Kitabı oku: «Quitt», sayfa 17
Neunundzwanzigstes Kapitel
Erst um sechs Uhr – es war längst dunkel geworden, und nur der Schnee leuchtete – trafen unsere Freunde wieder in Nogat-Ehre ein, wo man ihrer Rückkehr seit Stunden in banger Erwartung entgegengesehen hatte, selbst von seiten Obadjas, zu dessen Lebensregeln es sonst gehörte, sich nicht mit Vorängstigungen zu quälen. Seltsamerweise war es diesmal Maruschka gewesen, die, während all dieser Stunden voll Angst und Sorge, das recht eigentliche Trosteswort gefunden hatte. Sie seien ausgefahren, so hatte die gute Alte gesagt, um dem Christkind einen Baum zu holen, und das Christkind werde die liebe Ruth auch schützen. Denn Ruth sei ein darling und ein pet, im Himmel geradesogut wie auf Erden, und die liebe Jungfrau Maria – Maruschka vergaß in ihrer Aufregung ganz Obadjas Gegenwart —, die liebe Jungfrau Maria wisse nur zu gut, daß die alte Maruschka ohne Ruth nicht leben könne, und werd ihr das nicht antun. So hatte Maruschka getröstet, und Obadja, der wohl wußte, was ein treues und gläubiges Herz bedeute, auch wenn es in der alten Irrlehre stecke und seine Gebete bloß an die Heilige Jungfrau richte, hatte der Alten Hand genommen und mit bewegter Stimme gesagt: »Ja, Maruschka, du hast recht. Das Christkind wird unsere Kinder schützen.« Zeuge dieser Unterredung war auch L‘Hermite gewesen, der schon seit Stunden unten war und beinah noch ängstlicher als die beiden Alten nach dem Gefährt auslugte, noch ängstlicher, weil sein Vertrauen auf eine Hilfe von oben, trotzdem er eben ein Christkind in Wachs bossiert und es einer gleichfalls von ihm herrührenden Jungfrau Maria in den Schoß gelegt hatte, ziemlich gering war. Nebenher aber verschwor er sich ein Mal über das andere gegen diesen preußisch-hyperboreischen Tannenbaumkultus, der an all dieser Angst und Sorge törichterweise schuld sei. Warum es denn durchaus eine Tanne sein müsse? Das sei nichts als eine bêtise allemande, deren Vater oder Urahne niemand anders als dieser wohlgenährte »Monsieur Luther« sei, ein Mann ohne Taille, so recht der Typus eines Deutschen, mit seinen Päffchen und seinem tête carée. Schade, daß man ihn nicht zu Beginn seiner Laufbahn verbrannt habe, denn Ruth sei wichtiger als Luther.
Dieser Groll über den Tannenbaumkultus hielt aber nicht vor, ja, ging rasch in sein Gegenteil über, als man, tags darauf, den Baum ohne Rücksicht auf seine Wurzellosigkeit in eine mit kleinen Steinen und Erde gefüllte Tonne gepflanzt und beides, Baum und Tonne, neben dem in der großen Halle stehenden Eßtisch aufgestellt hatte. Ihn hier auszuschmücken war, von Stund an, die Freude aller, am meisten L‘Hermites. Bis zu Mannshöhe machte sich dies leicht, dann aber mußten Stehleitern aushelfen, um zunächst, und zwar oben an der Spitze des Baumes, einen Weihnachtsengel anzubringen. L‘Hermite, glücklich damit zustande gekommen, blieb eine Viertelstunde lang oben in seiner Höhe, während welcher Zeit Ruth und Maruschka hinaufreichten, was alles in den voraufgehenden Tagen ausgeschnitten, vergoldet und versilbert worden war. Lehnert und Toby aber beschäftigten sich mittlerweile mit Herstellung einer transparenten Krippe, in deren Vordergrund alle die bekannten auf Pappe geklebten Christnachtfiguren standen. Nur einer der drei Könige aus dem Morgenland, der Alte mit dem Bart, war von L‘Hermite plastisch ausgearbeitet worden und sah aus wie Obadja. Das alles geschah im großen Hause. Natürlich verhielt sich auch Mistress Kaulbars nicht träge. Sie buk, tagaus, tagein, ihre Mandel- und Rosinenkuchen, auch solche mit Ingwer und Kardamom, deren würziger Duft, trotzdem das Küchenwesen im Nebenhause lag, das ganze Vorderhaus durchzog. Zugleich rieb sie Mohnpielen und beschäftigte sich mit der Frage, wie Bierkarpfen auch ohne Bernauer Bier gekocht werden könne. Wie sich denken läßt, wurden auch Enten, Hühner und Gänse geschlachtet, und Totto saß in der Wintersonne und rupfte das geschlachtete Federvieh, das ihm die Arapahomädchen unter Lachen und kleinen Neckereien beständig zutrugen. Jeder im Hause nahm teil und freute sich, und am vierundzwanzigsten früh erschienen auch noch die beiden Missionsschulen, die von Krähbiel und die von Nickel. Denn für die Kinder dieser beiden Schulen war ja recht eigentlich das Fest.
