Kitabı oku: «Sperrgebiet!», sayfa 5

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SECHZEHN

Auf meiner Fahrt zur Arbeit, am nächsten Morgen, machte ich den üblichen Stopp beim Ortsbäcker „Pepe“ und nahm mir meinen ersten Kaffee im Becher mit. Eigentlich bin ich Langschläferin und deshalb ohne Koffein um diese Uhrzeit nicht lebensfähig. Hoch lebe der Erfinder des „Coffee to go“, dem es wahrscheinlich ähnlich gegangen sein musste, als er das Getränk gangbar machte. Mein Gewissen hatte mich früh aus dem Bett getrieben, weil ich wusste, dass unser gesamtes Team wieder bis spät in die Nacht gearbeitet hatte, während ich den Abend nach einem ausgiebigen Sportprogramm mit den Folgen 1, 2 und 3 einer amerikanischen Serie auf Netflix verbracht hatte. 4 bis 8 verschlief ich komplett, sodass ich ausgeruht um kurz nach 05.30 Uhr erwachte. Auf dem Sofa – vor dem Fernseher.

„Hi Sara, Du bisse aber früh. Isse alles in de Ordnung?“ Der Inhaber und gute Geist der Backstube freute sich immer, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen und begrüßte mich überschwänglich mit seinem südländischen Dialekt und Küsschen hier und Küsschen da. Dabei war die letzte Begegnung selten mehr als 24 Stunden her. Aber das entsprach seinem Naturell und war sehr wohltuend in der zum Teil sehr ignoranten neuen Welt.

„Ja, alles ok, Pepe. Wie geht’s Dir?“

„Sehe wir uns an Freitag zu Karaoke-Abend in de Ratskeller?“

Die Antwort blieb ich im schuldig. Ich und Karaoke … ich und Ratskeller … ich und Pepe. Das ging alles nicht. Das ging gar nicht. Pepe ist ein toller Mensch und ich freute mich immer, ihn zu sehen. Aber ihm fehlten eine ganze Menge Haare und Zähne. Und das, was oben nicht mehr vorhanden war, hatte er an Bauchumfang zu viel. Durch seine liebe und immer freundliche Art, war er ein absoluter Menschenfänger und mein Herzensmensch. Eine Beziehung mit ihm konnte ich mir allerdings nicht vorstellen, auch wenn er hin und wieder Versuche startete, sich mit mir zu verabreden. So wie heute.

„Da kannste Du mire etwas von der verschwundene Bella erzählen. Der Fitnessstudio, wo sie gearbeitete, ist ganz in die Nähe von hier“, rief er mir hinterher. „Wusste Du?“

Klar wusste ich das, Lohmar ist ein Dorf. Jeder kennt jeden und jeder weiß, was der andere tut. Spätestens bei Pepe erfährt man alles.

Auch diese Frage beantwortete ich ihm nicht. Dienstgeheimnis eben. Ich hatte die Tatsache zwar in der Akte gelesen, verdrängte es aber, um mir nicht unnötig vor Augen zu führen, wie nah das Verbrechen war. Dass wir sie vermutlich gefunden hatten und sie tot war, durfte ich unter gar keinen Umständen durchblicken lassen. Dann wäre meine Karriere bei der Polizei schon zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

„Ciao Pepe. Bis morgen.“

Den Kaffee musste ich schlürfen, um mir nicht den Mund zu verbrennen. Aus den vielen schmerzlichen morgendlichen Erfahrungen wusste ich nur zu gut, dass er erst in Köln die optimale Trinktemperatur haben würde. Und so landete der Becher noch fast voll auf meinem Schreibtisch.

„Guten Morgen!“, begrüßte mich Frank, der immer der Erste aus unserem Team im Büro war. Dass er so früh hier war, sprach für eine äußerst kurze Nacht.

„Danke, für den Kaffee.“ Ohne aufzublicken nahm er einen großen Schluck. Dass er nicht für ihn sein könnte, zweifelte er keine Sekunde an. Die Welt drehte sich halt um ihn und nicht umgekehrt. Er war unrasiert heute Morgen, trug noch denselben Anzug wie gestern und sah verschlafen aus. Sein Körpergeruch aus Nikotin und Schweiß erfasste den Raum und in einer großen Welle der stinkenden Moleküle auch mich. Puuuuh! Das passte überhaupt nicht zu ihm und war einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass er die komplette Nacht im Dickicht des Verbrechens verbracht hatte.

