Kitabı oku: «Herzstolpern», sayfa 2
Charlotte
Auf leisen Sohlen schleiche ich mich an der Wand entlang durch den Korridor des Schulgebäudes. Dabei komme ich mir fast vor wie irgendein Cop aus einem Actionreißer. Tendenziell Filme, die mich weniger interessieren, aber Mum will nicht, dass ich sie mir ansehe, was mich dann irgendwie immer dazu reizt es doch zu tun.
Als ich mich gerade auf die Mädchentoilette im Erdgeschoss verdrücken will, höre ich Schritte und beeile mich dermaßen, dass mein Rucksack von Eastpak lautstark gegen einen Türrahmen schwingt. Entsetzt beobachte ich, wie mein Smartphone über den Linoleumboden schlittert, während ich hoffe, dass die schwarze Hülle mit der weißen Aufschrift ‚Don’t touch my phone‘, jegliche Erschütterung abgefangen hat. Schnell haste ich dem Telefon hinterher, das vor einem Paar dunkler Lederschuhe zum Stehen kommt.
„Solltest du nicht im Unterricht sein, Charlotte Bothwell?“ Mr. Cummins, mein Erdkundelehrer, sieht mich streng an, wobei ich versuche, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen.
Eigentlich ist es mir auch völlig egal, was er jetzt denkt oder ob mein Fluchtversuch aufgedeckt wird und es irgendwelche Konsequenzen gibt. Es wäre nicht das erste Mal. Möglichst lässig ziehe ich einen Kaugummi von Wrigleys aus meiner Hosentasche, packe ihn aus und stecke ihn provokant in den Mund, dann zucke ich mit den Achseln.
„Sollte ich vielleicht.“
„Kannst du mir dann erklären, warum du hier bist und nicht in deinem Klassenzimmer?“ Sein ohnehin schon faltiges Gesicht zerfurcht sich noch mehr und beim Anblick seiner braunen Augen unter den schweren Lidern, kommt mir der Vergleich mit einem Basset in den Sinn.
Meine Großtante Jean hat einen – Sherlock. Sherlock ist der wohl dümmste Hund, den ich je in meinem Leben gesehen habe, was den Namen irgendwie grotesk macht, aber er würde fantastisch zu Mr. Cummins passen.
„Mir war nicht danach in den Unterricht zu gehen.“
Falls irgendwie möglich vertiefen sich seine Falten noch, wobei sein Blick langsam richtig ärgerlich wird.
„Und wonach war dir dann, Fräulein?“
Diese Anrede wiederum bringt mich richtig auf die Palme. Ich hasse es wenn jemand ‚Fräulein‘ auf diese herablassende Art sagt, noch schlimmer ist eigentlich nur ‚kleines Fräulein‘.
„Eigentlich wollte ich von hier verschwinden.“ Die patzige Antwort ist draußen, ehe ich mich noch zurückhalten kann.
„Das dachte ich mir fast.“
„Na, Sie sind ja ein ganz Schlauer…“
Ich kann förmlich sehen, wie Mr. Cummins anfängt kleine Rauchwölkchen aus den Nasenlöchern zu blasen, die schließlich zu einem ordentlichen Feuerstoß werden.
„SOFORT INS BÜRO DES DIREKTORS!“, faucht er mich an, was irgendwie dem Begriff ‚Bluthund‘ eine ganz andere Bedeutung gibt.
Ziemlich willenlos lasse ich mich am Arm packen und mitschleifen. Seine Finger graben sich unangenehm in die weiche Haut am Oberarm.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich ins Büro des Direktors muss, sodass ich den Weg fast im Schlaf finden würde. Genaugenommen ist es bereits das dritte Mal in diesem Monat, denn der Drang mitten am Tag einfach aus der Schule abzuhauen ist so übermächtig, dass ich ihm manchmal nicht widerstehen kann.
Auf den Korridoren ist niemand, da alle anderen im Unterricht sitzen, und so bleibt es mir wenigstens erspart, angestarrt zu werden, als wäre ich ein wildes Tier, das gerade gezähmt wird. Manchmal fühle ich mich auch so, aber das kann ich niemandem erklären. Ich wüsste auch nicht wie… In mir drin ist etwas, das mich zwingt abzuhauen, das frei sein möchte, das keinerlei Angst vor den Konsequenzen hat, wobei ich genug Erfahrung habe, um zu wissen, dass es welche geben wird. Es ist mir nur völlig gleichgültig, was mit mir passiert.
