Kitabı oku: «Pariser Tagebuch», sayfa 2

Yazı tipi:

»Cause célèbre«
(1898)

Draußen veranstaltete ein köstlicher sonniger Herbst etwas wie eine Nachfeier des Sommers. Ich verspürte den Wunsch, in eine Gegend zu entfliehen, wo man nicht von Dreyfuß sprach, und wo der Herbstzauber die cause célèbre vergessen läßt. Ich nahm den ersten Zug, der nach Montmorency abging, und fuhr hinaus. In Montmorency, wo in der »Eremitage« der Madame d'Epinay einst Jean Jacques Rousseau wohnte, leben jetzt zur Sommerszeit viele Deutsche – meist Kommissionäre, die in Paris im Viertel des Nordbahnhofes wohnen und deswegen Montmorency sozusagen »vor der Tür« haben. Jetzt waren all die etwas feucht aussehenden Villen geschlossen, und man traf keinen jener lieben grauen Esel, auf denen im Sommer die jungen Mädchen in den nahen Wald traben.

Beinahe noch öder sah es in Enghien-les-Bains aus, das man von Montmorency in einer knappen halben Stunde erreicht. An dem schnurgerade abgesteckten, von Villen umgebenen See saßen nur drei Engländerinnen in ziemlich vorgeschrittenem Alter – die eine malte, die beiden 14 anderen lasen. Seltsam, wie dieser Ort, der vielen Pariser Familien im Sommer als Badeort dient, so ganz den englischen Charakter hat, und wie die Landschaft mit dem schnurgeraden, unter leichten Herbstnebeln schlummernden See zu den drei einsamen Engländerinnen paßte! Das Kasino, wo während der Saison das »Pferdchenspiel« floriert, war geschlossen. Und die letzten Blumen in den Kübeln auf der Terrasse sahen so melancholisch aus wie ein alter verwelkter Brautkranz.

Ich fuhr mit der elektrischen Bahn nach Montmorency zurück, um dann von Montmorency nach Saint-Leu zu gehen, das acht oder neun Kilometer weiter nordwestlich liegt. Man kommt durch die Orte Margency, Mangarny und Montlignon, hat die Waldhügel von Montmorency immer zur Rechten und erblickt zur Linken, weit hinten, als dunklen Abschluß einer großen Ebene, die bewaldeten Höhenzüge von Saint-Germain.

Und hier war er wirklich, der Herbstzauber. Die Landschaft hat hier nicht das allzu Gepflegte, Elegante, fast Parfümierte, das sie im Westen von Paris, bei Saint-Cloud, bei Ville d'Avray und bei Saint-Germain hat. Man ist mehr »auf dem Lande«. Aber auf welch einem Lande! Es gibt in der ganzen, so reichen Umgebung der großen Stadt wenige Plätze, die von einer so breiten, würzigen, kräftigen Schönheit wären wie dieses Tal zwischen den beiden Waldhöhen. Rousseau hätte in Saint-Germain nicht hausen können. Hier durchlebte er, was er später in den »Confessions« niedergeschrieben.

Man möchte das goldene Braun der Wälder auf den Höhen mit dem dunkelen Goldton Rembrandts oder 15 anderer Niederländer vergleichen, würde man nicht fürchten, durch diesen Vergleich den Eindruck von etwas Künstlichem zu erwecken und den vollen, warmen, natürlichen Reiz zu schmälern. Hier und da ragt der weiße Turm eines Landhauses aus dieser Waldpracht empor. Und wie ein zarter Schleier liegt der Herbstdunst über den Hügeln.

Die Landstraße unten im Tale führt abwechselnd zwischen großen, von grauen Steinmauern umhüteten Schloßgärten und zwischen Wiesen und Feldern dahin. Auf den Feldern liegen in langen Reihen die schweren, blauroten Kohlköpfe; auf den Wiesen schmiegen sich lange grüne und gelbe Gräser aneinander, weich wie im Winde wogendes Seidenhaar. Durch hohe Gitterportale sieht man in die Schloßgärten mit ihrer herbstlichen Einsamkeit. Eine breite, mit roten Blättern bestreute Buchenallee führt zum Schlosse, und unter den Bäumen steht ein marmorner Amor, der vergeblich nach einem Opfer für seine Pfeile sucht.

