realität zum Ausgangspunkt und die Welt zum Materiallieferanten, er will nicht imitieren, sondern das ganze Leben auf die Bühne bringen.

In seinem Manifeste du surréalisme gibt Breton an, den Surrealismusbegriff von Apollinaire zu dessen Ehren übernommen zu haben, weist allerdings auch darauf hin, dass das Wort sich erst mit ihm, Breton, und seiner Gruppe durchgesetzt habe. Breton definiert den Surrealismus in einer Art Enzyklopädieeintrag als

[a]utomatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.9

Mit Breton schlägt der Surrealismus eine neue Richtung ein. Der Begriff bezeichnet nun das wahre Denken, das sich frei von Vernunft, Ästhetik- und Moralvorstellungen entfaltet. Der Bretonsche Surrealismus verweilt nicht im Bereich der Kunst, sondern arbeitet an der „résolution des principaux problèmes de la vie“10 und wird damit zu einer Wissenschaft der Lebensbewältigung, die nun auch dem bisher unbeachteten Bereich des Unbewussten, der Träume und Mythen einen wichtigen Platz einräumt. Im Manifeste soll die gesellschaftliche Veränderung noch über den Geist des Individuums vollzogen werden, Konzepte wie Familie, Vaterland, Religion, Arbeit und Ehre, die im Krieg so viele Opfer gefordert hatten, wurden gegen die Begriffe Poesie, Liebe und Freiheit eingetauscht.

Die im Jahr 1919 von Breton, Aragon und Soupault gegründete Zeitschrift Littérature war das Organ der vorsurrealistischen Gruppe. Der ironisch gemeinte Titel basiert auf einem Zitat Verlaines aus dem Gedicht L’Art poétique („Et tout le reste est littérature“), verweist aber dennoch auf die literarischen Wurzeln des Surrealismus.

Im Jahr 1924 wurde Littérature dann von der Zeitschrift La Révolution surréaliste abgelöst, ein Titel, der auf eine zunehmend anti-literarische, anti-künstlerische Tendenz innerhalb der surrealistischen Bewegung verweist. Ab Mitte der 1920er Jahre stellt sich für die Surrealisten immer dringlicher die Frage nach einem politischen Engagement, das sie schließlich 1927 mit ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei verwirklichen. In Au grand jour (1927) heben sie die Konkordanz zwischen Surrealismus und Kommunismus hervor und verurteilen die ehemaligen Weggefährten Soupault und Artaud aufgrund ihrer „poursuite isolée de la stupide aventure littéraire“11. Die Surrealisten befinden sich in einer schwierigen Phase zwischen Selbstauflösung innerhalb der Kommunistischen Partei und Rückkehr in ihre wirkungslose, weil selbstgenügsame und ästhetizistische, Ausgangsphase. Trotz dieser Schwierigkeiten blühte die Produktion surrealistischer Texte in dieser Zeit.

La révolution surréaliste wurde 1930 von einer neuen Zeitschrift, Le surréalisme au service de la révolution, abgelöst. Im selben Jahr veröffentlichte Breton das Second manifeste du surréalisme, in dem der Surrealismus auf einen strengeren Kurs eingenordet und von Elementen, die der surrealistischen Sache nicht dienlich waren, befreit werden sollte. Hierzu gehören auch die Abrechnung Bretons mit ehemaligen Gruppenmitgliedern (Soupault, Vitrac, Artaud, Desnos, Duchamp, Ribemont-Dessaignes und Picabia) sowie eine deutlich politische Ausrichtung des Surrealismus. Es geht nun nicht mehr nur um eine geistige Revolution (wie noch im ersten Manifest), sondern um die soziale Frage, der sich die Surrealisten stellen müssen. Doch auch selbstkritische Tendenzen werden laut, es regt sich das Bedürfnis nach einer Infragestellung der Ziele und Motive des Surrealismus. Breton macht deutlich, dass der Surrealismus sich noch in der Vorbereitungsphase befinde und dass die Entfaltung seiner Wirkung auf die Zukunft ausgerichtet sei. Seinen Kunstcharakter hat der Surrealismus komplett verloren, er sei, so Breton, weder Kunst noch Anti-Kunst, sondern er „plonge ses racines dans la vie“12. Ein wichtiges Projekt der Surrealisten bleibt weiterhin die Erkundung der verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz und die Erforschung jenes „point de l’esprit d’où la vie et la mort, le réel et l’imaginaire, le passé et le futur, le communicable et l’incommunicable, le haut et le bas cessent d’être perçus contradictoirement.“13 Die Zusammensetzung der surrealistischen Gruppe änderte sich stets: manche Mitglieder gingen (wie Aragon, der mit der Gruppe brach, um sich der kommunistischen Sache zu widmen), andere kamen (wie Salvador Dalí, der den Surrealismus um weitere Techniken zur Erkundung des menschlichen Geistes bereicherte).