Und nun war der Abend da, und Totto wurde beauftragt, um sechs Uhr an den großen Schild zu schlagen. Das tat er denn auch. Und nicht lange, so kam man von allen Seiten herbei: Maruschka, Ruth und Toby vom linken, Lehnert und L‘Hermite vom rechten Korridor her, während Mister und Mistress Kaulbars die verschiedenen Mägde, Krähbiel und Nickel aber die Indianerkinder herbeiführten, Knaben und Mädchen, die man bis dahin im Tabernakel untergebracht und mit Tee bewirtet hatte.
Der große Flur (Totto noch immer unter dem Tamtam) war vorläufig Versammlungsplatz, und nun endlich öffnete Obadja die große Tür, und während einer der Lehrer auf dem Harmonium spielte, das man zu diesem Zweck aus Ruths Zimmer heruntergeschafft hatte, trat alles in langem Zug in die Halle, wo der Baum mit seinem Christengel und seinen Lichtern stand, vor allem aber über die lange Tafel hin die hundert Geschenke ausgebreitet lagen: in der Mitte die der Hausgenossen und Gemeinde, links und rechts die für die Cherokee- und Arapahokinder. Die Freude zu sehen bildete doch die Hauptfreude. L‘Hermite vor allem war entzückt, gab jedem der kleinen Rothäute, männlich wie weiblich, die bedenklichsten französischen Namen, unter denen petit bougre von den mildesten war, stellte dabei mehrere Jungen auf seine Schulter und blies ihnen ein Stück auf einer Blechtrompete. Das Bewundertste blieben aber doch die Tiere der Arche Noah, und Krähbiels und Nickels Anstrengungen, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Krippe hinzulenken, waren nur von halbem Erfolg. Das Natürliche war und blieb ihnen das Liebere, und so kam es denn, daß sie von dem alten weißbärtigen König aus Morgenland, trotzdem sie lächelnd Obadja in ihm erkannt hatten, nicht viel wissen wollten und immer wieder zur Arche Noah zurückkehrten. Im Flur wurde mittlerweile das Abendbrot genommen. Aber schon nach kurzer Zeit begab man sich wieder in die Halle zurück, wo jetzt von den Kindern Obadjas Lieblingslied gesungen wurde:
»Valet will ich dir geben,
Du arge falsche Welt,
Dein sündlich böses Leben
Durchaus mir nicht gefällt;
Im Himmel ist gut wohnen,
Hinauf steht mein Begier,
Da wird Gott ewig lohnen
Dem, der ihm dient allhier.«
Obadja, der schon vorher mit seinen Hausgenossen am Kaminfeuer Platz genommen, erhob sich während dieses Gesanges, alle mit ihm, sogar L‘Hermite, der zwischen Spott und Rührung kämpfte. Dabei zog er die Stirn in immer krausere Falten und versuchte hinter Gesichterschneiderei zu verbergen, was in ihm vorging. Als die Kinder dann zum dritten Mal an Obadja vorüberzogen, sangen sie die Schlußstrophe des schönen Liedes:
»Schreib meinen Nam‘n aufs beste
Ins Buch des Lebens ein,
Und bind mein Seel gar feste
Ins schöne Bündelein
Der‘r, die im Himmel grünen
Und vor dir leben frei,
So will ich ewig rühmen,
Daß dein Herz treue sei.«
Die zwei letzten Zeilen erklangen schon draußen im Flur und gingen, zur Genugtuung Obadjas, der nicht nur ein Verständnis, sondern auch eine Freude für den natürlichen Menschen hatte, sofort in Kinderlachen und heiterstes Geplauder über. Dann schritten alle, die Geschenke vorläufig noch auf dem Weihnachtstische zurücklassend, bei klarem Sternenhimmel auf die Nachbargehöfte von Nogat-Ehre zu, wo man sie, je nach der Größe der Farmen, in größeren und kleineren Trupps unterzubringen wußte. Nur die, die nach ihrer Lehrer Zeugnis die Besten waren, blieben zur Auszeichnung und Belohnung in Obadjas Hause zurück und bezogen hier ein paar Zimmer auf demselben Korridor, auf dem Lehnerts und L‘Hermites Zimmer gelegen waren.