Saint-Leu ist eine kleine, stille Landstadt, wo die Menschen fleißig zur Kirche gehen, weil Vergnügungslokale nicht existieren. Die Priester wissen, weshalb sie Gegner der großen Städte, der »Wasserköpfe«, sind! Als ich nach Saint-Leu kam, fand gerade eine Beerdigung statt, die Beerdigung einer reichen alten Dame, und die meisten Frauen und Jungfrauen hatten die Gelegenheit benutzt, um sich schwarz zu kleiden, was ihnen in dem ewigen Einerlei ihrer Tage offenbar schon eine angenehme Abwechselung schien. Vor dem Café in der Nähe des Bahnhofes besprach der Wirt mit mehreren Gästen den Trauerfall und die Hinterlassenschaft. 16 Gegenüber, vor einem Kramladen, über dessen Tür zu lesen war: »Hier werden Fahrräder verliehen und repariert«, ließen ein magerer Jüngling und ein dickes Mädchen den Gummireifen ihrer Fahrräder neue Luft einpumpen. Das dicke Mädchen trug schwarze Hosen, die sich wie zwei große Ballons über den Knien wölbten. Und ein kleiner Bengel stand dabei, ein Eingeborener von Saint-Leu, und pfiff selbstzufrieden das alte Volkslied vom König Dagobert, der seine Hosen verkehrt angezogen hat:

»Le bon roi Dagobert

A mis sa culotte à l'envers.«

* * *

Wie ich so durch die Straßen dieses wenig aufregenden Städtchens schlenderte, entdeckte ich plötzlich hinter einem Gartengitter zwischen alten Bäumen ein verwittertes Denkmal. Es war ein ziemlich geschmackloser hoher Obelisk, zu dessen Füßen zwei steinerne Genien saßen. Ich fragte einen Mann, der vorüberging, was das für ein Platz und für ein Denkmal wäre. »Ach,« sagte er, »das ist das Schloß der Condé.« Er sagte es wie jemand, der versichert: »es ist nichts von Bedeutung«, und ging weiter.

Die Worte »das Schloß der Condé« enthielten eine leichte Übertreibung. Von dem Schlosse war nichts mehr zu sehen – es ist verschwunden und dort, wo es gestanden, sind jetzt Wohnhäuser, Stallungen und Schuppen aufgerichtet. Von der ganzen Herrlichkeit ist nur das Stückchen Park noch übrig, wo jetzt der Obelisk mit den beiden Genien steht.

17 Aber indem ich den Obelisk noch betrachtete, erinnerte ich mich . . . Richtig, hier war es, wo der letzte Prinz von Condé ermordet worden – hier in seinem alten Schlosse zu Saint-Leu! Welch eine »Cause célèbre« war das für das Publikum von 1830 gewesen!

Am Morgen des 27. August 1830 fand man den vierundsiebzigjährigen Herzog von Bourbon, Prinzen von Condé, in seinem Schlafzimmer am Fensterriegel hängend. Die Trösterin seiner alten Tage, die abenteuerliche, intrigante, lasterhafte und ehrgeizige Baronin von Feuchères – sie hieß mit ihrem Mädchennamen Sophie Dawes und stammte aus England – befreite mit Hilfe ihres Beichtvaters und einiger Diener den toten Greis von dem Strick, an dem er hing. Drei aus Paris gesandte Mediziner, Marr, Pasquier und Marjolin, gaben ihr Gutachten ab und schlossen auf Selbstmord.

