Kitabı oku: «Pariser Tagebuch», sayfa 4

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Die Schwalben von Paris

Die galanten Chroniqueure der Boulevardblätter nennen die Arbeiterinnen der Modeateliers, die kleinen Schneiderinnen, Näherinnen, Putzmacherinnen, die »Schwalben von Paris«. Das klingt sehr zierlich und sehr kokett, und es ist eigentlich wahr, daß in dem großen Bilde von Paris diese Arbeiterinnen ein wenig wie die Schwalben sind – die Schwalben, die zu gewissen Stunden in langen Schwärmen die Straßen durchziehen, die Schwalben, die, besonders aus der Ferne, so leichtbeschwingt und graziös erscheinen, die Schwalben, von denen man bald froh bewundernd »ach, diese niedlichen Schwalben!« sagt, und dann wieder, leise bedauernd: »ach, diese armen –!« Viele moderne Zeichner haben diese kleinen Pariserinnen auf dem Papier verewigt, jeder hat sich aus dem Schwarm seinen eigenen »Typ« herausgelesen: Heidbrink das kräftige, breitschulterige Mädchen mit der losen, ondulierten, über den Ohren locker gewölbten Frisur, Steinlen das magere, blasse, frühreife Großstadtgewächs, frisiert »à la chien«, Willette das tänzelnde, elegante Watteaupüppchen mit den jungen, kindlichen Formen. Wenn man abends nach sieben durch die Rue Tronchet und die Rue Auber den großen Boulevards zuschreitet, trifft man sie alle – all diese »Typen« und noch viele andere.

50 Es ist dann, als ob eine Armee, eine weibliche Armee, sich durch die Straßen ergösse – sie überflutet das Trottoir, steigt nach Batignolles oder Montmartre hinauf, oder erstürmt die steinernen Treppen der Gare Saint Lazare, um in die entlegeneren Faubourgs oder in die Vororte zu fahren. Es kommen die verschiedensten Alter und die verschiedensten Gattungen. Es kommen blutjunge, frische, lachende, mit flinkem Gang und noch unbesiegter Fröhlichkeit, und bleiche, kränkliche, mit schiefen Hüften und gekrümmtem Rücken. Fast alle tragen auf den Schultern einen Kragen aus schwarzem Stoff, der bis zur Taille herabhängt und bald runde, jugendliche, bald magere, spitzige Schultern ahnen läßt. Die meisten haben jene halb unbewußte, harmlose Koketterie, dieses echt Weibliche der Pariserin. Andere sind weniger harmlos. Alle unterscheiden sich durch zwei Dinge von den Arbeiterinnen anderer Städte: sie sind besser frisiert und besser gestiefelt.

Die einen haben es eilig und suchen die Voranschreitenden zu überholen, andere gehen etwas gemächlicher, wenden sich erfreut um, wenn ein Herr ihnen nachblickt – neugierig zu sehen, ob der Don Juan der Straße ihnen folgen wird. Die wenigsten denken in diesem Augenblick ernsthaft an Abenteuer – sie sind fast alle nur begierig, nach Hause zu kommen. Sogar diejenigen, deren geputzte Hüte und deren perlenbesetzte Mantillen offen davon zeugen, daß sie noch andere Einkünfte haben, als die einer kleinen Arbeiterin, haben um diese Stunde meist wenig Lust, sich lange mit Torheiten aufzuhalten – sie gehen tänzelnd ihren Weg, halten das Kleid mit beiden Händen gerafft und ihre Hände 51 verraten, daß auch sie noch nicht ganz zur »feinen Welt« gehören. Aber was nicht ist, kann werden.