Die Hausangehörigen ihrerseits, während die Mehrzahl der Kinder in den Farmen verteilt wurde, blieben noch beisammen und gruppierten sich wieder um den Kamin. Nur Mistress Kaulbars blieb in Bewegung, machte, vom Büffet her, die Wirtin und erntete viel Lob und Zuspruch für die von ihr bereiteten Weihnachtsgerichte. L‘Hermite fand die Mohnpielen »un peu curieux«, aber doch »admirable« und erklärte, wenn‘s irgend ginge, sich auf diesem Weg milderer Observanz zum Opiumesser heranbilden zu wollen, was er, ihm selber unerklärlich, bis diesen Augenblick ungebührlich versäumt habe. Denn des Lebens Bestes sei doch immer das Ins-Vergessen-Sinken, das lehre nicht bloß le grand Buddha, sondern auch le petit L‘Hermite.
Obadja lachte herzlich, gab ihm dabei die Hand und sagte: das könn ihm in Nogat-Ehre nie und nimmer bewilligt werden; er werde hier vielmehr fortleben, genau wie die Mohnpielen, »im peu curieux«, aber doch »admirable«. Was aber wichtiger sei: wenn sich ihm (Obadja) das erfülle, was er von ganzem Herzen hoffe, so werde Camille L‘Hermite dermaleinst auch an anderer Stelle nicht vergessen sein. Schon die Wege des Lebens seien wunderbar, aber am wunderbarsten seien die Gnadenwege. Wer die Gnade habe, der mühe sich umsonst, sie zu verscherzen.
L‘Hermite lächelte, sei‘s, weil er im allgemeinen oder nur persönlich allerlei Zweifel unterhielt, Obadja aber sah über das Lächeln hin und fragte Lehnert, der die zuletzt gesprochenen Worte gierig eingesogen, ob er das eben von den Kindern gesungene Lied schon gekannt habe, das »Valet will ich dir geben«.
Ja, sagte Lehnert, er hab es gekannt, denn es habe dem Liederschatze seiner heimatlichen Dorfkirche mit angehört.
»Dann weißt du auch wohl, von wem es ist?«
»Nein.«
»Aber das solltest du doch. Es ist nämlich ein Landsmann von dir, der es gedichtet hat, und hieß Valerius Herberger. Ein schöner Name, nicht wahr? Denn unsere Kirche soll eine Herberge sein, und der, der darin waltet, ein rechter Herberger. Und ein solcher Herberger war unser Valerius auch wirklich. Ihr Schlesier seid überhaupt bevorzugt in solchen Stücken, und ich möchte wohl, ich könnte von meiner alten heimischen Weichsel- und Nogatgegend dasselbe sagen. Aber wenn ich auch stolz bin auf meine Nogatheimat, so sind uns doch die Gaben, die so viel bedeuten und so mächtig sind (auch für die noch, die sich der rechten Lehre rühmen dürfen), versagt geblieben. Wir sind arm, und ihr seid reich. Da habt ihr den herrlichen Mann, den Zinzendorf, denn die Sachsen und Lausitzer sind schon wie halbe Schlesier, und da habt ihr den herrlichen Paul Fleming und vor allem auch den Opitz.«
Lehnert verfärbte sich.