Der durch den Kaugummi süßliche Speichel rinnt meinen Hals hinunter. Ich verschlucke mich fast daran, als Mr. Cummins die Tür zum Sekretariat öffnet, um mich unsanft hineinzustoßen. Die Sekretärin empfängt mich mit dem genervten Blick, den sie auch schon die letzten zwei Male drauf hatte. Der ‚Du schon wieder‘-Blick.
Möglichst lässig lasse ich mich auf den Plastikklappstuhl fallen, der an der Wand vor ihrem Tresen steht. Was jetzt kommt, kenne ich schon zu Genüge. Ermahnungen, ein Brief an die Eltern, irgendeine harmlose Strafe wie Nachsitzen… Das Spiel beginnt mich zu langweilen.
Fassungslos hält mein Vater den Brief in den Händen, den die Schule mir mitgegeben hat.
Ich habe überlegt, ihn verschwinden zu lassen, aber das hätte keinen Sinn. Ich muss ihn schließlich unterschrieben wieder abgeben. Natürlich kann ich die Unterschrift meiner Eltern schon auswendig, aber in diesem ganz speziellen Fall hat man mir mitgeteilt, dass der gleiche Brief noch einmal per Post an meine Eltern rausgehen wird. Den ganzen Tag auf den Postboten warten, um den Brief abzufangen, könnte ich zwar; nachdem ich plötzlich so viel Freizeit habe, aber irgendwie will ich das gar nicht.
„Was hast du dir dabei gedacht?“ Der Brief in seiner Hand bebt vor Zorn.
„Ich hatte keine Lust.“
„Wie die letzten Male auch?“
Ich weiß, dass er nicht nur die zwei Male diesen Monat meint. Er meint die vielen anderen Male, die ich erwischt wurde. Er weiß nichts von den Gelegenheiten, da mich niemand bemerkt hat:
„Die Schule langweilt mich.“ Ich zucke gleichgültig die Achseln, versuche, mich besonders cool zu geben.
„Aber deswegen kannst du nicht einfach abhauen, wann immer du willst!“ Die Stimme meiner Mum ist schrill und tut mir in den Ohren weh.
„Wieso nicht?“, gebe ich mit herausforderndem Blick zurück. „Würdest du einen Job machen, der dich langweilt?“
Sie und mein Dad haben einen etwas verwirrten Ausdruck in den Augen, der mich zum Schmunzeln bringt. Ich weiß, dass meine Situation gerade nicht lustig ist, aber ich kann nicht anders. Ich habe sie einfach auf dem falschen Fuß erwischt. Wie so oft… Meine Mum geht gar nicht arbeiten, weil sie nämlich angeblich nichts findet, ‚was zu ihrem Potenzial passt‘.
„Geh in dein Zimmer, Charlotte!“
Das sagt mein Dad immer, wenn er nicht mehr weiter weiß. Dann wendet er sich mit einem Ausdruck abgrundtiefer Enttäuschung von mir ab, geht zum Kamin und starrt hinein, obwohl gar kein Feuer darin brennt. Es ist Sommer und viel zu heiß für einen Abend am Kamin.
Meine Mum misst mich von oben bis unten, dann tritt sie zu ihm. Vermutlich, um mal wieder mit ihm zu streiten.
Ich ziehe mich tiefer in die Falten meines schwarzen Hoodies zurück, während ich mich langsam davonmache. Die Treppen hinaufschreitend, lausche ich ihren Stimmen.
„Diesmal ist sie zu weit gegangen“, stößt mein Vater hervor, durch das Treppengeländer sehe ich, wie er sich durch das schwarze Haar fährt, das ich von ihm geerbt habe. Nur dass er nicht mehr ganz so viel davon auf dem Kopf hat.
„Ich weiß mir keinen Rat mehr, Brian. Wir haben doch schon so oft mit ihr gesprochen und alles was sie sagt, ist, dass die Schule sie langweilt.“
„Vielleicht wäre sie in einem Internat doch besser aufgehoben. Du weißt schon, wegen allem…“
Mein Herz beginnt aufgeregt zu flattern. Es ist nicht das erste Mal, dass sich meine Eltern darüber unterhalten, mich einfach abzuschieben. Doch ich muss mir eigentlich keine Sorgen machen, denn das können sie sich sowieso nicht leisten.