An der Ecke der Boulevards, bei der Oper, schwillt der Strom noch stärker an. Sie kommen aus der Rue de la Paix, aus der Avenue de l'Opera, aus der Rue du 4. Septembre. Einzeln, zu zweien, untergefaßt und in ganzen plappernden Banden. Nach ihrem Äußeren, ihrer Haltung, ihrem Blick kann man sie in Klassen einteilen – in die Klasse derjenigen, die mühselig von ihrer Arbeit leben, auf den Ehemann hoffen, der so oft nicht kommt – in die Klasse derjenigen, die einen Schatz haben, den sie lieben, von dem sie vielleicht auch erwarten, daß er sie heiratet, und der sie oft nicht heiratet – in die Klasse der Praktischen, der Streberseelen, die sich verkaufen . . . »es kann auch ein alter Herr sein!« Es ist schwer, zu sagen, welche der drei Klassen die zahlreichste ist. Fast alle haben sie einen kleinen schwarzen Pompadour in der Hand, – aber der Inhalt, die Bestimmung des kleinen Beutels ist sehr verschieden. Die einen haben in ihm ihr Frühstück zum Atelier getragen und bringen jetzt irgend eine Arbeit darin zurück, die zu Hause beendet werden soll – die anderen tragen in ihrem Beutel ein zerknittertes Briefchen, einen Spiegel und eine Puderbüchse. Man kann aus dem Inhalt des Beutels auf die Moral der Besitzerin und aus der Moral auf den Inhalt des Beutels schließen. Die Moralfrage ist nur zu oft eine Beutelfrage.

Aber wenn man ohne poetische Befangenheit ganz nüchtern diese Schar vorübereilen sieht, wieviel arme, früh vom Leben zerzauste Schwalben zählt man darunter!

* * *

52 Der ärgste Feind der Poesie ist die Statistik. Ich habe einige Zahlen zur Hand, welche besagen, wie diese Schwalben leben, und diese Zahlen klingen gar nicht poetisch. Ich verdanke sie einer Aufstellung des Akademikers d'Haussonville und einer Schrift von Ch. Benoist »Les ouvrières de l'aiguille à Paris«.

Eine Couturière, also eine ausgebildete Schneiderin – die »Apprentie«, das Lehrmädel, verdient gar nichts – steht sich, wenn sie in einem ersten Hause, zum Beispiel in den Ateliers der Rue de la Paix, arbeitet, auf etwa 1350 Franks jährlich. Sie erhält etwa fünf Franks pro Tag, während der beiden Monate der »toten Saison« nur die Hälfte. Ist sie in einem Atelier zweiten Ranges angestellt, verdient sie etwa 1000 Franks im Jahr. Das ist nicht viel, aber es gibt Schlimmeres. Und die Modistinnen, die bei den bekannteren Putzmacherinnen arbeiten, sind noch besser gestellt. Die »Apprentie« erhält nichts, die »Appreteuse« schon 25–100 Franks monatlich, die »Garnisseuse« 200 und selbst 300 Franks. Das ist einfach das große Los. Dazu kommt noch, daß in all diesen Ateliers den jungen Damen ein Dejeuner serviert wird. Und ich spreche gar nicht von den »Premieren«, diesen Künstlerinnen der Pariser Mode, die 500 Franks und mehr verdienen, den reichen Freund, den sie gewöhnlich haben (es kann auch ein Plural sein), gar nicht so notwendig brauchen und an Eleganz mit den Elegantesten ihrer Kundinnen wetteifern.

Aber dann sind da die Hemdennäherinnen, die mit 50 Centimes für das Hemd bezahlt werden und dabei oft ohne Arbeit sind – die Mädchen, die für den Engroshandel oder die Magazine mit fertigen Anzügen 53 arbeiten und mit schwerer Mühe 1,80 Franks am Tage verdienen, die Mützenarbeiterinnen, die nach zwölf Stunden täglicher Arbeit einen Wochenlohn von 11,50 Franks nach Hause tragen, die Blumen- und Federarbeiterinnen, die zwar fünf Franks am Tage verdienen können, aber nur während der Hälfte des Jahres Arbeit finden. Am besten bezahlt werden, wie man sieht, die Arbeiterinnen für Luxusartikel – der Durchschnittslohn der Pariser Arbeiterin beträgt etwa zwei Franks. Fabrikarbeiterinnen erhalten einen Durchschnittslohn von 2,50–3 Franks. Aber die Fabrikarbeit ist auch die wenigst angenehme, und wer irgend kann, sucht eine andere Beschäftigung.