„Wir waren die ganze Zeit hier und sind das wenige, das wir haben, wieder und wieder durchgegangen“, berichtete er von den vergangenen Stunden. „Andreas war noch einmal am Fundort und hat versucht, etwas zu finden, das wir und die Kollegen übersehen haben könnten.“ Seinen Unmut darüber konnte er kaum zügeln und die Ader auf seiner Stirn drohte vor Zorn zu platzen. „Gefunden hat er natürlich nichts!“

„Kann ich etwas für Dich tun?“, fragte ich.

„Könntest Du gleich den Befund in der Gerichtsmedizin abholen?“ Frank kramte in einem Stapel Unterlagen. „Und prüfe bitte alte Vermisstenfälle hier in der Region und einen möglichen Zusammenhang mit anderen Leichenfunden“, fügte er hinzu.

Der Ernst der Situation war ohne eine Erklärung spürbar und ließ keinen Raum für Höflichkeitsfloskeln oder ein privates Wort. Ich hörte immer wieder und überall, dass sich die Stimmung im Polizeipräsidium seit den Silvestervorfällen in Köln sehr verändert hatte und eine latente Anspannung immer und überall mitschwang. Klar war jedenfalls, dass wir uns gerade im Bezug darauf und übertragen auf die beiden Funde keinen Fehler mehr leisten durften.

Zur Abklärung weiterer Indizien machte ich mich auf den Weg, im untersten Geschoss des Präsidiums persönlich mit Carlo Seitz zu sprechen. Ich nahm an, ihn zu dieser frühen Stunde dort anzutreffen, da er die Nacht nicht in der Wahner Heide, sondern mit der Leiche in der Gerichtsmedizin verbracht hatte. Auch er war im Februar auf der Karnevalsveranstaltung dabei gewesen und wir kannten uns flüchtig. Ich stellte fest, dass er ohne seinen voluminösen Gesamtkörperkapuzenanzug, den er bei Einsätzen trug, verdammt gut aussah. Gestern und zum damaligen Zeitpunkt hatte ich nicht darauf geachtet. Auf der Weiberfastnachtsfeier hatte er seine Freundin im Schlepptau. Sie war unvergleichlich schön und trug ein sehr gewagtes Kostüm, das ihren Rücken bis zur Pofalte freilegte und die anwesenden Männer unruhig hatte werden lassen. Carlo konnte einem nur leidtun, weil er jeden der unzähligen Flirts seiner Lebensgefährtin an diesem Abend mit ansehen musste – bis hin zum finalen Kuss mit einem Kollegen von der Sitte, mit dem sie dann auf Nimmerwiedersehen verschwand.

„Hi Sara, schön Dich zu sehen.“

„Hallo Carlo. Sorry, wenn ich störe. Frank schickt mich. Er wollte wissen, ob Du schon irgendwas Verwertbares oder Ergebnisse hast.“

Seine Miene verfinsterte sich sofort und er wurde ernst: „Nein, nicht wirklich. Wir haben nur wenige Anhaltspunkte, die muss ich aber noch auswerten und zusammenfassen. Allerdings sind wir sehr sicher, dass es sich bei der Toten um Lena Grimm handelt. Die Beschreibung passt zu 99%.“

Er hatte zwar zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts Konkretes für mich, aber er lud mich ein, gelegentlich abends ein Bier mit ihm zu trinken. Vielleicht ließe sich dann über das ein oder andere reden. Er zwinkerte mir zu und lächelte dabei schelmisch. Seine Einladung überraschte mich. Und noch mehr, dass ich ihm zusagte. Einfach so.