„Das ist keine Option, Brian, wie du sehr wohl weißt“, sagt meine Mum dann auch.
Ich atme erleichtert aus.
Ich habe keine Ahnung, warum ich nicht auf ein Internat will, denn hier zu Hause ist es auch unerträglich. In der Schule habe ich das Gefühl, dass ich ersticke. Ich bin nicht dumm. Ich sehe, dass es meinen Mitschülern nicht so geht. Also stimmt irgendwas nicht mit mir, das ist schon klar. Ich bezweifle aber, dass der Besuch eines Internats mir eine befriedigende Antwort geben wird.
„Herrgott, Liz! Dann bleibt uns nur noch eine Institution für schwererziehbare Kinder.“ Mit einem Ruck dreht sich Dad um, das Gesicht unendlich traurig, der Blick dennoch hart. Und ich weiß in dem Moment, es ist sein Ernst.
Plötzlich höre ich das Blut in meinen Ohren rauschen.
„Nein.“ Mums Stimme bettelt förmlich und das tut sie sonst nie bei Dad. „Ich könnte nochmal mit ihrem Klassenlehrer reden.“
Fast bin ich gewillt, hinunter zu laufen und ihnen zu sagen, dass ich mich bessern werde. Meine Füße wollen nur nicht gehorchen, denn ich weiß ganz genau, dass ich nichts versprechen kann, was ich am Ende nicht halte.
„Ich kann nicht mehr, Liz!“, schreit mein Vater sie jetzt an. „Ein Schulverweis! Weißt du, was das heißt? Nicht, dass sie Nachsitzen muss, oder mal für ein, zwei Wochen nicht kommen darf. Das heißt, dass wir uns sowieso eine scheißneue Schule suchen müssen, auf die Madame Mir-ist-so-langweilig sowieso nicht geht. Sollten wir uns da nicht langsam professionelle Hilfe suchen?“
„Das sollten wir. Das sollten wir wirklich…“ Sie spricht mit tränenerstickter Stimme. Gleich fängt sie richtig zu weinen an und Dad wird sie anschreien, dass ihr Rumgeheule auch nichts bringt. Idyllisches Familienleben eben. Ich mag es nicht, wenn sie sich meinetwegen streiten, aber das ist besser, als die Gleichgültigkeit, mit der sie sich sonst begegnen.
„Dann lass es mich endlich tun. Lass mich einen Platz für sie suchen.“
Ich setze mich auf die Treppenstufe, weil mich meine Beine nicht mehr tragen wollen. Sie fühlen sich an wie das Johannisbeergelee von Hartleys.
Ein wenig ist es wie mit einem unartigen Welpen, den seine Familie nicht mehr will, weil er einmal zu viel auf den teuren Perserteppich gepinkelt hat. Aber statt selbst in eine Hundeschule mit ihm zu gehen, wird er einfach ins Tierheim abgeschoben, wo sich ein anderer mit seinen Marotten herumschlagen kann.
„Ich werde mir etwas überlegen, Brian“, sagt Mum weinerlich.
Fast hoffe ich, dass sie irgendeinen Weg findet, herauszubekommen, warum ich so bin, wie ich bin. Ich weiß es ja selbst nicht. Aber ich bezweifle, dass sie sich viel Mühe geben wird. So ist das eben nicht zwischen Mum und mir.
„Dann heul hier nicht rum, sondern unternimm etwas“, knurrt Dad, dann stapft er wütend in sein Arbeitszimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
Lauren
Die Mädchenclique am Nebentisch lacht eine Spur zu laut, was sich fast wie hysterisches Gackern auf einem Hühnerhof anhört. Aber das ist bei einem Junggesellinnenabschied auch nicht weiter verwunderlich. Der Abend ist noch jung, was bedeutet, dass dieses Pub vermutlich die erste Station ist.
