Kitabı oku: «Am Ende fügt sich alles», sayfa 2

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In den darauffolgenden Wochen lud mich Walter nicht mehr so oft zu sich nach Hause ein. Vielleicht zwei, drei Mal, ich weiß es nicht mehr, aber ich fühlte mich dort nicht mehr wohl. Den Vater und Walters Bruder Peter sah ich nie wieder, die Mutter grüßte mich mit flüchtiger Unfreundlichkeit. Und sowohl Walter als auch ich sahen ein, dass hier etwas unwiderruflich vorbei war. Im Nachhinein glaube ich jedoch, dass wir damals gar nicht ermessen konnten, was an jenem Tag wirklich geschehen war, und auch nach all den Jahren fällt es mir schwer, unsere Gefühle zu verstehen. Eines weiß ich jetzt aber sicher: In mein unbekümmertes, kindliches Leben hatte sich die unangenehme, ja, dunkle Erkenntnis geschlichen, dass nicht alles gut ist.

In der Schule blieb anscheinend fast alles beim Alten. Ich schrieb weiterhin von Walter ab, und er kam unter der schützenden Hand meiner Freundschaft unbelästigt über die Tage. Aber eigentlich war das nicht mehr wirklich so. Man hatte sich langsam an Walter gewöhnt. Es gab kaum noch jemanden, der es lustig gefunden hätte, ihn zu hänseln, und als das Schuljahr sich langsam dem Ende zu neigte, sah ich seine magere, schlecht gekleidete Gestalt manchmal mit anderen in der Gruppe stehen; ganz so, als gehörte er dazu. Ich musste mir eingestehen, dass wir irgendwann nicht mehr unzertrennlich waren. Unsere Wege im Schulhof führten immer öfter in verschiedene Richtungen, und ich ertappte mich dabei, wie ich anfing, ihn mit Blicken zu verfolgen. Manchmal lief ich in seiner Nähe vorbei, in der Hoffnung, den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzuschnappen, wenn er sich unterhielt. Walter änderte sein Verhalten mir gegenüber, er wirkte stärker und nicht mehr so eckig, mit neuem Selbstbewusstsein erfüllt. Dann wich er mir absichtlich aus. Es kam auch vor, dass er einfach durch mich hindurch sah, mich nicht wahrnahm, mir nicht zuhörte. Aber nicht nur ich suchte verstärkt seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, seltsamerweise wurde er auch von anderen Klassenkameraden häufiger angesprochen. Er lachte mit ihnen, anders, als er mit mir gelacht hatte. Ich fühlte mich betrogen. Was wussten die anderen schon über sein Leben, über seinen kranken Bruder oder über das Turmzimmer? Er hatte es schließlich mir gezeigt. Ich war sein Freund!

Es gab Tage, da interessierte es mich nur noch, ob und wann Walter mich wieder zu sich nach Hause einladen würde. Ich verstand diese neue Situation nicht mehr, Warum verhielt er sich so abweisend, so unnahbar? Und wieso bestimmte er das? Zum Glück saßen wir im Klassenzimmer nebeneinander, und ich nutzte die Zeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen, zwanglos und locker wie immer. Aber auch da wollte er nicht mehr so richtig, und schließlich setzte er sich sogar weg. Ich blieb alleine, sprachlos und enttäuscht.

Langsam wurde ich wütend. Ich sann auf Rache und strafte Walter von nun an mit Verachtung, tat so, als wäre er Luft für mich. Und das ging eine Zeitlang. Ich rempelte ihn sogar, unter den verwunderten Blicken meine Mitschüler, einmal an. Ich machte mir den Spaß, Schlamm in seinen Ranzen zu füllen. Doch Walter reagierte nicht. Schließlich tat ich etwas sehr Schlimmes: Ich erzählte es überall herum. Ich machte mich lustig über den kleinen verwachsenen Bruder in dem gruseligen Zimmer. Ich beschrieb das Gestänge und die Kurbeln und das komische Krankenbett. Ich machte mich lustig über das platte Gesicht, das zufriedene Sabbern und beschrieb genüsslich das anhaltende, schrille Wimmern des zuckenden Wesens. Ich lästerte über den geisterhaften Bruder und die hässliche Mutter und ihr verpickeltes Gesicht. Ich beschrieb in allen Einzelheiten die kleine Höhle unter dem Tisch und entlarvte sie in ihrer ganzen einfältigen Kindlichkeit. Ich genoss das etwas betretene Gelächter meiner Zuhörer. Ich lachte, weil ich Walter verletzen konnte, weil ich mich befreit fühlen wollte. Aber in mir loderte nur der verzweifelte Wunsch, zurückkehren zu dürfen in die Wärme einer Freundschaft, von der ich wusste, dass sie nie mehr sein würde.