Irre ich mich nicht, so sind diese Löhne der Pariser Arbeiterinnen durchschnittlich immer noch etwas höher als die ihrer Berliner Kolleginnen. Es kommt etwas anderes hinzu, das die materielle Lage der Pariser Arbeiterin erträglicher macht: Paris ist noch immer die Stadt, welche die Welt mit allen Modeartikeln versorgt, und diese Modeartikel werden ausschließlich von weiblichen Arbeitskräften hergestellt. Die Nachfrage nach Arbeiterinnen ist also größer. Aber andererseits ist das Leben in Paris auch kostspieliger als das Leben in Berlin, und eine Arbeiterin, die nicht in ihrer Familie lebt und für zwei Franks täglich wohnt, ißt und sich sauber kleidet (denn sie ist immer sauber gekleidet), ist zweifellos ein ebenso großes Finanzgenie, wie der gewaltige Turgot, der Baron Louis, Herr v. Witte oder Herr v. Miquel.

Trotzdem scheint die Pariser Arbeiterin heiterer, zufriedener und dadurch hübscher als die Arbeiterin 54 anderer Städte. Wie kommt das? Gewiß ist es zunächst eine Folge des leichteren französischen Blutes, des glücklicheren Temperaments. Aber auch andere Gründe spielen mit.

Der Arbeiter und der kleine Mittelstand sind im allgemeinen bereits besser situiert. Man ist bereits von Hause aus etwas weicher gebettet. Die Nahrungsverhältnisse in Paris sind gesünder als anderswo. Paris hat diese zahllosen »Rôtisserien« und diese zahllosen kleinen »Marchands de Vin«, bei denen man für sechzig Centimes oder für achtzig eine gesunde und nahrhafte Kost erhält. Es wird in Paris viel besser gekocht als in anderen Städten, und es ist ganz gleich, ob die Arbeiterin in ihrem Atelier ißt, oder in ihrer Familie, oder bei ihrer Concierge – sie ißt besser als die Berliner Arbeiterin. Ein anderer Grund für ihre größere Zufriedenheit: man läßt sie nach der Frühstücksmahlzeit auf die Straße hinunter. Das klingt wie nichts, und es ist enorm viel. Wer um halb eins durch die Straßen geht, in denen sich die großen Schneider- und Modeateliers befinden, sieht sie belebt von »Schwalben«. Untergefaßt, ohne Hut, das lose gesteckte Haar dem Winde preisgegeben, promeniert, lacht, schwatzt und schäkert diese junge Gesellschaft in den Straßen. Man fühlt sich frei, man macht sich Besuche und Gegenbesuche, man empfängt seinen Schatz und geht eine halbe Stunde mit ihm spazieren. Und diese halbe Stunde ist so erfrischend, daß die zehn oder zwölf Arbeitsstunden erträglicher scheinen.

Und dann ist Paris eben Paris. Diese Stadt hat sehr merkwürdige Eigenschaften. Sie wirkt wie eine Hobelmaschine, die alle Elemente, die in sie 55 hineingeraten, glättet, poliert, verfeinert. Man schicke eine Bäuerin nach Paris – sie wird nach einem Jahr bereits den »Pariser Schliff« besitzen. Und Paris wirkt auch wie eine Elektrisiermaschine. Es liegt so viel Anregung in der Luft, daß es fast unmöglich ist, hier gänzlich dumpf und stumpf zu werden. Ohne es zu wissen, fangen diese jungen Arbeiterinnen täglich tausend verschiedene Anregungen ein. Ihre Intelligenz wird geschärft, ihr Interesse für zahllose Dinge, die nicht zu ihrer täglichen Arbeit gehören, wird geweckt. Darauf, daß diese Dinge nicht zu ihrer täglichen Arbeit gehören, gerade darauf kommt es an. Man plappert in diesen Ateliers vom neuen Theaterstück, vom »Salon«, von allem, was man in der Zeitung gelesen, und was man selbst gesehen hat. Man erwirbt sich eine kleine, winzige, dünn aufgetragene, oberflächliche Bildung – aber diese kleine, oberflächliche Bildung verhindert diese Mädchen, blinde und taube Lasttiere zu werden.