„Die haben aber schon ordentlich getankt“, grinst Izzy, während sie mit dem Daumen auf die Gruppe aus pinkgekleideten Frauen deutet. Der Braut – zu erkennen an dem dickgedruckten ‚Ich bin die Braut, hier dreht sich alles um mich!‘ auf ihrem Shirt – hängt bereits ihr Krönchen schief, während sie sich ein Glas Prosecco genehmigt.
Ich bringe nur ein schiefes Lächeln zustande. Die Party, die neben uns im Gange ist, macht mir Probleme, ich fühle mich unwohl. Ich drehe mein Glas Ginger Ale hin und her und bezwinge den Drang aufzuspringen und zu gehen nur mit Mühe.
Anfangs hatte ich nur eine unbestimmte Angst davor, krank zu sein. Irgendetwas Schlimmes, an dem ich bestimmt sterben muss. Mittlerweile ist die Liste meiner Ängste so lang, dass es mir mühsam ist, sie aufzuzählen. Die Angst vor Menschenmengen gehört definitiv dazu und ein übervolles Pub an einem Freitagabend ist nicht eben leer.
„Wir könnten uns in den Garten setzen und aufs Meer raus gucken“, schlage ich deswegen zum wiederholten Mal vor. Das war doch ursprünglich mein Plan. Was ist denn aus dem geworden?
Die Jungesellinnen fangen an, mit dem Barkeeper in voller Lautstärke zu flirten und anzügliche Witze zu machen. Der arme Kerl ist schon schamesrot im Gesicht – obwohl er als Barkeeper doch so einiges gewohnt sein müsste – und windet sich wie ein Aal.
„Nö, lass uns doch lieber da bleiben.“ Izzy grinst und lehnt sich entspannt zurück. Ihre kobaltblauen Augen blitzen schelmisch, während sie genüsslich die Szene betrachtet, die sich uns bietet. „Das ist besser als Kino.“
Mir tut der Barkeeper leid. Er ist groß, breitschultrig und sieht insgesamt nicht so aus, als wenn er sich nicht wehren könnte. Nun ja, vielleicht könnte er bei randalierenden Gästen problemlos einschreiten, aber mit einer Horde wildgewordener Frauen ist er hilflos überfordert.
„Wir fahren später noch nach Old Town. Kommst du mit?“, fragt eine hübsche Blondine, die ihre ausladende Oberweite förmlich über den Tresen auf ihn zu schiebt.
„Tut mir leid, ich bin hier beschäftigt. Wer soll denn sonst die Gäste bedienen?“, antwortet der Barkeeper, dessen Gesichtsfarbe sich immer mehr seinen roten Haaren angleicht. Seinen Blick kann er trotzdem nicht von den üppigen Brüsten auf dem Tresen abwenden, die fast das pinke T-Shirt sprengen.
„Und wer soll mich heute bedienen?“, schnurrt die Blondine, dabei klimpert sie mit den extrem langen, falschen Wimpern.
Oh Gott, wie billig, denke ich angewidert, dann weiß ich nicht, welcher Teufel mich reitet, aber ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, doch darüber denke ich gar nicht weiter nach. Ich will mich gerade neben der Blondine an den gutbesetzten Tresen schieben, um noch ein Ginger Ale zu ordern – obwohl meines noch nicht annähernd ausgetrunken ist -, da schiebt ein anderer Barkeeper seinen Kollegen beiseite.
„Liam, wir brauchen noch von dem Merlot“, ruft er ihm zu. „Könntest du in den Keller gehen und noch ein paar Flaschen hochholen?“
Liam fährt sich über das rote Haar, das er zu einem hohen Dutt am Hinterkopf zusammengefasst hat, nickt und verschwindet sichtlich erleichtert.
„Mh… Frischfleisch, Mädels.“ Die Blondine lacht, auch ihre Freundinnen gackern wieder hysterisch. Liams Retter wird von oben bis unten betrachtet und für gut befunden.
„Na, du bist aber auch nicht schlecht.“
„Vielleicht sogar ein bisschen süßer als dein Kollege.“
Da muss ich den Mädels wirklich Recht geben. Der Typ ist wirklich extrem gutaussehend mit seinen schwarzen kurzen Haaren, die nicht – wie bei so vielen – auf ein paar Millimeter abrasiert sind, sondern modisch hochgegelt abstehen. Er ist nicht ganz so groß wie Liam, aber schlank und sportlich mit fein definierten Muskeln, die sich unter seinem Shirt abzeichnen.