Am letzten Schultag stürmte Walter in der großen Pause auf mich zu. Im Schlepptau hatte er drei oder vier seiner neuen Kumpels. Sie alle vermittelten den Eindruck von Ernst und Entschlossenheit. Mir war mulmig zumute, und gleichzeitig, für einen Sekundenbruchteil, wurde mir etwas schmerzlich klar: Walter war der Anführer der Gruppe. Mein ungläubiges Staunen fand ein jähes Ende, als mich der erste Faustschlag ins Gesicht traf. Es folgten weitere Schläge, Tritte, und ich war auf einmal hilflos einer furchtbaren Kraft ausgeliefert. Automatisch fing ich an, mich zu wehren, zurückzuschlagen. Wie von fern hörte ich das Gejohle der Schüler, die mittlerweile einen Kreis um uns gebildet hatten. Walter nahm mich in den Schwitzkasten. Seine Nase blutete. Ich sah die großen, roten Tropfen auf den Asphalt des Hofes platschen. Dann fiel ich, und Walter landete auf mir. Er schnürte mir die Luft ab. Japsend versuchte ich, mich zu befreien, aber ich schaffte es nicht. Ich hatte Angst und bot all meine Kräfte auf. Vergeblich. Er hatte mich fest im Griff, und ich schlug mit der flachen Hand auf den Boden. Ich wollte mich ergeben, wollte, dass es aufhört, Walters Blut ganz dicht vor mir. Er stieß mich förmlich mit der Nase hinein, ich hörte ihn keuchen, sein Unterarm bohrte sich erbarmungslos unter mein Kinn, und dann plötzlich ließ er los. Er stand auf, drehte sich einfach um und bahnte sich seinen Weg durch die Menge Schaulustiger.

Walter wechselte im nächsten Jahr die Schule und verschwand aus meinem Leben.

Kapitel 5: Südspanien, 2009

„Lass mich einmal nachdenken“, sagt Adriana. Sie sieht aus dem Fenster. Draußen über dem Meer haben sich, unüblich für diese Jahreszeit, einige dunkle Wolken gebildet.

„Ich glaube, was ich da vor mir sehe, sind Dielen.“

„Holzdielen?“, frage ich.

„Ja, schmal, alt und nicht mehr ganz poliert. Sie waren rau. Ich spielte irgendwas. Auf jeden Fall war es mit irgendwelchen kleinen Figuren.“

Adriana konzentriert sich. Schiebt mit der Fingerkuppe ein paar Krümel auf ihrem Teller zusammen. Es ist Sonntagmorgen, wir trinken Kaffee und essen dazu Brötchenhälften mit Olivenöl.

„Komisch, da ist vorher nichts. So sehr ich mich auch anstrenge, eine frühere Erinnerung aus meinem Gedächtnis zu holen, es gelingt mir nicht. Es ist fast so, als wäre man urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Oder wäre von einem anderen, dunklen Ort ohne Zeit in ein bewusstes Sein gebeamt worden.“

„Das stimmt“, sage ich. „Weißt du noch mehr?“

„Ja, ich weiß zwar nicht, ob es derselbe Tag war, aber meine Eltern saßen an einem runden Tisch. Da waren auch noch andere Leute. Ich kroch unter die schwere Tischdecke, die bis auf den Boden reichte und war dann zwischen den ganzen Beinen und Pantoffeln. Es war heiß. In der Mitte stand ein rundes Kohleöfchen. Dann zog mich jemand unsanft hervor und ich spüre bis heute, dass ich sehr verschreckt war, dass dieser Ort unter dem Tisch böse war. Voller Ungeheuer.“

„Hast du dich verbrannt?“, frage ich.

„Auf jeden Fall haben noch Jahre später alle in meiner Familie darüber gelacht. Warum reden wir überhaupt über erste Erinnerungen?“

„Ist das so unüblich?“, frage ich.