In »Cyrano de Bergerac« binden die galanten Gascogner das Schnupftuch der reizenden Roxane an eine Lanze und diese improvisierte zierliche Fahne läßt sie vergessen, daß sie hungrig und müde sind – sie werfen sich begeistert in den Kampf. Man soll dafür sorgen, daß die Leute, welche arbeiten, auch zu essen haben – aber es ist sehr schön, wenn auch das kleine Schnupftuch Roxanens über ihnen weht, die kleine Fahne, zu der man von der Arbeit aufblickt, und unter der man leichter kämpft.

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56 Das Buch des Herrn Benoist lehrt, daß die Arbeiterin der Pariser Modeateliers ihre ermüdende Tätigkeit selten länger als bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahre ausüben kann. Hat sie nicht einen Mann gefunden oder einen Freund, der rechtzeitig für sie gesorgt hat, oder hat sie nicht andere Hilfsquellen, so fällt sie ins Elend, sinkt sie im besten Falle zur »apprêteuse« herab. Das Kassenwesen ist noch sehr mangelhaft, die Armenverwaltung einfach jämmerlich. Diese Armenverwaltung, der ungeheure Mittel zur Verfügung stehen, und die mit einem wahnsinnig kostspieligen Apparat, einem parasitenhaften Beamtenheere arbeitet, ist ein Kapitel für sich. Sie hat das Mittel erfunden, Millionen in nichts aufzulösen.

Aber auch da wieder greift dasselbe Paris, das so viele Wunden schlägt, mildernd ein. Weitaus das Beste in dieser Bevölkerung von Paris sind gerade die niederen Stände. Sie sind borniert, kurzsichtig, haben tausend Fehler, aber sie sind weniger egoistisch als die höheren Klassen. Besonders die Frauen des Arbeiterstandes sind gutmütig, hilfsbereit und halten untereinander zusammen. Ein bißchen Neugierde, ein bißchen Wichtigtuerei (man ist »die Reichere«!) und sehr viel Gutmütigkeit treiben sie gewöhnlich, sich der ärmeren Nachbarin anzunehmen.

Und noch etwas erleichtert das Los der Arbeiterin: die Moralheuchelei, die anderswo beliebt ist, ist in Paris weit seltener. Die weich gebetteten Pharisäer, deren Mut im Verurteilen der anderen, der vom Schicksal weniger Begünstigten, so erstaunlich ist, dominieren hier nicht. Ich weiß von Fällen, wo eine junge Arbeiterin die Bestimmung der Urmutter Eva erfüllt 57 hatte, obgleich sie ebensowenig standesamtlich mit ihrem Adam verbunden war wie das paradiesische Weib. Die junge Arbeiterin gehörte zu einem der bescheideneren Modeateliers. Ich befürchte, hätte sie in einer anderen Stadt gelebt, sie wäre an die Luft gesetzt worden, im Namen der Moral. Hier verstand das ganze Atelier, daß die höchste Moral die Menschlichkeit sei, und das ganze Atelier, die Besitzerin voran, adoptierte das Kind als die »Tochter des Regiments«.