Aber der vierundsiebzigjährige Fürst hatte nie daran gedacht, freiwillig, mit Hilfe einer Schnur und eines Fensterriegels, aus dem Leben zu scheiden. Er hatte dagegen in der letzten Zeit seines Lebens oftmals gefürchtet, man möchte ihn gegen seinen Wunsch und Willen ins Jenseits spedieren, und er hatte alle Vorkehrungen getroffen, um am Morgen des 28. August nach seinem Schlosse Chantilly zu fliehen, und von dort nach England. Wen er fürchtete? Seine Freundin Feuchères. Warum er sie fürchtete? Er hatte vor einem Jahre nach langem Kampf, nach langem Widerstreben, endlich besiegt durch die Feuchères, sein kolossales Vermögen – das Vermögen der Condé – dem jungen Herzog von Aumale, dem Sohne des Louis Philippe und der Marie Amélie, vermacht und zugleich 18 Saint-Leu, Boissy, die Wälder von Montmorency und Morfontaine als Erbteil der Feuchères bestimmt. Diese kluge Dame hatte sich gesagt, daß sie ihr eigenes Erbteil gegen die rechtmäßigen Erben nur würde verteidigen können, wenn sie mächtige Bundesgenossen hätte. So hatte sie das Vermögen der Condé dem Hause Orleans zugeführt – der geizige Louis Philippe und die gute Marie Amélie (nichts interessanter als ihr Briefwechsel mit der Feuchères!) wurden ihre Komplicen. Aber der Sturz des legitimen Königtums und die Rücksichtslosigkeit, mit welcher Louis Philippe seinen Vetter Charles X. behandelte, empörten den alten Fürsten von Bourbon, und er wollte nach England zu den Verbannten und dort sein Testament umwerfen. Da, am Morgen, wo er heimlich Saint-Leu verlassen wollte, fand man ihn tot am Fensterriegel . . .

Es kam zu einer Untersuchung, aber die Untersuchung wurde niedergeschlagen. Es kam trotzdem, auf Betreiben der Prinzen von Rohan, zu einem Prozeß, aber die Kläger wurden abgewiesen. Die Familie Orleans behielt das Vermögen des ermordeten Condé – Schloß Chantilly, das der Herzog von Aumale der Akademie hinterlassen, ist ein Teil davon – und Madame de Feuchères starb hochbetagt in jenem England, wo heute Esterhazy weilt.

Seltsam, es gab auch damals die drei Experten, auf deren Gutachten hin Madame de Feuchères freigesprochen wurde, wie heute Esterhazy auf das Gutachten der drei Experten Conrad, Belhomme und Varinard. Es gab auch damals den unerschrockenen Untersuchungsrichter, welcher »volles Licht machen« wollte: der Bertulus von 19 heute hieß damals de la Huproye. Und es gab den Generalprokurator Persil, welcher dem braven Huproye die Untersuchung abnahm, ganz, wie der Generalprokurator Bertrand sie Bertulus abgenommen. »Es gibt nichts Neues unter der Sonne«, hat der Philosoph gesagt. Und der weise Marc Aurel hat sich gewundert, daß uns die Ereignisse, die an uns vorüberziehen, immer wieder erstaunen: »Wenn man dir im Theater eine gleichmäßige Wiederholung derselben Vorgänge zeigt, langweilst du dich. Du müßtest das Gleiche während deines ganzen Lebens tun, denn in dieser Welt siehst du oben und unten stets nur die gleichen Wirkungen und immer dasselbe Spiel der ewig gleichen Ursachen. Ach, und das wird niemals enden!«

Gewiß, ich will die »cause célèbre« von heute nicht mit der »cause célèbre« von 1830 vergleichen. Die »cause célèbre« von damals war im Grunde nur ein interessanter Kriminalfall – heute steht ein ganzes Volk, von einer tragischen Schuld belastet, auf der Bühne. Aber vieles, was uns neu scheint, ist nur Wiederholung – Wiederholung aus der Affäre von 1830 oder aus anderen Affären. Und ich glaube auch, daß diejenigen, die fortwährend über »décadence« schreien, ein wenig den Theaterfreunden gleichen, die uns unablässig von einer früheren Blüte der Kunst erzählen, und denen vielleicht nur deswegen die Gegenwart so heruntergekommen scheint, weil sie die Vergangenheit nicht gesehen haben.

* * *

20 Natürlich – ich hatte Paris verlassen, um der »cause célèbre« zu entfliehen, und hier in Saint-Leu fand ich sie wieder. Wirf die Katze, wie du willst, sie fällt immer wieder auf die Füße. Drei kleine Mädchen standen hinter mir, streckten verlegen die Finger in die Nasen und wunderten sich, daß ich so lange den alten Obelisken betrachtete, an dem eigentlich gar nichts zu sehen war.