„Es häuft sich. Gestern gibst du mir Geschichten über zwei Leute zu lesen, und ich fand die auch ganz interessant. Diese Eva, das kann ich noch nachvollziehen: Unsicherheit, sexuelles Erwachen, pubertäres Imponiergehabe. Nett. Aber dieser Walter, geht es um den Verlust einer Freundschaft, um Schuld?“

„Ich weiß es nicht so genau“, sage ich. „Es geht wahrscheinlich um Verrat. Und es geht um Eigenschaften, die ich an mir nicht mag.“

„Aber vielleicht möchtest du dir auch nur selbst verzeihen, und du erteilst dir Absolution, indem du es aufschreibst und darüber reflektierst, um in Zukunft ein besserer Mensch zu sein.“

„Dein Scharfsinn ist eine Eigenschaft, die ich an dir liebe.“

„Eine von meinen vielen tollen Eigenschaften“, sagt sie.

„Selbstverständlich“, sage ich.

„Also, warum erste Erinnerungen?"

„Ich versuche, mich in dem Wust von Gedanken zurechtzufinden, in denen ich gerade wühle. Ich versetze mich in die Vergangenheit und beschreibe Ereignisse, von denen ich glaube, dass sie bedeutsam sein könnten.“

„Bedeutsam für wen?“

„Für mich. Für mein Leben.“

Adriana schweigt mich an. Zieht lediglich die Augenbrauen in die Höhe. Die Sonne fällt direkt auf unseren Tisch. Die Wolken werden nicht näher kommen.

„Verstehst du? Ich spüre mich irgendwie auf.“

„Aha!“, sagt sie.

„Aha, was?“

„Verwechselst du da nicht bedeutsam mit interessant? Was dir bedeutsam vorkommen mag, ist für andere vielleicht stinkend langweilig.“

„Du meinst die Leser?“

„Natürlich meine ich die Leser. Oder soll es keine geben?“

„So genau habe ich mir das noch nicht überlegt. Im Augenblick ist das eher so als würde ich in mich hineinschauen. Ich versuche das dann zu beschreiben.“

Adriana nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. Sie lässt sich Zeit. Überlegt.

„Im Ernst, du musst dich entscheiden, für wen du schreibst, und ich will offen zu dir sein, ich hasse Menschen, die mir ihre Selbstfindung aufdrängen wollen. Es strengt mich zu sehr an, dauernd Interesse heucheln zu müssen.“

„Wow, du kannst einen wirklich ermutigen“, sage ich.

Adriana lächelt jetzt irgendwie liebevoll, und ich ärgere mich.

„Im Grunde ist es doch immer so, dass man sich ein Publikum vorstellt“, sage ich.

„Wirklich? Ist es nicht so, dass manch einer seinen Überzeugungen oder Taten mit der Feststellung Berechtigung erteilt, er tue das nur für sich, um jede mögliche Kritik von vorne herein zu entschärfen?“, fragt sie.

„Vermutlich.“

„Umso mehr sollte man sich immer im Klaren darüber sein, dass wichtig ist, was die Story voranbringt. Zum Beispiel die Kontinuität. Der Faden.“

„Frei nach Hemingway?“, sage ich.

„Wer hätte gedacht, dass auch du über eine gewisse Bildung verfügst. Jetzt erzähl schon deine erste Erinnerung“, sagt Adriana.

„Auch ich kroch auf dem Boden herum. Allerdings war es ein endlos langer Flur, so kam er mir jedenfalls vor. Ich spielte mit Murmeln. Weißt du noch, diese Glasmurmeln mit solchen farbigen Spiralen darin? Sie waren unterschiedlich groß. Was ich heute noch deutlich in mir vernehme, ist das Geräusch der Murmeln, die an der Fußleiste entlang über den Flur rollen. Das ist Wahnsinn: Ich höre tatsächlich noch, wie sie von mir wegkullern, leiser werden, der Ton immer heller, bis er plötzlich stoppt und ich noch eine Murmel hinterherschicke. Ich kroch durch den Flur, es war das erste Apartment meiner Eltern in Mexico City. Vorbei an zwei offenen Türen. Da war wohl ein Arbeitszimmer. Vom anderen Zimmer weiß ich nichts mehr. Der Flur mündete ins Wohnzimmer, und das kann ich genau beschreiben. Manchmal hob mich meine Mutter auf ein Sofa, das vor dem Fenster stand. Das Sofa war grün. Ich schaute genau auf die Kreuzung Insurgentes und Taxqueña und auf die Bushaltestelle, und es ist so erschreckend klar, dass ich heute Nacht fürchtete, ich könnte durch die schiere Kraft meiner Vorstellung in jene Zeit zurückgeschleudert werden und alles beginne wieder von dort an. Immer wieder.“

„Und wäre das so schlimm?“, fragt Adriana.