Das sind gewiß nur einzelne Fälle und vielleicht nur Ausnahmen. Aber nicht zu leugnen ist, daß auch im allgemeinen das Pharisäertum hier nur eine geringe Macht hat. Man begreift und man verzeiht. Man findet vielleicht eine nicht völlig einwandfreie Entschuldigung, aber doch eine leise Wahrheit in dem Wort, das eine kleine Arbeiterin sagte, als ein taktloser Witzbold sie einen gefallenen Engel genannt: »Pah, wenn ich nicht nur am Rande vom Himmel gesessen hätte, wäre ich gewiß auch nicht hinuntergefallen!« 58

Das Seebad der ehrbaren Leute

Trouville, Villers-sur-Mer und Cabourg liegen dicht nebeneinander auf der Küste der Normandie. In einer halbstündigen Wagenfahrt kommt man von Trouville nach Villers, von Villers nach Cabourg. Man sieht von Villers aus die Häuser von Trouville, die bunt und zwischen Gärten auf einer Küstenbiegung stehen, aber man sieht nicht die Häuser von Cabourg, die sich hinter einem dunkelfelsigen, struppig bewachsenen Vorgebirge verstecken. Was man von überall aus sieht, von Trouville, von Villers-sur-Mer und von Cabourg, das ist das Licht des Leuchtturms von Havre, das abends über dem Meere aufzuckt, einen scharfen Strahlenschein auf die Wasserfläche wirft und schnell verschwindet, um schnell wieder zu erscheinen. Und in den fernen Sonnennebeln, in dem silberblauen Meerdunst taucht auch der weit vorspringende Küstenstreifen auf, der den Hafen von Havre schützend umgürtet. Die von Trouville sehen ihn ganz deutlich, die von Villers unterscheiden ihn am Horizont, die von Cabourg ahnen ihn in dem silberblauen Dunst.

Leute, die Toiletten zeigen und andere Toiletten sehen, Eroberungen machen und viel Nützliches mit manchem 59 Angenehmen verbinden wollen – Leute, die Pferderennen und Pferdchenspiele brauchen, und die den Luxus und die rotröckigen Zigeuner und das große Trara der Bois-Restaurants nicht entbehren können, gehen nach Trouville. Leute, die reich sind und ihren Reichtum nicht gern verbergen, die eine hohe Gesellschaft und ein hohes Spiel lieben, gehen nach Cabourg. Leute, die ihren Besitz gern in Ruhe genießen, die sich von ihrer Arbeit und ihren Geschäften in Frieden erholen und sich von ihren Finanzoperationen in aller Stille reinbaden wollen – die soliden, die ernsthaften, und die ehrbaren Leute gehen nach Villers.

Dieses Villers-sur-Mer ist einer der hübschesten Badeorte auf der normannischen Küste. Es liegt weit poetischer als Trouville, das auf eine etwas kahle und nüchterne Stelle der Küste hingebaut ist. Ein Teil von Villers zieht sich unten am Strande hin, ein anderer lehnt sich an einen breiten, bewaldeten Hügel und steigt bis zum Gipfel des Hügels hinauf. Überall, unten und oben, in der Ebene und auf dem Hügel, sieht man sehr viel Grün, sehr viel schattiges Laub, denn Garten fügt sich an Garten, und breite Baumalleen durchschneiden den Ort. Aber in ganz Villers gibt es eigentlich nur zwei kleine Hotels oder doch nur zwei Hotels, die in Betracht kommen. Sie sind gut, aber weit einfacher, als die pompösen Hotelpaläste in Trouville, teuer, aber nicht so haarsträubend teuer wie diese Sommerresidenzen der Pariser Demimonde. Die zwei kleinen Hotels verschwinden in dem großen und bunten Gewirr der Villen. Denn Villers ist wie Cabourg ein Villenort und fast nur ein Villenort. Es gibt hier Villen von allen Größen, 60 von allen Formen, in allen Stilen. Villen mit großartigen, von Mauern umschlossenen Parks, Villen mit runden und spitzen Türmen, mit Erkern, Balkons und Veranden. Villen im Stil der roten Backsteinbauten der Renaissance und burgartige Villen und Blockhausvillen, die den alten Bauernhäusern nachgebildet sind. Villen, groß wie Schlösser, die eine Familie allein bewohnt, und Villen, klein wie Fischerhäuser, die an mehrere Familien vermietet werden. Villen am Strande, in den Alleen, auf dem Hügel . . .