Auch ohne den erhofften Durchbruch machte ich mich sofort an die Überprüfung der alten Vermisstenfälle und konnte dabei zumindest eine unübersehbare örtliche Verbindung zu unserem Knochenfund „Heidi“ herstellen. Das war nicht schwer und das Auffallendste an den beiden Frauen. Zunächst ließ ich das Papier auf mich wirken und starrte die wenigen Informationen an, die wir hatten. Der Fundort ihrer Knochen lag zwar genau entgegengesetzt, aber Luftlinie nur etwa 1800 Meter entfernt von dem Parkplatz, auf dem der Mini von Lena Grimm verlassen gestanden hatte. Also in etwa dort, wo man gestern die Leiche fand. Mir fehlte im Moment die Phantasie, die wenigen vorhandenen Spuren weiterbringend zu lesen und deren Schnittmenge zu ermitteln. Ich sollte auf keinen Fall anfangen zu spekulieren – nicht zu diesem frühen Zeitpunkt. Wahrscheinlich würden wir viele Puzzlestücke sammeln und sie mit Weitsicht und der nötigen Geduld zusammenführen müssen. Meine Gedanken sollten neutral bleiben, um Fakten und Annahmen nicht zu vermischen. Im Fall „Heidi“ hatte der Bestatter mir telefonisch bestätigt, dass er anhand der Becken- und der Größe der gefundenen Fingerknochen das Geschlecht eindeutig als weiblich hatte festlegen können. Aufgrund der vor der Verbrennung gut erhaltenen Qualität ihrer Knochen wusste man, dass der Körper der Frau komplett ausgebildet war und sie älter gewesen sein musste. Sprach das für ein sexuell geprägtes Verbrechen? Wohl eher nicht! Allerdings hatte Frank mal in einer internen Besprechung darauf hingewiesen, dass an sexuellen Phantasien nichts auszuschließen sei. Sexualstraftäter ließen keine Perversion aus, ihren Trieb auszuleben und eine Befriedigung herbeizuführen. Das Alter ihrer Opfer spielte dabei nicht selten überhaupt keine Rolle oder es war eben genau der Kick, den sie suchten.

Die wenigen, in der näheren Umgebung gefundenen Kleidungsreste, oder besser gesagt, die vergammelten Fetzen aus Wolle, die davon übriggeblieben waren, schienen von guter Qualität gewesen zu sein. Vielleicht Cashmere. Es war aber nicht sicher, ob sie zur Leiche gehörten, denn eigentlich verrotten Naturfasern relativ schnell. Der Ehering war aus Platin und hatte auf seiner Kante insgesamt 26 Diamanten – ein sehr hochwertiges Stück und äußerst kostbar. Das sah ich, ohne dass ich das beauftragte Gutachten von einem Juwelier vorliegen hatte. Sollte es sich also um ein Verbrechen handeln, konnte ein Raubmord ausgeschlossen werden. Kenner jedenfalls hätten den Ring mitgenommen und notfalls dafür den tragenden Finger geopfert. Auf den zweiten Blick gab es außer dem Fundort keine weiteren erkennbaren Parallelen zwischen dem ersten Fund und Lena Grimm. Dass man auch bei ihr keine Handtasche gefunden hatte, war wohl eher Zufall. Vielleicht ließe sich aus dem privaten Umfeld von Frau Grimm und der geplanten Befragung ihres Vorgesetzten im Fitness-Studio etwas Besseres herleiten. Dafür musste allerdings unzweifelhaft feststehen, dass es sich um Frau Grimm handelt. Meine Aufgabe würde jetzt darin bestehen, Oliver Neyer über die Notwendigkeit seiner Aussage zu informieren und ihn zu bitten, die Leiche in Köln zu identifizieren. Dadurch erhofften wir uns, seine inoffizielle Vernehmung so unauffällig wie möglich aussehen zu lassen und keinerlei Formalien eingehen zu müssen. Denn für eine formelle Befragung gab es bislang keinen ausreichenden Anfangsverdacht. Spät am Nachmittag informierte mich Andreas, dass er und Frank mit einigen Kollegen noch mal zum Schauplatz fahren würden, um mit der Hundertschaft aus Brühl eine Abschlussbesprechung zu machen, bevor alle wieder abziehen würden und das gesperrte Gebiet freigegeben werden konnte. So nahm ich mir vor, zunächst die Stellung im Präsidium zu halten und weiter zu recherchieren.

Um mir für den Abend die nötige Vitalität zu holen, ging ich nach unten und stöberte durch die Abendkarte unserer Kantine. Sabrina lächelte mich unter ihrer weißen Haube an und empfahl mir das rheinische Traditionsgericht schlechthin: Sauerbraten. Da er nicht vom Pferd war, nahm ich eine Portion und setzte mich an den Fensterplatz, der die letzten Sonnenstrahlen für heute durchscheinen ließ. Hinter der Scheibe wurde es mir wohlig warm und mein Abendessen schmeckte köstlich. Was für ein Glück wir mit unserer Firmenkantine hatten. Das Essen war immer frisch, abwechslungsreich und lecker. Und ich hatte einen guten Platz erwischt, weiter über unsere beiden Toten nachzudenken.