„Wenn ich dann wüsste, dass ich alles schon einmal durchlebt habe, wäre es phantastisch. Stell dir mal die Möglichkeiten vor. Die Fehler, die ich vermeiden könnte. Aber ahnungslos? Das Leben noch einmal?“

„Für dich wäre es ja immer das erste Mal“, sagt Adriana.

„Stimmt. Warum habe ich dann heute Nacht diese Furcht empfunden?“, sage ich.

„Vielleicht hattest du Angst, ausgelöscht zu werden, zurückgeführt in einen sehr elementaren Zustand. Das wäre wie der Tod, denn von dir bliebe nichts, du wärst auf diesem Sofa mit Blick auf diese Kreuzung wieder ein anderer.“

„Ja“, sage ich.

„Und weiter?“, fragt sie.

„Es sind wirklich meine ersten Erinnerungen, Ich muss drei oder vier gewesen sein. Da waren etwas später noch die Spaziergänge in einem kleinen Park vor dem Häuserblock. Nichts Besonderes: Ein grüner Fleck. Eingeklemmt zwischen drei großen Straßen. Meine Mutter ließ mich nicht aus den Augen. Um uns herum floss dieser unaufhörliche, laute Verkehr. An der Bushaltestelle gab es Stände, die gekochte Maiskolben anboten oder Gurkenstreifen mit Chilepulver. Ich weiß noch, dass ich immer ein Wassereis haben wollte, aber nie durfte. Und da war noch der Affe und die Hand von Alvaro Obregón.“

„Das musst du mir aber näher erklären“, sagt Adriana und gießt uns noch einen Kaffee ein.

„Der Reihe nach. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem winzigen Vorgarten stand ein runder Affenkäfig, und an manchen Tagen saß dort sogar einer drin. Es war ein kleines Äffchen, ein Kapuzineraffe. Er war zweifarbig. Vorne und um das Köpfchen herum gelb und am Hintern schwarz. Wenn ich Glück hatte, fraß er gerade ein Stück Obst. Ich konnte mich nicht sattsehen und fand es zum Lachen, wenn der Affe wie irrsinnig schrie und in dem Käfig hin und her turnte.“

„Das fandest du schön?“, fragt Adriana.

„Ja.“

„Und die Hand?“

„Es gab in der Nähe ein riesiges Monument mit einem gläsernen Kasten, in dem die verschrumpelte und abgeschossene Hand von Alvaro Obregón ausgestellt wurde.“

„Wer zum Teufel ist Alvaro Obregón?“

„Ein mexikanischer Präsident in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Man errichtete das Monument an dem Ort, wo er ermordet wurde.“

„Und dabei die Hand verlor?“, fragt Adriana.

„Nein, die Hand verlor er Jahre zuvor in einer Schlacht.“

„Klingt einleuchtend.“

„Ich fand die Hand toll. Sie war noch blutverkrustet, und ein Stück Ärmel hing auch daran. Sie stand aufrecht im Kasten.“

„Noch etwas?“

„Es gab da noch ein kleines Wäldchen mit Nadelbäumen. Ich habe da öfter an einen Baum gepinkelt“, sage ich.

„Und?“

„Und, was?“

„Ist diese Geschichte nun bedeutsam oder nicht?“

„Das weiß ich noch nicht“, sage ich. „Aber sie klingt doch gut. Und ab jetzt schreibe ich, wie soll ich es sagen, richtungsorientierter.“