Und diese drei kleinen Mädchen waren nicht die einzigen in Saint-Leu, die von der alten Mordgeschichte, die vor siebzig Jahren so viel Staub aufgewirbelt hatte, nichts oder nur wenig zu wissen schienen. Schon der Mann, der mir die erste Auskunft über die Bestimmung des Obelisken gegeben, schien mit dieser Affäre nur höchst oberflächlich vertraut. Andere waren nicht besser unterrichtet. Sie wußten allenfalls so ungefähr, daß man den letzten Condé hier ermordet hatte – denn daß die Selbstmordshypothese der drei medizinischen Experten ein gefälliges Märchen war, haben spätere Enthüllungen sonnenklar ergeben.

Die herbstlich roten Blätter fallen von den Buchen auf den Obelisken und die zwei sitzenden Genien. Wie schnell ist das, was gestern eine »cause célèbre« war, vergessen! Aber das ist vielleicht sehr gut, sehr beruhigend und sehr erfreulich, und im höchsten Grade unerfreulich ist nur, daß mit der »cause célèbre« auch die Lehren, die sich aus ihr ergeben, so schnell vergessen werden.

Ich ging zum Bahnhof und kam wieder bei dem Café und bei dem Kramladen vorbei, wo Räder »verliehen und repariert werden«. Der magere Jüngling 21 und das dicke Mädchen waren mit frischer Luft davongeradelt. Aber vor dem Café standen noch der Wirt und seine Gäste. Diese Gäste waren aus Paris gekommen und erzählten jetzt von den letzten Vorgängen, den letzten Zwischenfällen der »Affäre«. Ich trat heran und mischte mich bescheiden in das Gespräch. Man sprach von Esterhazy und vom berühmten »Bordereau«. Die Pariser waren halb und halb überzeugt, daß Esterhazy der Verfasser des »Bordereau« wäre. Aber der Wirt schüttelte den Kopf und sagte mit der Bestimmtheit eines Mannes, der den Respekt vor den Wissenschaften zu einem Dogma erhebt: »Meine Herren! Sie vergessen das Urteil der drei Experten!« 22

Die Erinnyen
(Juni 1899)

Seit fünf Jahren habe ich kaum eine der großen Sitzungen, der großen Theatervorstellungen im Palais Bourbon versäumt. Welch eine Reihe schöner Premieren seit fünf Jahren! Die letzten Panama-Ringkämpfe fielen noch in diese Zeit, und der zyklopische, rundschultrige Rouvier verteidigte sich wie ein Eber gegen die Meute. Dann kamen die Südbahnkomödien, dann die olympischen Kampfspiele, welche Kammer und Senat um das Ministerium Bourgeois aufführten. Und dann die einzelnen Akte des größten Spektakelstückes, der Dreyfus-Affäre mit ihren wechselnden Helden: dem fuchsartigen Méline, der ein etwas verkleinerter Guizot ist, dem verbohrten Cavaignac der die Robespierre-Rollen spielt, dem alten Brisson, dessen treue, ehrliche Röcke so unmodern scheinen wie seine feierliche republikanische Rhetorik und der so seltsam an Verrina erinnert. Von meinem Platz auf der engen und dunstigen Tribüne habe ich die sozialistischen Fäuste die nationalistischen Köpfe verprügeln gesehen, und die nationalistischen Fäuste die sozialistischen Köpfe. Ich habe alle Arten von 23 Schimpfworten, alle Nuancen des Tumultes, die ganze Tonleiter menschlicher und tierischer Laute kennen gelernt. Ein Irrenhaus, eine Menagerie oder die Hölle selbst, wie der gute Fra Angelico sie gemalt, sind nur stille Nervenheilstätten, verglichen mit diesem Palais der Parlamentarier. Aber was auch immer in diesen fünf Jahren sich ereignet hat, und so weit ich zurückdenke – ich erinnere mich an nichts, was dieser gestrigen Sitzung vergleichbar wäre, die unter dem Geschrei »Mörder! Mörder!« so vielversprechend begann.