SIEBZEHN

Ich hatte mir noch einen Espresso gegönnt und kramte in jedem Winkel meines Hirns nach möglichen Verbindungen der beiden Frauen. „Heidi“ war aufgrund der aktuellen Entwicklungen zwangsläufig zunächst in den Hintergrund gerückt, während die tote Lena Grimm natürlich sehr präsent war. Beide gaben mir nicht die Ruhe, hier unten weiter zu grübeln und doch zu keinem Ergebnis zu gelangen. Wie ein magnetischer Gegenpol zog mich mein Schreibtisch zurück. Ein eventueller Zusammenhang der beiden Funde schwang logischerweise mit und hatte das komplette Dezernat mobilisiert, noch einmal nach Spuren zu suchen. Die jüngste Leiche stand ab jetzt im Mittelpunkt und forderte die uneingeschränkte Aufmerksamkeit aller. Aufgrund meiner Funktion, war meine Anwesenheit an den Orten der Geschehnisse nicht erforderlich, was ich einerseits beruhigend empfand, da mir einiges an grausamen Wahrheiten erspart blieb. Andererseits nahm es mir in meinen Gedanken jede Realität und meine Intuition war auf nicht immer steuerbare Phantasien reduziert. So genoss ich diesen eher seltenen Moment der Einsamkeit im Büro und widmete mich ganz meiner Aufgabe im Innendienst, während die anderen draußen am Schauplatz waren. Beinahe in Echtzeit erreichten mich Notizen und Informationen von dort, die ich überprüfen sollte.

Die Beschreibung des Opfers passte tatsächlich sehr konkret zu Lena Grimm. Aktuelle Fotos gaben das wieder und hätten eigentlich für die Wiedererkennung ausreichen können. Aber das Gesetz sah entweder die Identifikation durch eine volljährige Person oder die DNA der Leiche vor. Es wäre für uns ein leichtes gewesen, ihren genetischen Fingerabdruck zu erheben. Wir hätten nur die Haar- oder Zahnbürste aus ihrer Wohnung auswerten lassen müssen. Aber Andreas und Frank wollten die Konfrontation mit Herrn Neyer, um sein Verhalten zu bewerten und es mit in die Untersuchungen einfließen zu lassen. Die Aufnahmen, die ich von meinem Smartphone inzwischen auf den PC geladen hatte, zeigten Lena Grimm kurz vor ihrer geplanten Reise. Sie sah strahlend schön aus und wirkte sehr glücklich. Die Bilder vom Fundort schafften es nicht, diese Schönheit zu verbergen. Wenn man die aktuellen körperlichen Spuren ihrer Verwesung ausblendete, konnte man selbst an dem geschundenen Körper ihr einstmals gutes Aussehen erahnen. Sie musste über einen hervorragenden Body-Mass-Index-Wert verfügt haben, der mich neidisch werden ließ. Ihr Hobby war offensichtlich gleichzeitig ihre Berufung gewesen. Sport war ihr Leben und ihre Leidenschaft gewesen.

Der Geschäftsführer des Studios, in dem sie bis zu ihrem Verschwinden nebenbei gearbeitet und Fitness- sowie Gymnastikkurse gegeben hatte, war noch nicht erreicht worden. Wahrscheinlich mied er den polizeilichen Kontakt, seit seinem Telefonat mit dem Beamten Börne. Aber auf solche Befindlichkeiten konnte ich keine Rücksicht nehmen. Der Besuch dort stand ganz oben auf meiner Liste, denn es lag tatsächlich nur wenige Meter von meinem Haus entfernt. Alleine dadurch war die Gefahr auch für mich plötzlich greifbar nah und es war nicht auszuschließen, dass wir es mit einem Mörder zu tun hatten, der sich Frauen einfach und wahllos von der Straße holte. Ich nahm mir vor, Herrn Neyer am nächsten Vormittag aufzusuchen und ihn zu bitten, noch am selben Tag in die Pathologie des Präsidiums nach Kalk zu kommen, um die Leiche als Lena Grimm zu identifizieren. Die Verwesung hatte noch nicht zur Unkenntlichkeit geführt. Allerdings war ihr Gesicht sehr stark angeschwollen und hatte deutlich von dessen Ursprungsform verloren. Die Augen waren nur noch schmale Schlitze in einem unstrukturierten Brei aus roten Blasen. Markante Gesichtszüge waren nicht mehr auszumachen und das Profil wirkte verzerrt. Aber es gab genügend andere Merkmale, sie zu identifizieren. Sie hatte zum Bespiel eine Besonderheit am Unterbauch, die so vermutlich einzigartig war. Kannte man sie unbekleidet, war sie genau daran wiederzuerkennen und könnte identifiziert werden. Dafür müsste der Beschauer allerdings zugeben, dass er diese Besonderheit kannte. Eine heikle Situation, auf die wir es morgen ankommen lassen mussten.