Ich entfliehe fast in jedem Sommer, zum mindesten für ein paar Tage, zu einem der Badeplätze der Normandie. Jedesmal, wenn man aus dem schwitzenden Paris hierher kommt, erscheint eines wieder neu, überraschend und bestrickend: dieser große Lichtzauber der normannischen Küste. Man glaubt, nie und nirgends schon eine solche Fülle von Licht gesehen zu haben wie hier. Man glaubt das besonders zur Zeit der Ebbe, wenn das Meer zurückgetreten ist und im Entweichen eine endlose braungelbe Ebene, die von silberblauen Seen und Kanälen durchfurcht ist, enthüllt hat. Dann entsteht aus dem tiefblauen, leuchtenden Meere, aus den silberblauen Seen, die vom Sande wie Kristallspiegel eingerahmt sind, und aus den langen, braungelben Streifen eine einzige, gleichmäßige, klare Fläche, eine Fläche, die weit und unermeßlich scheint, wie die Wüste Sahara, und über die mit heiterer Pracht der unendliche Strom von Licht sich ergießt. Die Ebene ist wunderbar weit, die Luft ist wunderbar rein, und man sieht jedes Pünktchen, das hinten am Horizont, stundenweit entfernt, auf dem gelben Sande oder in 61 den silbernen Seen auftaucht. Es ist, als müßte man die Spinnen und Käfer sehen, die bei Trouville über den Strand laufen. Jeder farbige Fleck leuchtet zehnfach in diesem Licht, und die Formen und die Umrisse der Dinge zeichnen sich scharf am lichtgebadeten Boden ab. Man sieht die runden, rot und weiß gestreiften Zelte, die weit drüben am Rande des Wassers stehen, und sieht den blauschwarzen Schatten, den sie auf den Sand werfen. Das weiße Kleid eines kleinen Mädchens, das im Sande spielt und der rote Badeanzug einer Dame, die ins Meer geht, leuchten am Horizont. Ein Knabe hopst mit dünnen, nackten Beinchen, ein zierliches Krabbennetz schwingend, in der Ferne durch die Wasserlachen, und an dem Vorgebirge, hinter dem sich Cabourg verborgen hält, ruht ein rosiger Sonnenschirm, wie eine breit gewölbte La France-Rose.

Dieses weite Strandbild ist graziös, fein und heiter. Diese Grazie, diese Feinheit und Heiterkeit enthalten nicht ein Atom von Melancholie. Fast überall sonst ruht immer ein Tropfen von diesem Gift im Becher. Die Küsten Italiens mit ihrer brennenden Schönheit haben etwas Schmerzvolles, die griechischen Küsten mit ihrem dunklen, entlaubten Gestein und ihren Tempelresten haben etwas Tragisches, und die nordischen mit ihren Dünen, mit dem Aufruhr ihrer Wogen haben nichts Heiteres. Die normannische Küste läßt die ernsten Gedanken nicht aufkommen, die Sonnenuntergänge haben hier nicht die dämonische Großartigkeit der Sonnenuntergänge im tiefen Süden und im hohen Norden, die Abendwölkchen sind wie die Wölkchen der Rokokobilder, auf denen kleine, leichte Liebesgötter sich schaukeln, die Seen, welche das Meer 62 auf dem Strande zurückläßt, haben die Silberfarbe der Libellenflügel, und alles ist glücklich und graziös, lichtflimmernd und zierlich, wie das Spiel der Libellen.

* * *

Ein französischer Literaturhistoriker, Gaston Deschamps, war vor kurzem in Amerika. Er erzählt in einem seiner Reiseberichte, daß ein Landsmann, der in irgend einer Stadt der Vereinigten Staaten französischer Konsul ist, sich ihm gegenüber sehr bitter über die heimischen Romanschriftsteller geäußert habe. Warum schreiben diese Schriftsteller nur noch Ehebruchs- und Kokottengeschichten? Sie geben den Fremden ein falsches Bild von der französischen Gesellschaft, sie schädigten den guten Ruf des französischen Volkes, sie beeinträchtigten sogar das Geschäft.