Längs der halbkreisartig gebogenen Wand (der Saal hat die Form eines Halbkreises, an dessen geradliniger Seite sich der Sitz des Präsidenten und die etwas niedrigere Rednertribüne erheben) in allen Logen ein Geflimmer bunter, lichter Sommertoiletten. Diese Logen sind so überfüllt, daß man glaubt, die Wände müßten auseinandergesprengt werden. Die Damen halten einander auf dem Schoß, die Herren balanzieren dahinter auf den Fußspitzen, und ich sehe Coquelin, der mit gespreizten Beinen auf dem Rande einer Bank steht, und zwischen dessen Füßen eine Gott sei Dank nicht umfangreiche Dame sitzt. Und längs der ganzen Bogenlinie ein fortwährendes Auf- und Niederflattern zahlloser Fächer, wie rund um die spanische Arena am Tage des Stiergefechts.

Unten auf den amphitheaterförmig aufsteigenden Bänken, Schulter an Schulter, die Vertreter der Nation. Dort der runde Kopf Dupuys mit einem halb verlegenen, halb bösen Lächeln, dort der kahle, dürftige Schädel Cavaignacs, dort das Fuchsgesicht Mélines. Auf den ersten beiden Bänken der Mitte, dem 24 Präsidenten und der Rednertribüne zugewandt, die neuen Minister. Waldeck-Rousseau im kurzen blauen Jackett auf der vorderen Bank. Neben ihm der erste Sozialistenminister Millerand. Auf der zweiten Bank, hinter ihnen, der General de Gallifet, sehr mager, sehr elegant, in schwarzem Rock und hellen Hosen. An seiner Seite ein anderer, sehr eleganter, noch junger Mann, fast kahl, aber mit einem hübschen blonden Schnurrbart: der neue Finanzminister Caillaux, Sohn einer Ministerfamilie. Und ringsherum ein Geschwirr und ein Gesumme wie das verhaltene Dräuen eines Meeres, das gleich zum tollwütigen, besessenen Toben werden wird.

Der Präsident Deschanel – noch ein Elegant – ergreift die Glocke (er hat schon zwei in diesem Jahre ruiniert) und sagt: »Die Sitzung ist eröffnet.« Kaum ist das Wort heraus, als auf der linken Seite des Saales, auf den höchsten Stufen des Amphitheaters – dem »Berge« – etwa zwanzig Männer emporspringen, drohend die Arme in die Luft werfen und dieses wilde Geschrei beginnen: »Mörder! Mörder!« Es sind zuerst nur zwanzig, aber ihre Tobsucht wirkt ansteckend und gewinnt wie ein Feuer, das sich schnell, vom Winde begünstigt, weiterfrißt, die benachbarten Bänke, wo die Déroulède und Drumont sitzen, und dann immer andere Bänke. »Mörder! Mörder!« Man denkt, es müsse alles zusammenbrechen. Und die Erinnyen selber scheinen auferstanden!

Mein Gott, und welche Erinnyen! Da ist Coutant, ein ehemaliger Mechaniker, ein Mann mit wirr durcheinanderhängenden Pudellocken und revolutionärer, 25 langflatternder Krawatte; er hat vor einem Jahre die Gattin eines Arbeitskollegen entführt, die sich in das revolutionäre Genie verliebt hatte, und hat dann eine ziemlich komische Rolle im Ehescheidungsprozesse gespielt. Er schreit für zehn, und von seinem tiefroten Gesichte trieft der Schweiß. Dann Vaillant, ein ehemaliger Chirurg, Politiker schon in den Kommunetagen, ein kleiner, fetter Mann mit weißem Schädel und einer großen Brille auf der dicken, roten Nase. Dann Legitimus, ein Neger von Guadeloupe, der eine Art Niggertanz aufzuführen scheint, Dejeante, ein Hutmacher, und eine Anzahl ganz junger Leute, die den mageren Gallifet noch heftiger hassen, da sie nur von Hörensagen wissen, was er eigentlich getan hat.

Während der ganzen Sitzung währt das Geschrei – und je später es wird, und je mehr die Hitze im Saale zunimmt, desto tobender, wahnsinniger wird es. Der Deputierte Mirman steht auf der Rednertribüne, ein Bursche mit einem langen, rotblonden, spitzgeschnittenen Vollbart und frisierter, geölter Mähne, ein widrig hohler Phrasenschwätzer, der den entrüsteten Biedermann spielt – ein Individuum, das Taine unter »die grünen Früchte der Advokatur« gezählt hätte, die in den Revolutionsjahren das Gros der Revolutionsarmee bildeten. Er nennt die Minister »Schurken und Mörder«. »Das Land braucht Sie nicht!« ruft er ihnen pathetisch zu. »Schurken und Mörder!« brüllt und heult die Kammer, und zweihundert Arme strecken sich drohend gegen die Minister aus, und oben über dem Saale flattern die bunten Fächer auf und nieder, wie geängstigte Schwalben in einem Orkan.