ACHTZEHN

Die Sonne weckte mich am nächsten Morgen, als sich ihre Strahlen durch die kleinen Löcher der Rollläden quetschten und kitzelnd in meine Nase eindrangen. Der folgende Niesanfall kam einem Wecker gleich und ließ mich innerhalb von Sekunden senkrecht im Bett sitzen. 07.13 Uhr leuchteten mich die roten Ziffern vorwurfsvoll an und mahnten mich, nicht wieder einzuschlafen. Auf dem Bett verteilt lagen mein Handy, mein iPad und verschiedene Unterlagen aus unseren Akten, die ich mir kopiert und mit nach Hause genommen hatte. Mittendrin ich – genauso zerknittert, wie ein Teil der Dokumente. Da gestern Abend alle meine Kollegen im Einsatz waren, hatte ich mich in meinem Büro schnell einsam gefühlt. Und nachdem die Dämmerung eingesetzt hatte, hielt mich dort nichts mehr. Ich hatte eingepackt und mich zu Hause meiner Arbeit gewidmet. Darüber war ich im Laufe der Nacht offensichtlich eingeschlafen. Nicht nur ich, sondern auch die Unterlagen, auf denen ich mich zum Teil breitgemacht hatte, sahen ziemlich mitgenommen aus. Ihre Falten hatten sich in mein Gesicht gezeichnet, und umgekehrt. Bis ich los musste, war noch genügend Zeit, meine mit ein wenig Hyaluron aus der Tube zu glätten und mittels Frühsport sämtliche Lebensgeister zu aktivieren. Ich entschied mich zu einer spontanen Joggingrunde und sprang, so wie ich war, in meine Sportsachen. Auf dem Weg in die Küche schlüpfte ich in meine fast neuen Laufschuhe und holte mir eine kleine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Mein Smartphone nahm ich mit, um mich mit Musik von der sportlichen Anstrengung auf nüchternen Magen abzulenken und die Uhrzeit im Auge zu behalten. Unterwegs machte ich einen Stopp am Sportstudio, um zu schauen, wann es heute öffnen würde. Wie sich herausstellte, um 10.00 Uhr. Also würde ich erst ins Büro fahren und von dort aus anrufen, um einen Termin mit Herrn Neyer zu vereinbaren. Ich erreichte ihn erst am späten Vormittag und machte mich gegen 11.30 Uhr wieder auf den Weg, um ihn um 12.00 Uhr in seinem Sportclub zu treffen. Dann sei dort in der Regel am wenigsten los und er könnte sich etwas Zeit für mich nehmen, meinte er. Wie schön.

„Halloooo, Frau Lange. Holla, so hatte ich Sie mir gar nicht vorgestellt!!“, begrüßte er mich.

Seine Bemerkung war so plakativ, dass ich innerlich meine Augen verdrehte und nach außen so tat, als hätte er nichts gesagt.

„Guten Tag, Herr Neyer. Ich komme von der Kriminalpolizei Köln und arbeite für das Dezernat XI. Ich bin hier, weil wir Ihre Hilfe benötigen. Wir haben die sterblichen Überreste einer weiblichen Person in der Wahner Heide gefunden.“

Genau genommen waren es ja zwei – aber das verschwieg ich ihm noch. Hierbei könnte das Täterwissen in weiteren Vernehmungen eine wesentliche Rolle spielen, hatte mir Andreas eingebläut. Jetzt bloß nichts vermasseln.

„Sie entspricht im Wesentlichen der Beschreibung von Lena Grimm und ist vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen“, klärte ich ihn auf und fuhr fort: „Wir möchten Sie bitten, noch heute aufs Präsidium zu kommen, um eine Identifizierung vorzunehmen oder im Umkehrschluss eben auszuschließen, dass es Frau Grimm ist.“

Er grinste unverschämt und der Situation in keiner Weise angemessen.