Dass die revolutionäre Kraft ihren Zenit überschritten hat, wird deutlich, als die Zeitschrift Le Surréalisme au service de la Révolution im Jahr 1933 eingestellt wird. Spätestens anlässlich des „Congrès des écrivains pour la défense de la culture“ (1935 in Paris), an dem die Teilnahme der Surrealisten von den Kommunisten stark sabotiert wird – die Eindrücke des Kongresses wurden in Du temps que les surréalistes avaient raison (1935) verarbeitet –, spätestens da glauben die Surrealisten nicht mehr an eine Versöhnung surrealistischer und kommunistischer Intentionen.

Die Konsekrierung des Surrealismus als künstlerische Bewegung nimmt somit ihren Lauf. Zahlreiche Surrealisten emigrieren in die USA, darunter auch Breton, der im Jahr 1940 nach New York geht. Nach dem Krieg hatten sich die Zeiten geändert, die Jugend hatte in Camus und Sartre, die sich im Krieg engagiert hatten, neue Helden gefunden. Überhaupt hatte der grausame Krieg die Wirkkraft des Surrealismus mit seinen unerfüllt gebliebenen Ambitionen in Frage gestellt. So ist der historische Surrealismus, der zwar erst im Jahr 1969 offiziell als beendet gilt, (spätestens) nach dem Krieg obsolet geworden. Er hatte sein Versprechen nicht halten können, „la transformation totale de la vie“14 war ausgeblieben, und trotz seiner anti-künstlerischen Haltung hatte er nur noch mehr Kunst produziert. Man muss wohl Jean Schuster zustimmen, wenn er in seinem Artikel Le quatrième chant in Le Monde vom 4. Oktober 1969 zwischen einem „surréalisme 'historique'“ und einem „surréalisme 'éternel'“ unterscheidet. Mit der Ikonizität seiner verbalen und graphischen Bilderwelt hat der Surrealismus als eines der „meilleurs produits d’exportation“15 Frankreichs die Sehgewohnheiten der Menschen grundlegend verändert und ist mit seiner traumhaften Bildsprache längst in das kollektive Bewusstsein der Massen getreten.

Der Surrealismus sah sich demnach schon zu seinen Hochzeiten mit seinen eigenen Aporien konfrontiert. Musste man bei der Transformation des Lebens zuerst beim Individuum ansetzen oder bei der Gesellschaft? Konnte man das Leben von der Kunst her verändern oder war dies nur durch politisches Engagement möglich? Dieser im Surrealismus und in der Avantgarde im Großen angelegte Widerspruch manifestiert sich im Kleinen am Theater, das ja ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Kunst und Leben steht.

3.2 Stellung des Theaters im Surrealismus

Breton stand der Institution Theater aus mehreren Gründen skeptisch gegenüber: Theater war ein Zeichensystem und als solches nicht wahrhaftig, es war finanziellen Zwängen unterworfen, außerdem war es für Breton ein Ausdrucksmittel unter vielen und stand im Dienste eines erweiterten Poesiebegriffs, weshalb eine Beschäftigung mit Theater als Kunstform drohte, ins Ästhetizistische abzugleiten. In der Introduction au discours sur le peu de réalité (1924) erklärt Breton:

Ô théâtre éternel, tu exiges que non seulement pour jouer le rôle d’un autre, mais encore pour dicter ce rôle, nous nous masquions à sa ressemblance, que la glace devant laquelle nous posons nous renvoie de nous une image étrangère. L’imagination a tous les pouvoirs, sauf celui de nous identifier en dépit de notre apparence à un personnage autre que nous-même. La spéculation littéraire est illicite dès qu’elle dresse en face d’un auteur des personnages auxquels il donne raison ou tort, après les avoir créés de toutes pièces. 'Parlez pour vous, lui dirai-je, parlez de vous, vous m’en apprendrez bien davantage. Je ne vous reconnais pas le droit de vie ou de mort sur de pseudo-êtres humains, sortis armés et désarmés de votre caprice. Bornez-vous à me laisser vos mémoires; livrez-moi les vrais noms, prouvez-moi que vous n’avez en rien disposé de vos héros.' Je n’aime pas qu’on tergiverse ni qu’on se cache.1

Er kritisiert am Theater, dass die Akteure hier in eine andere Rolle schlüpften und nicht sich selbst spielten. Und auch der Autor komme am Theater nicht direkt zu Wort, sondern immer nur gefiltert durch seine Figuren. Breton sieht das von ihm geforderte unmittelbare Wirken des subjektiven Geistes am Theater kompromittiert: auf der Bühne, wo die physische Materialität eine große Rolle spielt und die psychische Kontrolle zu einem gewissen Grad an Regisseure und Schauspieler abgegeben werden muss, war der surrealistische „Cult of Self“2, der eine ungehemmte und unmittelbare Vermittlung subjektiver psychischer Erfahrungen erforderte, beeinträchtigt. Hier zeigt sich Bretons Ablehnung des Theaters als Zeichensystem, das einer Zeit-Ort-Figuren-Matrix gehorcht und in dem die Dinge immer auf etwas anderes verweisen als auf sich selbst. Ein solches Theater war für ihn nicht wahrhaftig, sondern reine Imitation und Blendung.

Breton war der Institution Theater auch deshalb abgeneigt, weil sie finanziellen Zwängen ausgesetzt war. Im Second manifeste rechnet er diesbezüglich mit Artaud ab, der im Juni 1928 mit seinem „Théâtre Alfred Jarry“ Strindbergs Le Songe aufgeführt hatte. Die Aufführung wurde finanziell von der schwedischen Botschaft unterstützt. Die Premiere wurde von einigen anwesenden Surrealisten, darunter Breton, so gestört, dass Artaud die Polizei rufen ließ, um die Störenfriede zu beseitigen.

Im selben Manifest wird Vitrac wegen seines Hangs zum Ästhetizismus gescholten: der Theatermann habe sich der „poésie pure“ hingegeben und wolle seine Spektakel „en beauté“3 inszenieren. Aufgrund seines Interesses am Theater, das er als eigenständige Kunstform betrachtete und das er von innen heraus revolutionieren wollte, hatte Vitrac seinen Platz innerhalb der Surrealistengruppe aufs Spiel gesetzt. Jacques Baron schrieb über ihn: „Seul Vitrac s’est réservé la part théâtrale. C’était déjà se situer un peu à côté. Et quand on est un peu à côté avec Breton, on est tout à fait en dehors.“4

3.3 Theatralität des Surrealismus

Auch wenn Breton eine Abneigung gegen das Theater hegte, ist der Surrealismus stark von Theatralität geprägt, die sich in der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, in der surrealistischen Selbstinszenierung, im Spiel und in der Begeisterung der Surrealisten für einzelne Theaterhäuser und Theaterstücke manifestierte.

Der öffentliche Raum wurde den Surrealisten zur Bühne: das Café, die Straße, der Flohmarkt nehmen eine zentrale Rolle in der surrealistischen Poetik ein. Dies waren die wahren Schauplätze der surrealistischen Gruppe, deren Mitglieder hier zugleich Akteure und Zuschauer waren. Man traf sich, diskutierte, philosophierte, spielte, träumte, trank und stritt, gleichzeitig war man auch passiver Beobachter des städtischen Treibens. Der Surrealismus prägte einen ganz neuen urbanen Typen, den des Flaneurs, Tagträumers, Dandys und Taugenichts, der sich in den Straßen von Paris treiben lässt und offen für wunderbare Begegnungen ist. Die Surrealisten eroberten sich einen Platz im öffentlichen Leben, wovon die – wenn auch nur kurze – Existenz des Bureau central de recherches surréalistes vom Oktober 1924 bis Januar 1925 zeugt. Diese von Artaud geleitete Institution fungierte als Kontaktstelle zwischen der Surrealistengruppe und der Öffentlichkeit, welche aufgerufen war, sich am „reclassement de la vie“1 zu beteiligen. Die Theatralisierung des öffentlichen Lebens ist charakteristisch für den Surrealismus:

Every tendency of the nineteenth and twentieth centuries has been toward definition and atomization, toward the establishment of art as one thing and life as another, and toward the distinction of the arts one from another. In its nostalgic effort to return to a past when the boundaries were not so clear, Surrealism constantly sought to make art of life and to make of life an art. […] Be that as it may, the conflation of art and life, the leitmotiv of transformation, and the element of frivolous play which typifies both Dada and Surrealism bring both the works and the lives of their participants close to the condition of theatre.2

Es war gerade diese Entgrenzung des Theaters, die für die Surrealisten „das Theater als abgetrennten, artifiziellen Kunstbereich überflüssig“3 gemacht hat.

Auch die Bewunderung der Surrealisten für Figuren mit einem Hang zur Selbstinszenierung ist bezeichnend für den theatralen Geist des Surrealismus. Hier sind vor allem Alfred Jarry und Jacques Vaché zu nennen, die sowohl in Bretons surrealistischer „Ahnengalerie“ im Manifeste als auch im surrealistischen Stück Comme il fait beau! (1923 veröffentlicht) von Breton, Desnos und Péret erwähnt werden. Jarry lebte ein Leben im Einklang mit seiner Kunstfigur Père Ubu und praktizierte damit die von den Surrealisten geforderte Irruption der Kunst in das Leben. Breton, der Jarry nie kennengelernt hatte, widmete ihm einen Artikel („Alfred Jarry“, 1918), in dem er anekdotisch demonstrierte, wie sehr Jarry sich die Figur des Ubu Roi einverleibt hatte. Den schillernden Jacques Vaché hatte Breton in seiner Funktion als Assistenzarzt Anfang 1916 am Zentrum für Neurologie in Nantes kennengelernt, wo Vaché aufgrund einer Verletzung behandelt wurde. Breton war beeindruckt von Vachés Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Konventionen und von der Art und Weise, wie dieser die Trennung zwischen Kunst und Realität überwand. In seinen Lettres de guerre manifestiert sich Vachés Geringschätzung gegenüber Künstlern und Kunst. Seine Konzeption des „Umour“ als „un SENS […] de l’inutilité théâtrale (et sans joie) de tout“4 prägte Breton nachhaltig. Vaché soll zur Uraufführung von Apollinaires Les mamelles de Tirésias mit einem Revolver gekommen und bereit dazu gewesen sein, von der Waffe Gebrauch zu machen. Dieses Bild einer in die Menge schießenden Person wurde von den Surrealisten später noch oft bemüht.

Das Spiel ist Theater in Reinform. Die Surrealisten spielten gern und viel. Das Spiel war für sie nicht nur Zeitvertreib und Zerstreuung, sondern auch ein Mittel zur Selbst- und Weltkenntnis und damit eine ernsthafte Angelegenheit. Das Spiel schuf Komplizität innerhalb der eingeschworenen Surrealistengruppe und grenzte sie gleichzeitig zur Außenwelt ab. Im Spiel ist man sowohl als einzelner Spieler als auch als Gruppe involviert. Es zapft die Imagination an, unterliegt gleichzeitig aber auch gewissen Regeln. Der Zufall spielt eine große Rolle, doch die Spieler werden auch durch Spielregeln gelenkt. Das Spiel findet damit in einem Bereich zwischen Imagination und Realität, Zufall und Logik, Individuum und Gruppe, Innen und Außen, Willkür und Planung statt. Dies zeigt sich beispielsweise im folgenden surrealistischen Spiel:

Vous vous asseyez autour d’une table. Chacun de vous écrit sans regarder sur son voisin une phrase hypothétique commençant par SI ou par QUAND d’une part, d’autre part une proposition au conditionnel ou au futur sans lien avec la phrase précédente. Puis les joueurs, sans choisir, ajustent deux à deux les résultats obtenus.