Kapitel 6: Hamburg, 1983

Sie sah aus, als wäre sie versehentlich auf der falschen Veranstaltung gelandet. Ich stand im Halbdunkel des Musikzimmers und beobachtete das Geschehen in der Großen Diele, in der sie alle jetzt etwas ratlos herumstanden und Grüppchen bildeten. Gloria, die Hausdame, nahm den eintreffenden Trauergästen die Mäntel ab und versuchte, sich auch sonst irgendwie nützlich zu machen. Allein ihre Geschäftigkeit genügte, um die betretene Atmosphäre etwas zu entkrampfen. Und da war noch dieses Mädchen, kaum älter als ich, in buntem Minikleid, eine Fackel inmitten der dunklen Schar. Hatte man die Arme nicht über den Anlass informiert? Offensichtlich litt sie Höllenqualen und versuchte, sich in einer Nische am Eingang möglichst unsichtbar zu machen. Es gelang ihr nicht. Ich wartete und versuchte herauszufinden, in wessen Gesellschaft sie eingetroffen war, aber es kümmerte sich keiner um sie. Das Gemurmel der Leute wurde etwas lauter, als meine Eltern Hand in Hand die geschwungene Treppe hinunterschritten. Sie liebten den großen Auftritt. Ich fragte mich, wie viele Gläser Chablis meine Mutter im Laufe des Morgens wohl bereits geleert hatte. Ihr schmales, hochmütiges Gesicht wirkte verschwommen, fast lieblich. Mein Vater hingegen sah so aus wie immer, hünenhaft, unverletzlich, braungebrannt und gutgelaunt. Er konnte nicht anders. Die Lachfältchen um seine grauen Augen, die nach oben gezogenen Mundwinkel. Um meinen Vater waberte stets eine Aura ungetrübten Optimismus, auf den sich alle nur allzu gern einließen. Jetzt nahmen meine Eltern die Beileidsbekundungen entgegen, wechselten mit manchen ein paar Worte, einen festen Händedruck, umarmten andere und lächelten tapfer. Ich wusste ja, dass sie ein sicheres Gespür für die formvollendete Etikette hatten. Sie waren so erzogen worden. Mein Vater hielt sich gut, aber das wunderte mich nicht, denn der Tod seines Vaters hatte ihn nicht besonders berührt. Das hatte er mir am Abend zuvor in einem Anfall von Vertrautheit und männlicher Zuneigung erzählt, und ich hatte verständnisvoll genickt. Bei mir löste Großvaters Dahinscheiden aus anderen Gründen eher Unbehagen aus.

Meine Mutter signalisierte mir mit Blicken, dass nun auch ich mich unter die Trauernden zu mischen hatte. Zuerst ging ich auf meine Tanten zu, die drei Schwestern meiner Mutter, die sich so sehr von ihr unterschieden, als kämen sie von einem anderen Planeten.

Ich begrüßte als erste Tante Bertha, die mich sogleich umarmte und meinen Kopf in ihren weichen, nach Milch duftenden Ausschnitt drückte. Ich spürte, wie ihr draller Körper förmlich um mich herumfloss, wie ihr Atem sich warm in meiner Ohrmuschel fing, und einen winzigen Augenblick lang war ich versucht einzuknicken. Aber ich befreite mich behutsam aus ihren Armen. Ich zitterte ein wenig. Ich mochte Bertha und wusste, dass sie zu echtem Mitgefühl fähig war. Eine Eigenschaft, die sie aus dem humorlos-protestantischen Familienverband herausragen ließ. Ihr gütiges Wesen war letztendlich auch der Grund für ihre Zurückgezogenheit. Von den Schwestern nicht ernstgenommen und als liederlich abgetan, war allen schon immer klargewesen, dass aus ihr nie etwas Anständiges würde. Am Ende hatte sie es wohl auch darauf angelegt und lebte nun in einem kleinen Häuschen an der Elbe, das man ihr freundlicherweise gekauft hatte. Meine Zuneigung ihr gegenüber war ebenso stark wie die Abneigung, die ich den anderen beiden, Zwillingsschwestern, entgegenbrachte. Da waren zwei Exemplare Mensch, die in einem großen, göttlichen Plan, sollte es diesen geben, nur erschaffen worden sein dürften, um ihre Mitmenschen zu belästigen. Eine Tätigkeit, der sie mit großem Erfolg nachgingen. Ich konnte sie nicht ausstehen, und das ging wirklich jedem so. Weder ihre Ehemänner, die armen Teufel, noch ihre Kinder mochten sie. Am erstaunlichsten war jedoch, dass sie sich auch untereinander hassten. Obwohl ich also am liebsten einen großen Bogen um sie gemacht hätte, kam ich heute nicht umhin, sie, wenn auch äußerst widerwillig, zu begrüßen. Sie standen zwar inmitten der anderen Trauergäste, aber irgendwie im Zentrum eines unsichtbaren Kraftfeldes, das eine spürbare Distanz schuf. Beide hatten blondes, glattes und halblanges Haar. Beide ein rundes Gesicht, einen schlanken Hals und einen hageren, sportgestählten Körper. Beide erweckten den Eindruck eines unverschämten, auf den Kopf gestellten Ausrufezeichens.

„Hallo, Sophie, hallo Julia“, sagte ich.

„Hallo, herzliches Beileid“, antworteten beide fast gleichzeitig.

Ich zuckte innerlich zusammen. Sie schienen seltsamerweise einer Meinung zu sein. Sie zwangen ein Lächeln auf ihre stets gelangweilten Gesichter.