„Das mache ich gerne, Frau Lange, wenn Sie mir auch einen Gefallen tun und mit mir danach zum Essen ausgehen, damit sich die Fahrt nach Köln für mich auch lohnt.“

Jetzt verdrehte ich sichtbar die Augen in alle Richtungen und strengte mich nicht mehr an, meine angewiderte Haltung ihm gegenüber einigermaßen zu verbergen.

„Das tue ich ganz sicher nicht. Also lassen Sie das bitte, Herr Neyer.“ Ich war erstaunt über meine autoritäre Haltung und legte eine Pause ein, damit die Peinlichkeit auf ihn wirken konnte. „Hier ist unsere Adresse. Ich gehe davon aus, dass Sie um 17.00 Uhr dort sein werden – ansonsten müssten wir Sie vorladen.“ Oh Gott, stimmte das überhaupt? Ich sollte mich mit meinen Äußerungen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, sonst musste ich nachher doch noch mit ihm ausgehen – als eine Art Schweigegeld seinerseits. Bitte nein!

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte ich mich um und verließ das Studio. Dieser aufgeblasene Widerling. Mir war jetzt schon klar, dass ich auf ein Wiedersehen mit dem Typen gut verzichten konnte und hoffte, dass einer meiner beiden Chefs mit Herrn Neyer in die Kühlkammer gehen würde, wo Lena Grimm bei zwei Grad bis zur Freigabe der Leiche gekühlt gehalten wurde.

Als ich in Köln ankam, lief bereits die erste Pressekonferenz zu dem aktuellen Fall und unser diensthabender Pressesprecher informierte die vier anwesenden Journalisten der lokalen Zeitungen über den Fund der Leiche. Ich blieb im Eingang stehen und hörte zu:

„Wir stehen erst am Anfang unserer Arbeit und hoffen, dass wir in den nächsten Tagen mehr Informationen liefern können, als aktuell. Die Tote konnte noch nicht eindeutig identifiziert werden. Wir versuchen diese aber schnellstmöglich herbeizuführen und gehen davon aus, dass uns eine Person aus ihrem Umfeld hierbei unterstützen kann. Ich bin zuversichtlich, dass wir noch heute einen Namen veröffentlichen können.“

„Handelt es sich bei dieser Person um einen Tatverdächtigen?“, wollte einer der Journalisten wissen.

Der Pressesprecher schaute um Rat suchend zu Andreas, der sein Mikrofon nervös richtete und meinte: „Nein, wohl eher nicht.“

Ich wandte mich für einen Moment vom Geschehen ab, weil mein Handy brummte und ich den vernichtenden Blick unseres Pressesprechers erntete, bevor ich die Stummtaste drücken konnte. Die Mailbox würde ich später abhören. Die Versammlung dauerte alles in allem nicht länger als sechs Minuten, weil niemand weitere Fragen hatte und nur ein vorgefertigter Text verlesen wurde, der den Teilnehmern offensichtlich für ihre eigene Berichterstattung genügte. Der Einfachheit halber und um Offenheit zu dokumentieren, stellte unsere Presseabteilung den Kurzbericht als PDF-Datei auch auf unsere Internetseite. Seit der besagten Silvesternacht im vergangenen Jahr gaben wir ständig und beinahe unaufgefordert Informationen heraus. Ich hatte den Rest der Pressekonferenz stehend vom Türeingang aus weiterverfolgt und wartete auf meine Kollegen, um sie über meinen Besuch im Fitnessstudio und den seltsamen Herrn Neyer zu informieren.

„Sara, wenn er hier ist, bringst Du ihn bitte in unseren kleinen Verhörraum und unterhältst Dich ein paar Minuten belanglos mit ihm. Danach gehst Du raus und lässt ihn alleine. Wir beobachten ihn währenddessen von hier aus.“

Was wollten die beiden damit bezwecken?, dachte ich kurz, aber bevor ich die Frage aussprechen konnte, waren sie schon wieder aus dem Pressesaal verschwunden. Ich eilte hinterher, um im Aufzug noch ein paar Informationen zu erhaschen.