Warum ich nicht einfach umdrehe, um mich still und leise wieder zu setzen, weiß ich nicht. Ich spüre Izzys Blick in meinem Rücken und kann mir vorstellen, wie sie verwundert eine Augenbraue hebt. Mit klopfendem Herzen schiebe ich mich zwischen die Blondine und die zukünftige Braut und fange einen Blick von dem Barkeeper auf. Für den Bruchteil einer Sekunde rollt er gespielt genervt die Augen und ich habe das Gefühl, als würde er mir danach zuzwinkern, aber das ist sicher nur Einbildung.
Die üppige Blonde schiebt mich ein wenig beiseite, um besser mit dem neuen Barkeeper flirten zu können. Ich protestiere nicht. Vor Aufregung würde ich sowieso kein Wort herausbringen. Was mache ich eigentlich hier? Mein Ginger Ale wartet doch am Tisch auf mich.
„Nun gut, dann wirst du mich eben zufriedenstellen müssen.“ Die Stimme der blonden Partymaus ist eine einzige Einladung – tief, gurrend, verlockend.
„Ich glaube, ich sollte erstmal die anderen Gäste hier zufriedenstellen“, grinst der Typ hinter dem Tresen, dann wendet er sich ohne mit der Wimper zu zucken mir zu. „Und was kann ich dir bringen?“
Die Blicke aller Mädels vom Junggesellinnenabschied richten sich auf mich. Diesen Moment hat sich meine Angst ausgesucht, um mich in den Würgegriff zu nehmen. Mein Mund fühlt sich wie ausgedörrt an und ich versuche krampfhaft zu schlucken, aber leider bleibt mir schlichtweg die Spucke weg. Außerdem schlägt mein Herz nun so heftig, dass ich meine, es hüpft direkt bis zum Hals hoch, wodurch ich nicht mehr als ein Krächzen zustande bringe, als ich den Mund öffne. Mir schießt das Blut in den Kopf, weil die Situation einfach nur peinlich ist, dann fange ich den belustigten Blick des Barkeepers auf.
Schleunigst drehe ich mich weg und dann renne ich los, zwischen den Tischen hindurch auf den Ausgang zu. Ich höre, wie Izzy meinen Namen ruft, aber ich kann einfach nicht stehenbleiben. Ich stolpere ins Freie, japse nach Luft, meine Hand fährt an meinen Kehlkopf. Draußen sitzen einige Leute, die mich neugierig anstarren. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie jemand aufsteht und auf mich zusteuert und weil ich ganz sicher nicht will, dass man mich anspricht, laufe ich einfach weiter, obwohl mir das Atmen schwerfällt. Ich taste nach meiner Hosentasche, spüre den Hausschlüssel darin wie einen Talisman und renne los.
Charlotte
„Wir sind jetzt weg, Charlotte.“
Ich höre die Stimme meiner Mum, aber ich antworte ihr nicht. Dann fällt die Haustüre ins Schloss und eine willkommene Stille breitet sich aus. Ich gehe zu meinem Mansardenfenster, um zu sehen, wie Mum zu Dad ins Auto steigt, dann fahren sie in unserem silbergrauen VW Sharan davon. Ungeduldig warte ich, bis sie um die nächste Ecke gebogen sind, dann ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, um zu telefonieren.
„Du kannst jetzt kommen, sie sind weg“, sage ich nur kurz und knapp.
„Yep, bin in zehn Minuten bei dir“, antwortet Lewis, dann legt er auch schon auf.
Lewis ist mein ältester Freund und der einzige Mensch, mit dem ich offen über alles reden kann. Kennengelernt haben wir uns schon im Kindergarten, als ich ihm immer die Stifte weggenommen habe, die er gerade benutzen wollte, mit der Begründung, er könne sowieso nicht malen. Warum er sich trotzdem mit mir angefreundet hat, weiß ich nicht, aber es erklärt, warum er jetzt nicht schreiend vor mir davon läuft.
„Ich kenne die schreckliche Charlie schon“, sagt er immer achselzuckend, wenn ich ihn danach frage. Dann rückt er seine Brille gerade und grinst etwas schief. „Aber ich weiß auch, dass da drinnen eine sehr liebe Charlotte wohnt, sie ist nur gerade öfter mal verreist.“ Und dann piekt er mit dem Finger gegen mein Schlüsselbein.