Dieser Konsul hat ganz recht. Die französischen Romanschreiber verbreiten wirklich höchst irrige Begriffe. Man muß ihnen nicht glauben. Sie sind wie die Spekulanten, die viel mehr Getreide oder viel mehr Papiere verkaufen, als sie je besessen haben. Sie bringen viel mehr Laster auf den Markt, als je vorhanden sind. Das ist ein Spekulationsmanöver, nichts weiter. Sie verkaufen mit Vergnügen den guten Ruf ihrer Landsleute, um ein paar Romane mehr zu verkaufen. Hinter den paar tausend Familien (ich spreche nicht von der Demimonde, von der Geschäftswelt des Lasters), die in Paris eine Art Vorhut bilden, freischärlerhaft auftreten, etwas wild leben und sich oft noch wilder gebärden, gibt es die große Armee der ehrbaren Leute, die ungefähr dieselben Ideen, Ansichten und Ideale haben, wie die 63 ehrbaren Leute in anderen Ländern und anderen Städten, sich praktisch verheiraten, ihre Kinder gut erziehen und ihren Wohlstand mehren.

Villers-sur-Mer ist das Seebad der ehrbaren Leute. Hier herrschen die Weisheit mit Renten und die Jugend mit großer Mitgift. Hier lebt man friedlich und harmlos, und jeder lebt, wie es ihm paßt. Jeder badet, wann und wo es ihm beliebt. Die berühmte »alte Kultur«, die man so oft in Frankreich bewundert, zeigt sich nie so sehr, wie dann, wenn die Franzosen und Französinnen im Badeanzug stecken. Man hat oft geraten, das Zusammenbaden der Damen und Herren auch in deutschen Bädern zu erlauben, man hat sogar Versuche gemacht, es einzuführen. Aber die liebenswürdige Ungeniertheit und die freie Natürlichkeit, mit denen in Frankreich alles zusammen in dasselbe Bad geht, lassen sich nicht importieren, sie sind das Resultat einer jahrhundertelangen Gewöhnung und Erziehung. Bei uns denkt man zu viel, und das Denken ist gefährlich. Die Franzosen und die Französinnen gehen, ohne viel zu denken, ins Meer, und das Wasser bleibt ein reinliches Element.

In Villers kleiden sich die einen in dem Badehause am Strande um, die anderen in gemieteten Badebuden, die sie irgendwo am Strande aufstellen und noch andere einfach im Hotel oder in ihren Villen. Sie spazieren im Bademantel, den Strohhut oder die Kappe auf dem Kopfe, aus den Straßen heraus, vom Hügel herunter, über die Promenade und den Strand. Man könnte sie für Mönche und Nonnen halten, wenn sie in ihren Kapuzenmänteln so aus allen Winkeln hervorwimmeln. Niemand macht sich über sie lustig, niemand nörgelt. 64 Die persönliche Freiheit der Leute im Badeanzug wird von allen respektiert. Es fehlt nicht an klatschsüchtigen Seelen, aber die Klatschsucht hört hier gerade dort auf, wo sie anderswo anfängt.