Ich ging weiter und ließ mich von Leuten, die ich kaum kannte, freundlich ansprechen. Manchmal wurde ich umarmt oder nur leicht und behutsam berührt, wahrscheinlich in der Annahme, ich würde sonst erschrecken. Die leitenden Angestellten nickten mir unsicher zu, der Geschäftsführer und die Buchhalterin bauten sich vor mir auf. Er sah aus, als hätte er gerade für eine Managerzeitschrift Modell gestanden: teurer Anzug, teures Hemd, teure Seidenkrawatte, sehr teure Schuhe. Es war der Typ, der gerne um jeden Stuhl pinkelte. Er beäugte mich misstrauisch und sagte: Herzliches Beileid. Es ist für uns alle ein großer Verlust. Er meinte jedoch: Komm mir bloß nicht in die Quere, du kleiner Wicht. Er hielt meinen Blick gefangen, bis er sich ganz sicher war, dass ich seine Botschaft auch verstanden hatte. Die Buchhalterin wirkte neben dem eitlen Herrscher geradezu schmächtig. Ich ließ mich nicht täuschen. Vom Hörensagen wusste ich, sie war eine emotionslose Maschine.

„Es tut mir leid“, sagte sie kalt lächelnd.

Ich lächelte zurück und stellte mir vor, wie sie irgendwann vor mir kriechen würden.

Natürlich ist das nie geschehen.

Heute weiß ich, dass ich damals wirklich ein kleiner Wicht war, ein verwöhntes Bengelchen. Aber ich schätze, in dem Alter — ich war damals, glaube ich, vierundzwanzig — ist man von der eigenen Wichtigkeit restlos überzeugt. Ich sah mich in der Rolle des Erben, des zukünftigen Industriekapitäns, des unbezwingbaren Machers. Ich sah mich in holzgetäfelten Büros mit Messinglampen und Ledersesseln.

Um es kurz zu machen: Mein Großvater hatte für mich tatsächlich einen wichtigen Posten in der Familienstiftung vorgesehen. Natürlich verbunden mit einem entsprechenden finanziellen Anreiz. Allerdings, und das war nicht verhandelbar, erst nach Abschluss eines Wirtschaftsstudiums und nachweisbarem Talent in der Form exzellenter Noten. Dazu war ich vorerst nicht bereit. Ich bat um Bedenkzeit.

Nun ja, die wurde mir nicht gewährt. Ich reagierte trotzig und wurde so schnell ausgebootet, dass ich bereits eine Woche später mit einer auf fünf Jahre begrenzten, sehr üppigen monatlichen Zuwendung und einer noch festzulegenden und an Bedingungen gebundenen Abfindung nach Ablauf dieser Frist, am Anfang eines Lebens stand.

Dahin die Großmannsträume. Dämlicherweise hatte ich ohne nennenswerte Gegenwehr kapituliert, noch nicht mal mehr den Geschäftsführer oder die glitschige Buchhalterin zu Gesicht bekommen, sondern mich von Anwälten schwindelig reden lassen und, fatalerweise, unzählige Unterschriften geleistet. Zu guter Letzt und zu allem Übel musste ich noch ein geringschätziges Schulterklopfen meines Vaters und die weinselige Larmoyanz meiner Mutter ertragen. Ich hatte es nicht anders gewollt.

Am Tag der Trauerfeier jedoch konnte ich das alles noch nicht wissen und machte mich auf die Suche nach dem hübschen Mädchen.

Ich verließ den Salon Richtung Esszimmer, wo man das Buffet aufgebaut hatte, und dort war sie. Sie tunkte gerade ein Stück Kohlrabi in ein Schälchen, biss ab, und wiederholte den Vorgang.

„Zweimal dippen gilt nicht“, sagte ich laut.

Sie schaute erschrocken auf und versteckte das übriggebliebene Gemüsestück blitzschnell hinter ihrem Rücken. Ich fand ihre kindliche Reaktion und ihren schuldbewussten Gesichtsausdruck sofort sehr anziehend.

Als sie merkte, wie ihr ganzes Verhalten wohl gewirkt hatte, zog sie in einer übertriebenen Geste Augenbrauen und Schultern gleichzeitig hoch.

„Ich bin nicht immer so“, sagte sie.

„Wie?“

„Na ja, so verunsichert.“

„Ich habe Sie überrascht.“

„Aber das ist es nicht.“

„Nein?“

Sie sah mich direkt an und ließ sich Zeit zu antworten. Ganz so, als hinge von ihrem nächsten Satz der weitere Verlauf unseres Gespräches ab.

„Es ist das Haus, der Anlass. Vielleicht auch die Aussicht“, fügte sie hinzu und deutete mit einer theatralischen Armbewegung auf die großen Fenster, die den Blick auf eine abschüssige Grünfläche und weiter hinten auf die Elbe freigaben.