„Wir rufen gleich die Kollegen zusammen und gehen alles gemeinsam durch. Anschließend müsste der Einsatzplan fürs Wochenende erstellt werden“, sagte Andreas. „Sara, machst Du bitte eine Übersicht, wer wann Dienst hat und wen wir wie einteilen können? Wir brauchen jede Kraft. Jede!“ Gerade als ich die beiden fragen wollte, ob wir zusammen essen gehen, öffnete sich die Fahrstuhltür und sie ging im nächsten Augenblick auch schon wieder zu. Ich blieb allein und mit meinen Fragen zurück. Also machte ich mich ohne meine Kollegen auf den Weg in die Kantine und aß einen üppigen grünen Salat mit Thunfisch. Auf dem Rückweg hörte ich meine Mailbox ab. Den Anruf von eben hatte ich beinahe schon wieder vergessen. Es sprach Herr Neyer, der sich für sein Verhalten am Vormittag entschuldigte und mir mitteilte, dass er pünktlich zum Termin in Köln sein würde. Gut so.

Erleichtert schaute ich in der Pathologie vorbei, in der Hoffnung, Carlo zu treffen und vielleicht sogar schon den vorläufigen Obduktionsbericht mitzunehmen. Carlo war nicht zu sehen, aber sein Kollege, Stefan Oberste, überließ mir zunächst das elf Seiten umfassende Statement über den aktuellen Fund in einem nicht verschlossenen Umschlag, auf dem „Streng vertraulich“ vermerkt war. Wie paradox. Er bat mich, einen Augenblick zu warten, weil ich ihm die Entgegennahme noch quittieren müsse. Während er die dafür notwendige Bescheinigung holte, konnte ich nicht widerstehen und warf noch vor Ort einen heimlichen Blick ins Innere der Akte. Das Wichtigste versuchte ich mir einzuprägen. Aber gerade als ich die Hinweise auf die Todesursache gefunden hatte, kam Stefan Oberste wieder und erbat den Umschlag von mir zurück.

„Es tut mir leid. Ich darf Ihnen den Bericht nicht aushändigen. Der Chef meint, der Empfänger des Dokumentes muss einen polizeilichen Dienstgrad nachweisen können oder sich wenigstens in einer Ausbildung zum Polizeibeamten befinden.“

Wollte er mich verarschen? Das war ja kaum zu glauben! So viel Sturheit hatte ich Carlo gar nicht zugetraut. Oder war das tatsächlich eine Vorschrift? Ehrlich gesagt, kannte ich die Regel nicht. Da ich es nicht besser wusste, reichte ich ihm den Umschlag zurück. Ich ärgerte mich mehr, dass Carlo sich nicht einmal bemüht hatte, für diese Information persönlich aus seinem Büro zu kommen. Es kränkte mich und ließ mich an meiner Gefühlslage leise zweifeln. Ich wollte mich auf keinen Fall wieder in solch einen Macho verlieben, der seine Macht über mich und meine Gefühle ausüben wollte. Lieber würde ich das Ganze im Keim ersticken und im Zweifel für den Rest meines Lebens Single bleiben. Ich schüttelte mich und die Gedanken ab. Sollte er wirklich Spielchen mit mir spielen wollen, sollte er gar nicht so viel Raum dafür bekommen. Also Blick nach vorne und das Augenmerk auf das Wesentliche richten, nämlich die beiden toten Frauen.

Ein paar Fakten des Berichts hatte ich versucht, mir zu merken. Geschrieben stand, dass die jetzt gefundene Leiche zwar minimale Missbrauchsspuren aufwies, das Opfer aber weder vor, noch nach seinem Versterben vergewaltigt worden war. Vom Rest verstand ich nicht viel, geschweige denn, konnte ich mit den lateinischen Begriffen etwas anfangen. Fachchinesisch halt. Manchmal fragte ich mich, wie man mich mit so wenigen kriminalistischen Grundlagen eingestellt haben konnte. Der einzige Bezug, den ich zu Recht und Gesetz herleiten konnte, war meine Ausbildung zur Anwaltsgehilfin, die ich vor fast 25 Jahren absolviert hatte. Einiges, wenn nicht sogar das meiste von dem, was ich mal mühsam gelernt hatte, dürfte demnach überholt sein oder ich es ohnehin vergessen haben. Aber meine Neugierde für diesen Berufszweig hatte meinen Ehrgeiz entwickelt und vorangetrieben, sodass ich heute hier saß. Und zumindest ich war mir sicher, meinen Weg zu machen. Ständig gingen mir Szenarien durch den Kopf, wie ich in meiner imaginären Welt zur Aufklärung beitragen würde. Ein wenig naiver Größenwahn schwang wohl immer mit und trieb mich an.

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9783961360659
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