Lewis wohnt nur wenige Straßen weiter und steht tatsächlich fünf Minuten später vor unserer Haustür. Für meine Verhältnisse extrem schwungvoll öffne ich und lasse ihn hinein, dann steuern wir sofort die Küche an.
„Ich nehme mal an, dass du hungrig bist“, sage ich zu Lewis und grinse ihm mit einem Blick über die Schulter zu.
„Wie immer, Charlie.“ Entschuldigend zuckt er die Achseln.
„Wenn es eine Konstante in meinem Leben gibt, dann dich, Lewis. Ich wüsste nicht, dass du dich in den letzten Jahren groß verändert hast – bis auf den Stimmbruch. Und wie kann man nur so dünn sein, wenn man den ganzen Tag isst?“
Ich schiebe zwei Scheiben Brot in den Toaster, dann hole ich Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank.
Wieder zuckt Lewis nur mit den Achseln. Mit dem Zeigefinger schiebt er seine Brille hoch, die ihm stets die Nase hinunter rutscht.
„Wie läuft es so in der Schule?“, frage ich betont gleichgültig, während ich seinen Toast schmiere.
Eine Strähne meines schwarzen Haares fällt mir ins Gesicht und ich streiche sie absichtlich nicht zurück, damit Lewis nicht sieht, dass ich wirklich neugierig bin zu hören, was in der Schule vor sich geht. Der Unterricht mag ja langweilig sein, aber es gibt schließlich auch noch anderes…
„Wenn du mich durch die Blume fragen willst, was dieser Idiot von Damon Roberts macht, sind meine Lippen versiegelt. Du weißt, dass ich es unter deiner Würde finde, dass du auf Newcastles größten Weiberheld stehst.“
„Ich stehe nicht auf ihn!“, protestiere ich halbherzig und schiebe Lewis seinen Teller zu. „Komm, lass uns nach oben gehen.“
„Ich dachte, deine Eltern sind eine Weile weg.“ Kauend folgt er mir die Treppe hinauf in mein Zimmer.
„Sie sind den ganzen Tag bei meiner Großtante Jean.“, bestätige ich.
„Sagtest du nicht, sie würden verzweifelt nach einer neuen Schule für dich suchen? Stattdessen machen sie Anstandsbesuche bei alten Tanten“, witzelt Lewis und schiebt sich genüsslich den letzten Rest seines ersten Toasts in den Mund. Er isst nicht nur viel, sondern auch extrem schnell.
„Es ist Sonntag“, erwidere ich, dabei verdrehe ich die Augen. „Da hat für gewöhnlich keine Schule geöffnet.“
Lewis lässt sich auf mein Bett sinken und stellt seinen Teller neben sich ab. Ich lümmele mich auf meinen Sitzsack und betrachte ihn schmunzelnd. Jeder andere Fünfzehnjährige würde sich vermutlich auf das Bett fläzen oder zumindest die Füße hochziehen, sich im Schneidersitz hinsetzen oder ähnliches. Nicht so Lewis Seymour, der vermutlich wohlerzogenste Junge den ich kenne. Er bleibt gesittet auf der Bettkante sitzen.
„Nun erzähl schon, reden sie in der Schule über mich?“
„Ich dachte, das wäre dir gleichgültig“, gibt er zurück.
„Ist es mir auch“, maule ich, dann angele ich von meinem Schreibtisch eine Packung Kaugummi und schiebe mir gleich zwei davon in den Mund.
„Dann muss ich dir ja nichts davon erzählen, dass sich alle das Maul über dich zerreißen.“ Lewis guckt ganz scheinheilig.
„Nein, musst du nicht.“ Trotzig verstaue ich meine Hände in den Taschen meiner Jeans.
Eigentlich interessiert es mich wirklich nicht, ob sich die Klatschweiber aus unserer Jahrgangsstufe über mich auslassen – was sie mit Sicherheit tun, wie mir Lewis indirekt bestätigt hat. Wenn ich in der Schule bin, redet außer Lewis sowieso niemand mit mir und ich habe auch nichts dagegen. Das ist schon so, seit wir zusammen die Gosforth Academy besuchen. Außer Lewis habe ich keine Freunde und das ist gut so. Meine Mum, der soziale Kontakte und Abende mit ‚ihren Mädels‘ total wichtig sind, bemängelt oft, dass ich nie eine Freundin mit nach Hause bringe. Wie sollte ich auch, wenn ich keine habe?