Als er aber sah, daß der Name voll Unbefangenheit gesprochen worden war, kam er rasch wieder zu sich und folgte mit scharfem Ohre, während Obadja fortfuhr: »Und zu diesen Erwählten unter euch, die nun dastehen als eine Säule der neuen Kirche, zählt auch der Valerius Herberger, und wie sein Glaube in seinen Liedern lebt, so lebt er auch in seinen Werken. Und ich beuge mich vor diesem Manne. Kein Märtyrer, im Sinne der alten Kirche, hat er doch dem Tode Tag um Tag ins Auge gesehen. Er war Prediger in Fraustadt in Schlesien, und in neun Wochen starb die Stadt aus, denn der schwarze Tod ging in ihr um. Mehr als dreihundert hat er persönlich unter Schulgesang mit bestatten helfen, und doch blieb er ohne Furcht und Ekel. Manche Leiche begrub er mit dem Totengräber allein. Er ging voran und sang; der Totengräber aber führte ihm die Leiche auf einem Karren nach, an dem ein Glöckchen hing, damit die Leute der Begegnung ausweichen konnten. Sein Trost war: wer Gott im Herzen und ein gut Gebet und einen ordentlichen Beruf hat und den Vorwitz meidet, dem kann der Teufel nicht ankommen und die Seuche noch weniger.«
»Ah, das ist schön«, sagte Ruth. Obadja aber nickte Ruth zu und fuhr dann fort: »Und als die Seuche fort und aus dem Lande war, da schrieb er: ›Es war all die Zeit über, als ob ein Engel mit dem Schwert mein Haus verteidigt hätte, so daß mir kein Leid widerfahren durfte.‹ Und während dieser Zeit war es auch, daß er das schöne Lied dichtete, das, wie‘s ihn aufrichtete, seitdem soviel tausend andere mit aufgerichtet hat.«
Die Lichter am Baum waren schon lange vorher gelöscht worden. Auch im Kamin fiel das Feuer zusammen und glühte nur noch dunkel. Aber die goldnen Nüsse blinkten in dem tiefen Licht um so goldner, und der Christengel schwebte darüber.
»Ich denke, wir trennen uns«, sagte Obadja. »Ruth, singe mir noch einmal die erste Strophe. Das soll heute mein Nachtgebet sein.«
Ruth tat, wie ihr geboten.
Dann nahm Obadja das zunächststehende Licht, grüßte die noch Versammelten und ging auf sein Zimmer zu.
Auch die anderen erhoben sich bald.
»Ihr scheint bewegt«, sagte Lehnert, als er sich an L‘Hermites Tür von diesem trennte.
L‘Hermite lächelte. »Oui, oui. Mais cela n‘importe rien. Wir sind verpfuscht, cher Lehnert, verpfuscht durch die alte Legende. Heiland, Erlöser. Bah! Le grand Sauveur c‘est l‘ idée.«
Dreissigstes Kapitel
Früher als gewöhnlich war man am anderen Morgen auf und nahm das Frühstück, nachdem die Lichter am Baum noch einmal angezündet waren. Obadja las das Weihnachtsevangelium und zog sich dann in sein Arbeitszimmer zurück, um sich hier vorzubereiten, und zwar für die Christpredigt. Diese war, neben der Taufpredigt im September, die wichtigste Predigt im Jahre, zu der, schon weil die Mennoniten von Nogat-Ehre auf viele Meilen in der Runde die einzigen waren, die eine Gemeinde bildeten und einen Betsaal hatten, alles zusammenkam, was in der großen Talmulde zwischen den Shawnee-Hills und den Ozark-Mountains an Jesum Christum glaubte. Das waren, außer den Leuten von Station Darlington, ganz besonders auch die Besatzungen von Fort Holmes und Fort Gibson, die bei der Weihnachtspredigt nie zu fehlen und mit ihren bunten Uniformen die Kirche zu beleben pflegten.