26 Waldeck-Rousseau sitzt regungslos auf seinem Platz. Er weiß sich meisterhaft zu beherrschen – er gleicht mehr einem kühlen Engländer als einem Franzosen – aber seine eiserne Ruhe ist gespielt. Er hält die Fäuste in den Taschen des blauen Jaketts vergraben, seine Kinnbacken arbeiten nervös. Millerand liest scheinbar eifrig in einem Buch. Es ist verabredet, daß weder er noch Gallifet sich rühren dürfen, um die Meute nicht noch mehr zu reizen. Während die Kammer um ihn herum kreischt und tobt, liest er. Gallifet blickt fest in den Tumult; dann und wann beugt er sich mit einem Lächeln zu seinem Nachbarn Caillaux, um die Namen der Hauptschreier zu erfahren. Und seine Ruhe reizt die Wütenden noch mehr und sie verdoppeln ihr betäubendes Geschrei: »Mörder! Mörder!«

* * *

Wie sich über dem Bett der Märchenkinder zwei Feen streiten, wie über dem Haupte der Hunnenkämpfer in der Luft noch die Geister miteinander stritten, so streiten sich über dem Haupte Gallifets unsichtbar zwei Legenden – eine gute und eine böse. Es gibt zwei Gallifets: den »glänzenden Marquis« und den »Bluthund und Mörder«. Zwei Gallifets der Legende!

Welches der Memoirenwerke aus dem Kaiserreich man auch aufschlägt, man begegnet fast überall dem ersten Gallifet, dem glänzenden Marquis. Er ist der geistreich-spöttische, abenteuerlustige, todverachtende Held, der überall, auf der Krim, in Algier, in Italien, in Mexiko, Kriegestrophäen und Frauenherzen erobert. Er 27 führt die Reiterregimenter in der Schlacht mit derselben lustigen Eleganz, wie er am Kaiserhofe die Quadrillen führt. Man sagt, daß ihm in Mexiko eine Granate einen Teil des Unterleibes fortgerissen, und daß er das fehlende Stück durch eine silberne Platte habe ersetzen lassen. Er selber sagt lachend, als das Silber im Werte fällt: »Meine Platte ist um fünfzig Prozent entwertet, was werden meine Gläubiger sagen!« Er überwindet im Duell berühmte Schläger und Schützen und im Zweikampf der Liebe berühmte Schönheiten des Hofes und der Stadt. Und wie es den glücklichen Helden der Legende so geht, man schreibt ihm alle witzigen Worte zu, die im Umlauf sind, und alle kühnen Taten, deren Vollbringer man nicht kennt. Daß er mutig bis zur Tollkühnheit ist, hat er bei dem berühmten Reiterangriff von Sedan gezeigt. Daß er die hinreißende Kraft seiner eigenen Tollkühnheit kennt, beweist sein Wort: »Der Soldat wird mir überallhin folgen, wo er mich auf meinem Pferde sehen wird.«

Dann der Gallifet der anderen Legende – der »Mörder«! Die böse der beiden Legenden erzählt, daß der General in den Tagen des Kommuneaufstandes auf der Straße von Versailles einen Zug gefangener Kommunards getroffen habe. Er habe den Zug halten lassen, habe die Ältesten ausgewählt – dreißig sagen die einen, achtzig die anderen, hundert und elf noch andere –, habe ihnen gesagt: »Ihr seid doppelt schuldig, denn ihr habt schon die Revolution von 1848 gesehen und wißt, was das bedeutet!« und habe sie erschießen lassen. Er soll jedem der Opfer gesagt haben: »Ich heiße Gallifet!« und soll eine Zigarette dabei 28 geraucht haben. Andere Erzähler berichten sogar, daß er sein Pferd an dem Zuge habe entlang schreiten lassen und diejenigen gewählt habe, denen das Tier den Kopf zugewandt.