„Mich interessiert wirklich nicht, was eine Nell Jenkins und ihre Basketballclique über mich redet“, bekräftige ich noch einmal, wie um Lewis zu überzeugen.
„Das musst du mir nicht erzählen, Charlotte. Wenn es dich interessieren würde, was andere über dich denken, wärest du jetzt nicht in dieser Lage.“
„In welcher Lage?“, frage ich launig und spiele mit einer Haarsträhne, die ich unermüdlich um meinen Zeigefinger wickle und wieder entrolle.
„Dir ist schon klar, dass deine Eltern dich in eine andere Schule schicken müssen, die womöglich keinen so guten Ruf hat wie die Gosforth Academy?“
„Gut. Dann müssen sie nicht mehr so viel Geld für meine Schulbildung ausgeben. Darüber streiten sie nämlich immer.“
„Über deine Schulbildung?“
„Nein, über Geld“, seufze ich.
Wenn ich könnte, würde ich mich in meinem überdimensionalen Shirt noch viel kleiner machen. In meinem Kopf höre ich die laute, dröhnende Stimme meines Vaters und die sich hochschraubende, keifende meiner Mutter. Entschlossen schüttle ich den Kopf.
„Lass uns über etwas anderes reden.“
„Aber bitte nicht über Damon Roberts!“ Lewis verschränkt die Arme vor der Brust seines gestärkten, kurzärmeligen Hemdes, mit den korrekten Bügelfalten.
Selbst wenn wir nicht in der Schule sind, trägt er immer Klamotten, die wie eine Uniform aussehen. Dunkle Hose, hellblaues gebügeltes Hemd. Seine Mutter kauft seine Kleidung ein und ist, wie man nur unschwer erkennen kann, ein wenig spießig und die penibelste Hausfrau von Gosforth, wenn nicht von ganz Newcastle. Wenn ich könnte, würde ich mit Lewis einkaufen gehen und ihn komplett neu einkleiden. Andererseits ist das der Lewis, den ich seit Jahren kenne und da er mich so akzeptiert, wie ich bin, nehme ich ihn auch mit seinen Besonderheiten.
„Wir könnten irgendwohin gehen“, schlage ich vor.
„Du? Ich dachte, du hast Hausarrest.“
„Habe ich auch. Aber wer sollte es merken, wenn ich mit dir raus gehe? Meine Eltern kommen erst spät abends zurück, sagte ich doch schon. Tante Jean und Onkel Allan wohnen in Dumfries, das ist ein ganzes Stück entfernt.“
Lewis hat seine Marmeladenbrote längst verdrückt, also zuckt er gleichgültig mit den Achseln und fragt: „Und wohin möchtest du?“
„Wie wäre es mit einem Eis bei Creams?“, antworte ich mit einer Gegenfrage. Dabei verstecke ich mein Gesicht hinter einem dichten Haarvorhang, damit Lewis nicht sieht, wie mein Kopf die Farbe einer Tomate annimmt. Es ist ein heißer Sonntag im Juni und es besteht eine ziemlich gute Chance, dass Damon Roberts bei Creams ist.
Aber Lewis muss mich nicht ansehen, um das zu wissen. Er stöhnt leise, nickt aber trotzdem, während er aufsteht und seine Hose zurechtstreicht, bis sie keine einzige Falte mehr wirft.
Wie erwartet, ist es ziemlich voll im Creams, sodass ich erstmal keinen freien Tisch entdecke, als wir ankommen. Nach der Hitze auf der Straße draußen, die mich unwillkürlich an Kernschmelze denken lässt, tut es gut den kühlen Windhauch der Klimaanlage auf der Haut zu spüren.
Vor dem Café bis hin zum Tresen stehen Menschen an, die munter schnattern. Kinder drängeln an die Auslage, um die Eissorten zu studieren. Ich blicke mich so lässig wie möglich um. Wie erwartet entdecke ich Damon, der mit seinen Freunden an einem der Tische sitzt. Jeder von ihnen hält sein Handy in der Hand, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht miteinander kommunizieren. Sie stecken die Köpfe zusammen, zeigen sich gegenseitig irgendwelche Sachen auf ihren Smartphones. Ich starre wie gebannt zu ihnen hinüber.