Am Nachmittag sitzt man vor seinem rotweißen Zelt oder fängt Krabben in den Wasserlachen, oder man macht einen kleinen hygienischen Spaziergang auf der Strandpromenade. Man trifft dort nur wenig allzu geputzte und geschminkte Frauenzimmer. Eine ehrbare Einfachheit ist guter Ton. Knickebeinig, mit halb verrenkten Schultern, krumm und schief, im weißen Röckchen und in weißen Höschen kommt Lemaitre den Weg herauf, begleitet von seiner alten Egeria, an der wenigstens die klerikale Gesinnung waschecht ist, und ihrem winzigen frisierten Hündchen. Der Begründer der »Patrie Française«, dieser neuen Liga, schwingt den knotigen Stock und springt mit den knickrigen Beinchen über die Steine. Seit er Frankreich von der Verräterbande befreien will, und täglich einen Gegner mit Schmutz bewirft, fühlt er sich wie Jung Siegfried, der Held. Dann und wann führt er, auf einen Wink der Dame, das frisierte Hündchen zur Seite, das in einem natürlichen Drange dasselbe tut, was er auf dem Wege der Polemik vollbringt. Wie jeder französische Badeort, hat auch Villers-sur-Mer ein Kasino. Zwei niedrige Holzbauten am Strande, die ein schmaler Konzertplatz trennt. Links der Lesesaal mit drei oder vier Zeitungen, ein paar illustrierten Heften, Billard und Schachbrett; rechts der Tanz- und Konzertsaal, in dem auch die Tische mit dem unvermeidlichen Pferdchenspiel stehen. Des Morgens üben hier einige Schülerinnen eilig und ohne 65 Begeisterung ihre Tonleitern. An zwei oder drei Abenden tanzen hier frisch gebadete Mädchen. Und nachmittags und abends sitzen auf dem schmalen Konzertplatz ein paar Badegäste und essen Eis, während die Geigen die schon genug gepeinigten Hugenotten zerkratzen.

Der Punkt, wo das Badeleben von Villers-sur-Mer wild, gewagt und zum Lasterleben wird, ist der Platz bei den »Petits Chevaux«. Allabendlich, um neun Uhr erscheinen hier zwei alte Damen mit Kapottehut und Pompadour und setzen sich an den Tisch. Sie lächeln vertraut dem Croupier zu, der erst nach ihnen kommt und einen hölzernen Kasten mit der Kasse auf den Tisch stellt. Dann läßt sich jede der beiden alten Damen von dem Croupier ein Fünf-Frankstück in zehn Fünfzig-Centimesstücke umwechseln, der Croupier sagt: »Faites votre jeu! Rien ne va plus!« und das teuflische Spiel beginnt. Gewöhnlich drängt sich eine naseweise Kinderschar neugierig an den Tisch, und bisweilen kommen zwei oder drei zerstreuungsbedürftige Leute und riskieren den Einsatz von fünfzig Centimes. Aber ich habe einen unbestimmten Argwohn . . . Es soll sparsame Familien geben, in denen der Kaffee sämtlicher Familienmitglieder mit einem Stück Zucker versüßt wird. Jedes Kind darf einmal an dem Zucker lecken. Ich hege den Argwohn, daß bei den »Petits Chevaux« in Villers-sur-Mer gewöhnlich nur mit einem einzigen fünfzig Centimesstück gespielt wird, das immer hin und her wandert und bald in diese, bald in jene Seele Süßigkeit träufelt. Dieses Seebad der ehrlichen Leute ist mir lieber als Trouville mit seinem Parfüm, als Cabourg mit seinem Luxus, als Ostende mit seiner – oft so falschen – Eleganz. Hier 66 stärken sich die Nerven und die Verdauung, hier werden die Menschen gesünder und bisweilen sogar besser. Hier erwacht die Freude an der Natur, das Interesse an den Mitmenschen. Man beobachtet, man prüft, und man erwärmt sich für jedes Detail. Man kennt bald die Leute, die auf demselben Strande wohnen, man weiß ihre kleinen Eigenheiten, man lächelt über ihre verzeihlichen Schwächen. Man kümmert sich mehr, als man das in der großen Stadt vermag, um seinen Nächsten und sein Weib. Man sagt: »Die dicke Dame mit der Warze hat heute am Klavier gesungen«, und »der Herr, der immer mit der Nase schnüffelt, hat heute schon zweimal die Hosen gewechselt.« Man fragt sich, ob das Vermögen des Villenbesitzers nebenan auf redliche Weise erworben worden, und gewöhnlich verneint man sich die Frage. Kurz und gut, man wird hier draußen in der freien Natur, fern von dem schlechten und verdorbenen Paris, ein guter Mensch, ehrbar unter den Ehrbaren. Das Leben in den stillen, harmlosen Orten züchtet solche Charaktere. 67

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