„Es ist tatsächlich beeindruckend“, sagte ich.

„Es ist fast schon …", sie suchte nach Worten.

„Pervers?“, half ich nach, wobei mir dieser Begriff im Augenblick wirklich zuzutreffen schien.

„Soweit würde ich nicht gehen.“ Sie drehte mir den Rücken zu, schaute hinaus und kaute auf dem Rest Kohlrabi herum. Ihr orangefarbener Rock war sehr kurz. Die weißen, halbhohen Stiefel nicht unbedingt geschmackvoll. Wieso war diese Frau wie für eine Discoparty gekleidet? Wieso erschien sie so auf einer Trauerfeier?

Sie sagte: „Es ist eher so, als wäre diese Aussicht, die riesige Villa erdacht.“

„Erdacht?“

„Ja, wie eine Vorstellung der Wirklichkeit, verstehen Sie?“

„Ein Bühnenbild?“

„Ja, genau, ja. Sehen Sie, da fährt auch noch ein Schiff vorbei!“ Sie wandte sich mir wieder zu und grinste: „Das ist wahnsinnig komisch, Entschuldigung.“

„Komisch?“, sagte ich etwas dümmlich. Es wurde zur Gewohnheit.

„Tut mir leid.“ Sie versuchte ernst zu klingen, aber das misslang ihr. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.

Sie zeigte mit dem Finger auf mich, dann auf das meterlange Buffet: „Das ist ..., das ist …", stammelte sie.

In mir stieg langsam die Wut hoch: „Wer bist du überhaupt?“, fragte ich etwas zu laut.

Sie musterte mich mit provozierender Direktheit.

„Du siehst aus ... du siehst aus wie eine, eine Bardame!“

Jetzt lachte sie. Ich befürchtete, die anderen Gäste könnten von diesem unangemessenen Heiterkeitsausbruch etwas mitkriegen.

„Eine Bardame!“, sagte sie in gespielter Empörung. „Also, das ist wirklich eine schlimme Bezeichnung!“ Sie kam auf mich zu und legte mir die Hand auf den Arm.

„Eine Bardame“, sagte sie noch einmal kopfschüttelnd.

In meine Wut mischte sich jetzt ein wenig Unsicherheit. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich lächerlich gemacht zu haben.

„Jetzt ist aber genug!“, sagte ich, und es klang wenig überzeugend.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte sie, „mein Benehmen ist unentschuldbar.“

„So schlimm ist es auch wieder nicht.“

„Doch, doch, du hast völlig Recht. Ich sehe tatsächlich so aus, als käme ich direkt vom Straßenstrich.“ Sie senkte den Kopf ein wenig. „Ich schäme mich.“

„Das nehme ich dir nicht ab“, entgegnete ich noch etwas ungehalten.

„Na ja, schämen vielleicht nicht, aber unangenehm ist mir das Ganze doch.“

„Dann sag mir endlich, wer du bist und warum du so herumläufst. In der Reihenfolge. Vorher sagst du mir aber, was so lustig war.“

„Wenn du es selbst nicht merkst, kann ich es dir auch nicht erklären.“

„Versuch es!“

„Nein!“ Das klang bestimmt.

„Dann eben nicht.“

„Also, ich bin die Tochter des Portiers.“

Mein Ärger verflüchtigte sich vollends: „Des Portiers?“

Sie blickte mich aus allernächster Nähe neugierig an: „Ja, des Mannes, der an so einem Empfangstresen unten am Eingang sitzt.“

„Wirklich? Das ist ... sicher, das ist doch Herr …"

Ich hatte keine Ahnung wie der Mann hieß.

Sie stieß mich an, grinste. „Keine Angst, man kann ja nicht jeden kennen.“

„Ich habe ehrlich gesagt noch nie so darauf geachtet, und außerdem komme ich selten einmal vorbei“, sagte ich.

Sie lächelte: „Ehrlich? Also, ich heiße Claudia Herbst und erscheine in diesem Aufzug, weil mein lieber Vater mich ohne Ankündigung abgeholt und hierher verfrachtet hat. Das hat er übrigens so an sich.“

„Was?“

„Den Wunsch, mich zu demütigen.“

Ich schlug vor, ans Wasser zu gehen. Wir verdrückten uns durch den hinteren Terrasseneingang in den Garten und gingen einen mit hellem Sandstein gepflasterten Weg hinab zur Elbe. Es war ein windiger, aber erstaunlich warmer Herbsttag. Wolken zogen schnell und konstant über den blassen Himmel Richtung Dänemark. Wir schwiegen, was nicht weiter störte. Schließlich gelangten wir an eine kleine künstliche Bucht und einen Steg, an dem meine Jolle vertäut war.