„Wusste ich’s doch, dass wir nur wegen ihm hierher kommen“, flüstert mir Lewis mit einem Kopfrucken in Damons Richtung zu. „Bist du dir echt nicht zu schade, auf den größten Angeber der Schule zu stehen, Charlie? Ehrlich, ich hätte mehr von dir erwartet.“
„Kein Problem. Das Gefühl kenne ich schon.“, gebe ich so lässig wie möglich zurück, aber innerlich tut es ein bisschen weh.
Damon hebt den Kopf von seinem Display und schaut genau in unsere Richtung. Am liebsten würde ich mich noch weiter in meine Kapuzenjacke zurückziehen. Wenn er mich so sieht, wird er sowieso denken, dass ich einen ziemlichen Fehler im System habe. Wer trägt bei dieser Hitze eine Jacke? Doch zu meiner Überraschung, erscheint auf Damons Gesicht sein strahlendstes 32-Zähne-Lächeln und er winkt auch noch zu uns herüber. Er hat ein wirklich tolles Lachen, dabei bilden sich winzig kleine Fältchen um seine tiefbraunen Augen.
Obwohl es überhaupt nicht meiner Art entspricht, habe ich das Gefühl, ich müsse ihm zurückwinken. Es fühlt sich ein wenig seltsam an, denn ich war mir sicher, dass mich ein Typ wie Damon Roberts in der Schule überhaupt nicht bemerkt hat, geschweige denn, dass er mir jemals zuwinken würde. Ich überlege noch hin und her, ob ich jetzt zu seinem Tisch gehen soll, um zwanglos mit ihm zu plaudern – was sich irgendwie noch seltsamer anfühlt -, als mich von hinten links jemand überholt, der in eine Überdosis Wonderstruck von Taylor Swift gehüllt ist.
„Hi, Damon!“ Nell Jenkins drängt sich winkend an mir vorbei, rempelt mir dabei sogar den Ellenbogen in die Seite. Ihr ultrablonder Pferdeschwanz wippt auf und ab, als sie beschwingt auf Damons Tisch zusteuert.
Entsetzt beobachte ich, wie sie sich zu ihm beugt, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen, dann erst bemerke ich, dass ich meine Hand immer noch wie ein Idiot erhoben halte.
„Wem winkst du da eigentlich?“, fragt Lewis jetzt irritiert, dann wandert sein Blick zu Damon. „Charlie, bitte sag mir, dass du nicht diesen Superaufreißer begrüßt hast.“
„Ganz sicher nicht!“, fauche ich wütend, lasse meine Hand sinken, die nun neben mir hängt, als würde sie nicht zu mir gehören. Ich wünschte zumindest, sie würde tatsächlich nicht zu mir gehören.
Glücklicherweise hat Damon nicht gemerkt, dass ich ihn mit meiner idiotischen Winkerei meinte. Wie auch, er weiß vermutlich nicht mal, dass ich existiere. Aber Nell weiß es und sie hat sehr wohl mitbekommen, was ich getan habe. Sie wirft mir einen spöttischen Blick zu, dann rutscht sie zu Damon in die Bank und flüstert ihm etwas ins Ohr, dabei ruckt sie mit dem Kinn immer wieder in meine Richtung. Mir wird heiß vor Scham, deswegen drehe ich mich schnell zur Auslage.
„Mit einem Sitzplatz sieht es schlecht aus. Wir könnten uns aber für eine Kugel anstellen“, schlägt Lewis arglos vor, der die Sache mit dem Winken zum Glück nicht vertieft.
Ganz sicher werde ich mich nicht in diese endlose Schlange stellen, um den Blicken der Basketball-Asse der Gosforth Academy ausgesetzt zu bleiben. Mittlerweile sehe ich aus dem Augenwinkel, dass Damon mich anstarrt und dabei bis über beide Ohren grinst.
„Meine Sorte ist heute nicht dabei“, knurre ich deswegen nur unfreundlich, drehe auf dem Absatz um und verlasse das Creams so schnell wie möglich.