Ich weiß nicht, was an diesen beiden Legenden wahr ist – der General de Gallifet hat nie etwas von alledem, was über ihn gesagt worden, abgeleugnet. Ich weiß nur, daß man in Frankreich Legenden gegenüber nicht skeptisch genug sein kann. Es ist manchmal ein wenig Wahrheit daran (und in diesem Falle gewiß), aber um das Körnlein Wahrheit ist gewöhnlich ein ganzes Gebäude aus luftigen Gerüchten und Sagen erbaut worden.

Der Marquis de Gallifet sitzt jetzt auf seinem Ministerplatz in diesem Saale, der ihm fremd ist, in diesem Geheul, das ihn an das Geheul algerischer Reiterscharen erinnern mag. Der Empfang, den man ihm bereitet, scheint ihn etwas zu überraschen. Aber er ist in jedem Falle mehr überrascht, als erschreckt. Er blickt auf die schreienden, keifenden, wild gestikulierenden Gruppen zuerst wie einer, der nicht recht versteht, um was es sich eigentlich handelt. Als er versteht, wendet er den Blick nicht ab. Er hat einen sehr merkwürdigen Kopf, und alle Photographien, die ich von ihm gesehen habe, lügen. Man denke sich einen Totenkopf mit einer scharf gebogenen Habichtsnase und einem hier und da noch von schwarzen Schatten durchzogenen weißen Schnurrbart. Die hervorstehenden Backenknochen und vor allem die tief in den Höhlen liegenden dunkelen Augen geben dem Kopf seinen seltsamen Charakter. Das Weiß des Schnurrbartes kontrastiert mit dem 29 tiefen Schwarz der Augen und der Lederfarbe des Gesichtes. Man versteht, daß die Legenden diesem Manne seltsame Taten andichten konnten – sehr ritterliche und höchst grausame.

Während man ihm von allen Seiten »Mörder!« zuschreit, zuckt er nicht mit den Wimpern. Seine ehemaligen Freunde, die Monarchisten, blicken ihn ironisch lächelnd an: »Das haben Sie nun davon!« Auch das rührt ihn nicht. Er bewegt sich in diesem Hexensabbat so frei und unbefangen, wie er sich auf den Schlachtfeldern bewegt haben mag. Entschieden ist etwas sehr Mutiges und Loyales in seiner Art. Aber ich bin nicht ganz sicher, daß er sich nicht leise sagt. »Teufel – ich habe damals nicht die Richtigen füsilieren lassen!«

* * *

Die bunten Fächer längs der Bogenwand bewegen sich immer erregter, immer angstvoller, denn der Orkan, über dem sie auf und nieder flattern, wird immer wilder. Alles scheint über diesen unseligen Ministern zusammenzubrechen, die unten in der Niederung sitzen, wie begraben unter der von allen Seiten heranbrausenden Sturmflut. Bis dann plötzlich ein Wunder geschieht. Der alte Brisson treibt, ein neuer Moses, mit einer beschwörenden Armbewegung die Brandung zurück. Es wird ruhig, die Sonne blickt durch die matten Scheiben des Glasdaches, die Minister lächeln befreit, die Fächer bewegen sich langsamer.

Die braven Leute aber, die hier fünf Stunden lang sich die Kehlen heiser geschrien, gehen befriedigt 30 nach Hause. Sie haben »bis in das Delphische Heiligtum« den »Mörder« verfolgt, nun nehmen sie ihren Hut und ihre fünfundzwanzig Frank Tagesdiäten. Wie sehr haben die Pariser recht, wenn sie ihre Stadt mit Athen vergleichen! Man glaubt, am Abend nach dieser heißen Sitzung vor dem alten Theater in Athen zu stehen! Der Himmel ist tiefblau, mit einem leichten Gespinst von schimmerndem Dunst überzogen; die hohe Säulenhalle des Palais Bourbon weckt die Erinnerung an Griechenland, und aus der geöffneten Tür des Theaters – oder des Parlamentes – kommen die Darsteller der Erinnyen, die den Kothurn abgeschnallt haben und nun harmlos und friedlich heimwärts gehen, um dem Bacchus oder selbst dem Eros zu opfern. 31

₺73,90