„Donnerwetter“, sagte Claudia.

„Ja, nicht?“

„Siehst du, das meinte ich vorhin, das ist alles so klotzig. Privatanleger. Parkanlage vor der Villa. Segelyacht.“

„Segelyacht ist wohl übertrieben!“

„Es ist aber dennoch ein schönes Bötchen.“

„Das ist es in der Tat“, sagte ich und hatte weiterhin den Eindruck, dass sie mit mir spielte.

Wir schauten eine Weile auf die Elbe.

„Dort drüben ist Finkenwerder“, sagte ich.

Sie drehte ihren Kopf langsam in meine Richtung, kniff die Augen zusammen, runzelte die Stirn, als hätte sie sich verhört.

„Lass den Unsinn“, sagte sie.

„Unsinn?“

Sie ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte sie: „Jetzt erzähle mir mal lieber, warum die ganze Feier hier?“

„Ich verstehe nicht ganz.“

„Soweit ich weiß, ist dein Großvater doch schon vor ein paar Wochen in Mexiko gestorben.“

„Vor drei Wochen“, bestätigte ich.

„Warum also die Veranstaltung hier?“

„Die Familie wollte es so.“ Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich müsste mich rechtfertigen.

„Was weiter?“, wollte sie wissen.

„Also, die Beisetzung im Familiengrab in Ohlsdorf.“

„Habt ihr die Leiche etwa tiefgefroren herschippern lassen, oder wie?“

Erstaunt über so viel Unverfrorenheit, blieben mir einfach die Worte weg.

Sie sah mich neugierig an, fast fordernd, und ich überlegte kurz, ob ich das Gespräch nicht einfach abbrechen sollte, antwortete jedoch.

„Natürlich nicht. Großvater wurde in Mexiko eingeäschert. Wir haben die Urne hier beigesetzt, und übrigens sind das wohl Privatangelegenheiten.“

„Privat kommt mir das alles nicht gerade vor.“

Ich spürte wieder Ärger in mir hochsteigen, und auch sie schien mir etwas aufgebracht.

„Hör mal, dies ist eine Gedenkfeier zu Ehren meines Großvaters.“

„Aber ihr habt doch Gott und die Welt eingeladen. Sogar meinen Vater, den Portier.“

Sie war laut geworden, zornig, der sarkastische Unterton wie weggefegt. Jetzt wurde ich neugierig.

„Stört dich irgendetwas?“

„Ja, doch!“

Ich blickte sie fragend an. Sie fuhr sich mit der Hand über die Haare und presste die Lippen zusammen. Ich beschloss abzuwarten. Mir war seltsam zumute. Warum stand ich mit dem Mädchen hier am Wasser? An diesem Steg? Ich wusste, dass die Jolle immer Eindruck schindete. Wollte ich vor ihr angeben? Sie war wirklich hübsch. Sie hatte jetzt die Arme vor der Brust verschränkt, drehte sich weg und ging ein paar Schritte den Steg aufs Wasser hinaus. Der Wind klebte den kurzen Rock an ihren Hintern. Ich hatte es darauf angelegt, und es hatte mir richtig gut getan, mich als so eine Art Großgrundbesitzer zu gerieren. Hatte sie das schon vor mir gemerkt? Peinlich. Ich ging zu ihr.

„Ich frage mich, warum mein Vater in diese erlauchte Gesellschaft geladen wurde. Das passt nicht.“

Sie sprach ruhig und konzentriert.

„Es sind über dreihundert Leute hier, sagte ich. Freunde, Verwandte, die Stiftung.“

„Es passt nicht“, wiederholte sie. „Es ist nicht gut für ihn, nicht gut für mich.“

„Warum?“ Aber ich konnte mir irgendwie vorstellen, warum.

„Er ist ein Idiot“, sagte sie. „Er wird sich wichtig fühlen. Er hat mich hierher geschleift, um mir etwas zu beweisen. Er ist ein Idiot. Wie ein Kind, dem man Bonbons hinwirft. Es bückt sich danach. Es kriecht auf dem Boden herum. Es ist ihm egal, wie das aussieht, und dann hält er triumphierend die Bonbons hoch und stolziert damit herum. Verstehst du. Das Schlimme ist, dass nicht alle aus der Stiftung eingeladen wurden. Warum er, verdammt!“

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