Und sie fehlten auch heute nicht. Überhaupt war es ein großes Andrängen, und unter der nun winterlich entlaubten Akazien- und Lindenallee standen in langer Reihe die Wagen, auf denen man herbeigekommen war. Einige fuhren auch auf die zum Teil weit ausgebauten Farmen, mit deren Bewohnern man schon aus Unterhaltungsbedürfnis auf dem besten Fuße stand. Um zehn Uhr begann der Gesang, bei dem Ruth wieder das Beste tat, und dann folgte Gebet und Predigt, die der Alte mit gewohnter Geschicklichkeit nicht bloß dem Tage, sondern auch den Anschauungen seiner gemischten Zuhörerschaft anzupassen wußte. Das Predigen über die Köpfe weg war nicht seine Sache. So ließ er auch heut alles bloß Lehrhafte fallen, hütete sich, vom »geistigen Leibe Christi« zu sprechen, und beschränkte sich darauf, in der schlichten Erzählung von der Geburt des Heilands das schön Menschliche zu betonen. Aus Not und Bedrängnis, aus Armut und Niedrigkeit sei das Heil geboren worden, und der Krippe zu Bethlehem entstamme die Welterlösung. Er verweilte hierbei, sprach aber trotzdem nur kurz, so daß schon um elf Uhr der Gottesdienst mit einem Vers aus dem Weihnachtsliede schließen konnte, bei dessen Verklingen Obadja den Saal als erster verließ. Dann folgte die Gemeinde, zuletzt die Kinder, die diesen Augenblick mit Sehnsucht erwartet hatten und vom Betsaal in die Halle hinübergeführt, hier mit kaum unterdrückter Aufregung ihre Geschenke vom Weihnachtstische nahmen, um gleich danach unter Vorantritt Krähbiels und Nickels ihren Rückweg in ihre Dörfer anzutreten.
Obadja hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, und eine halbe Stunde später erschien Ruth, um ihm das Frühstück zu bringen, das er um diese Zeit zu nehmen pflegte. Sie setzte das Tablett vor ihn hin und wollte wieder gehen, aber er hielt sie fest.
»Du bist so still, Ruth. Hast du mir nichts zu sagen?«
»Nein. Oder doch nur das eine, das du längst weißt, daß ich glücklich bin und dich liebe.«
»Und bist du glücklich?«
»Ja.«
Sie sagte das mit einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß. Und dann küßte sie seine Hand und verließ das Zimmer.
In der Halle, darin eben noch alles so laut und lebendig gewesen war, war jetzt alles still, und diese Stille schien noch zu wachsen unter der Dunkelheit, die herrschte.
Denn es war ein grauer Tag, ein rechtes Weihnachtswetter. Nichts war sichtbar als der weißgedeckte Tisch, von dem jetzt die Geschenke verschwunden waren, und daneben der Weihnachtsbaum, der wie ein dunkler Schatten in dem allgemeinen Dämmer aufragte. Ruth wollte daran vorüber, fuhr aber zusammen, als ihr Lehnert, den der Baum bis dahin verdeckt hatte, plötzlich entgegentrat. Indessen es währte nicht lang; im nächsten Augenblick lachte sie wieder: »Lehnert, du hier? Du schleichst ja wie durch den Forst.«
Sie wußte nicht, wie das Wort ihn traf, und setzte scherzhaft und in wiedergewonnener guter Laune hinzu: »Du darfst nicht vorher die goldnen Nüsse zählen; dazu ist Zeit heut abend, wenn wir den Baum plündern. Und dafür mußt du Sorge tragen, daß Maruschka das Beste kriegt, sonst ist sie traurig und weint.«
Lehnert versprach alles und fragte dann, ob der Vater in seinem Zimmer sei.
»Willst du zu dem?«
»Ja.«
»Und das heut am Weihnachtstag und gleich nach der Predigt? Ei, das muß etwas Großes sein.«
»Ist es auch. Ich will ihn um etwas bitten. Und höre, Ruth, dabei fällt mir ein, du könntest mir Glück dazu wünschen.«
»Wenn es etwas Gutes ist.«
»Ich glaube, daß es etwas Gutes ist.«
»Nun denn von ganzem Herzen.«
Sie gab ihm die Hand, und während sie nach links hin und weit um den Tisch herum auf den offenstehenden Flur zuschritt, schritt Lehnert auf Obadjas Zimmer zu, von dessen Tür er den Vorhang zurückschlug.