So entstanden Konditionalsätze wie Bretons „Si la Marseillaise n’existait pas“, der mit Aragons „Les prairies se croiseraient les jambes“5 weitergeführt wurde. Da sich das Spiel in einer Zone zwischen Vernunft und Imagination abspielt und das Imaginäre erkundet, ohne dabei den Bezug zur Realität mit ihren Regeln und Konventionen ganz zu verlieren, war es besonders attraktiv für die Surrealisten, die ja nie in einer Parallelwelt operierten, sondern immer den Austausch zwischen der realen und der imaginären Sphäre suchten. Das Theater eignet sich wie kaum eine andere Kunstform, um diese Zusammenhänge sichtbar zu machen. Das Spiel im Spiel oder Verweise auf die Spielsituation sind häufig angewandte Techniken in den surrealistischen Theaterstücken.

Trotz der Abneigung vieler Surrealisten gegen das Theater konnten sie sich durchaus punktuell für das Theater begeistern. In Nadja (1928) gibt Breton zwar zu, „peu de goût pour les planches“ zu haben, äußert sich gleichzeitig aber in passionierter Weise über Pierre Palaus Les Détraquées, das er im „Théâtre des Deux-Masques“ gesehen hatte und das „reste et restera longtemps la seule œuvre dramatique (j’entends: faite uniquement pour la scène) dont je veuille me souvenir.“6 Im selben Werk lobt Breton das Pariser „Théâtre Moderne“ und findet: „on ne peut mieux à mon idéal“7. In Le paysan de Paris (1926) hatte Aragon dasselbe Theater beschrieben als „le seul qui nous présente une dramaturgie sans truquage, et vraiment moderne“8 und als ein Theater, das allein die Liebe zum Ziel habe. Aragon hatte außerdem im Vorwort zu Le Libertinage (1924) angegeben, er habe bereits in jungen Jahren mit dem Schreiben begonnen: Auslöser sei der Besuch von zwei Theaterstücken gewesen, und sein erstes Werk sei… ein Theaterstück gewesen.9 Mehrere Jahrzehnte später, im Jahr 1971, schwärmte Aragon in einem offenen Brief an den zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Breton von Robert Wilsons Stück Le Regard du Sourd:

il est ce que nous autres, de qui le surréalisme est né, nous avons rêvé qu’il surgisse après nous, au-delà de nous, et j’imagine l’exaltation que tu aurais montrée à presque chaque instant de ce chef-d’œuvre de la surprise, où l’art de l’homme dépasse à chaque respiration du silence l’art supposé du Créateur. Peut-être aurais-tu dit de ce produit de l’avenir comme tu le fis des magiciens passés, des Nuits d’Young, de Swift, de Sade, de Chateaubriand, de Constant, de Hugo, de Desbordes-Valmore, d’Aloysius Bertrand, d’Alphonse Rabbe, etc., qu’ils étaient non point surréalistes, mais surréalistes dans quelque chose, aussi bien Edgar Allan Poe que Baudelaire, ou Rimbaud, Mallarmé, Jarry […] mais je veux trop dire pour en venir à jurer Dieu que tu aurais écrit que Bob Wilson est, serait, sera (il aurait fallu le futur) surréaliste par le silence, bien qu’on puisse aussi le prétendre de tous les peintres, mais Wilson c’est le mariage du geste et du silence, du mouvement et de l’inouï.10

Glaubt man außerdem Ionesco, so begeisterten Philippe Soupault und seine surrealistischen Freunde sich sehr für das Theater des absurden Dramatikers: „Quand, en 1952-53, lui, Breton et Benjamin Péret ont vu mes pièces, ils m’ont dit en effet: 'Voilà ce que nous voulions faire!'“11

Die vermeintlich ambivalente Haltung der Surrealisten zum Theater lässt sich dadurch erklären, dass sie die Materialität und den Zeichencharakter des Theaters ablehnten, die Entgrenzung des Theaters hin zum Leben aber begrüßten und anstrebten.