Obadja saß an seinem Arbeitstisch, genau wie damals, als Lehnert zum ersten Male hier eintrat, und ganz wie damals gab er sich und seinem Stuhl eine rasche halbe Wendung und sagte: »Nun, Lehnert, was bringst du? Nimm Platz!«
Lehnert setzte sich auch wirklich, schwieg aber befangen. Endlich war er seiner Verlegenheit Herr und begann damit, ihm für die heutige Predigt zu danken, am meisten aber für das, was er gestern abend über den Valerius Herberger gesagt habe. Das hab ihn die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Er fühle, daß das das rechte Leben sei: sich, mit Gott im Herzen, vor dem Tode nicht zu fürchten. Und solches Leben zu führen, das sei so recht seine Sehnsucht. Und wenn ihn der Teufel der Eitelkeil und Selbstgerechtigkeit nicht verblende, so möcht er wohl sagen dürfen, er glaube, daß er nicht bloß die Sehnsucht, sondern auch die Kraft dazu habe.
»Glaub‘s Lehnert, glaub‘s … Aber du wolltest mir etwas anderes sagen.«
»Ja«, bestätigte Lehnert, »das wollt ich …« Und doch (so fuhr er fort) hab er alles, was er eben über den Herberger und über sich selbst gesagt, erst sagen müssen, denn nur daraus, daß er auch so was wie der Herberger in sich fühle, nur daraus kam ihm der Mut zu dem, was er jetzt sagen wolle. Heraus müss‘ es; er liebe Ruth, und wenn das vermessen und hoffnungslos sei, dann wolle er fort, und zwar lieber heut wie morgen …
Und nun hielt er inne, gewärtig dessen, was Obadja sagen würde.
Der aber schwieg beharrlich und schien nur durch Blick und Handbewegung andeuten zu wollen, daß Lehnert weitersprechen möge. Da fiel denn auch alle Furcht von ihm ab, und er ließ sein Herz nicht bloß reden, sondern ihm auch die Zügel schießen. Er wisse wohl, daß er ein schlechter Mensch und des Glückes, das er begehre, durchaus unwürdig sei. Aber er wisse auch, daß die Gnade groß sei, so groß wie seine Reue. Wen Gott erwählt habe (das seien Obadjas eigene Worte), der könne straucheln und fallen, aber er falle nur, um durch Gott selbst wieder aufgerichtet zu werden. Er hoffe, daß dies auch sein Los sein werde. Selbstgerecht und gewalttätig sein, das seien die Fehler seiner Jugend gewesen und die Wurzeln des Verbrechens, um dessentwillen er seine Heimat habe meiden müssen, aber er glaube sagen zu dürfen, das alles liege jetzt weit zurück, und seit dem Tage, der seine Bekehrung gebracht, steh es fest in ihm, daß die Reinheit und der Friede das einzige Heil seien. Das Friedenslied, das damals gesungen worden sei, das hab ihn bekehrt, und wenn nicht das Lied, so die Stimme.
»Und wenn nicht die Stimme, so Ruth«, lächelte Obadja.
Aber Lehnert sah das Lächeln nicht. Er hörte nur heraus, was freundlich darin klang, und wiederholte mit Unbefangenheit: »Ja, Ruth …«, sie sei es, der er alles schulde, und sie werd ihm auch dann noch das Glück bedeuten, wenn er es, ihm nur zu begreiflich, in diesem Augenblicke für immer hinschwinden sähe. Denn Ruth, das wiss‘ er nur zu gut, sei weit über ihn hinaus, eine Herrentochter und eine Lady, während er in Not und Armut und in noch Schlimmerem großgezogen sei. Das heimatliche Haus habe nichts für ihn getan und die Schule nicht viel, und alles, was er sei, das habe zu Gutem und Schlimmem das Leben aus ihm gemacht. Er sähe hinauf zu Ruth. Aber seine Liebe sei groß und gleich groß sein Wille, sie glücklich zu machen. Sein Wille und hoffentlich auch seine Kraft.
Und nun sah er Obadja fest an und erwartete sein Urteil.
Der Alte schwieg aber und begegnete seinem Blicke mit nichts als freundlicher Ruhe. Dann erhob er sich, ging auf Lehnert zu und sagte: »Weiß Ruth davon?«
»Nein.«
»Nun, dann gedulde dich, Lehnert! Es ist Rahel, um die du wirbst … Ich werde dir Antwort sagen.«