Kitabı oku: «Pariser Tagebuch», sayfa 3

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Der Concierge meines Freundes
(1899)

Einer meiner Freunde hat einen Concierge, mit dem ich – während mein gewöhnlich unpünktlicher Freund auf sich warten läßt – gern über die aktuellen und die immerwährenden Fragen der Politik, der Philosophie und der Nationalökonomie plaudere. Er heißt »Monsieur Jules«, und seine Frau heißt »Madame Jules« – obgleich Jules nicht der Nachname, sondern der Vorname des Ehemannes ist. Neben diesem Elternpaare ist die Tochter zu erwähnen: Mademoiselle Henriette, die eine lockere, »ondulierte« Haarfrisur trägt, ganz wie ein Fräulein erzogen worden und gegenwärtig mit dem Sohn des Viktualienhändlers in der ersten Seitenstraße links verlobt ist.

Daß ich so gern mit Monsieur Jules über Menschen und Dinge rede, kommt nicht nur daher, daß Monsieur Jules ein sehr kenntnisreicher Mann ist, der täglich drei Zeitungen liest: Paul de Cassagnacs bonapartistische »Autorité«, Rocheforts »Intransigeant« und das »Petit Journal«, und der allmonatlich am Bankett seiner Arondissementsgenossenschaft teilnimmt. Ich schätze die persönliche Meinung des Monsieur Jules, aber sie scheint mir noch um vieles wertvoller dadurch, daß sie als Ausdruck der Geistesanschauung eines ganzen Standes, einer 32 ganzen Klasse gelten kann – und zwar einer sehr wichtigen Klasse: des französischen Kleinbürgertums. Der Pariser Concierge ist durchaus nicht mit dem Berliner Portier zu verwechseln – er hat mehr Machtvollkommenheiten, mehr Pflichten und Rechte als dieser, und darum naturgemäß eine höhere Auffassung seiner eigenen Persönlichkeit. Der Pariser Mieter hat keinen Hausschlüssel, und er erhält seine Briefe nicht direkt vom Postboten. Der Concierge öffnet die Tür und nimmt die Briefschaften entgegen. Er weiß, wer zu seinen Mietern kommt, und er weiß gewöhnlich auch, wer ihnen schreibt. Das gibt ihm eine große Gewalt über das Haus und macht ihn zum nützlichen Helfer und Ratgeber des Staates und der Polizei, welche die wahre Repräsentation des Staates ist. So erwacht in ihm, neben der Behäbigkeit des Mittelstandes, das gewichtige Selbstbewußtsein der Bureaukratie. Er ist nicht nur ein Mitglied des Kleinbürgertums, er ist eine seiner edelsten Blüten.

Und darum plaudere ich so gern mit Monsieur Jules, besonders in Zeiten, wie den gegenwärtigen, wo es gut und nützlich ist, zu wissen, was und wie die wirklich autorisierten Vertreter des Volkes denken. Vielleicht hätte ich in meinem eigenen Hause die gleichen Gespräche führen, dieselben Erfahrungen einsammeln können. Das Sprichwort sagt: »Jeder kehre vor seiner Tür« – aber es sagt nicht: »Jeder bleibe bei denen, die vor seiner Tür kehren.« Und dann, es ist der Anfang aller Lebensweisheit: man soll in seinem eigenen Hause keine Liebschaften anbandeln, und man soll in seinem eigenen Hause nicht Psychologie treiben.

* * *

33 Monsieur Jules stand im Hausflur an der Tür seiner Conciergewohnung. Durch die offene Tür sah man in das Innere dieses freundlichen Heims, wo an den Wänden Öldrucke und Photographien hingen – darunter eine Photographie aus den Kriegsjahren, welche Monsieur Jules in Kürassieruniform zeigte, mit großen Stiefeln, und eine andere, auf welcher der Sohn des Viktualienhändlers seinen Arm um die schlanke Taille von Mademoiselle Henriette legte. Madame Jules räumte eben die Teller und Gläser vom Tisch. In einer Schüssel lagen noch die abgenagten Knochen eines Huhnes, und in einer Flasche leuchtete der goldblonde Zider. Diese Conciergefamilien sind, wie alle rechten Pariser, Esser von Überzeugung. Neben die berühmte Devise eines alten Adelsgeschlechtes: »Ich dien'!« stellen sie die ihrige: »Ich diniere.« Ein wenig im Hintergrunde, in einem roten Plüschlehnstuhl, saß Mademoiselle Henriette und las – taub gegen alles Geräusch der ideallosen Wirklichkeit – die Gedichte von François Coppée.

Monsieur Jules hatte die Stirn sorgenvoll zusammengezogen, wie er immer tat, wenn er über Politik sprach. Die im Wind und Regen etwas grünlich gewordene schwarze Mütze hatte er aus der geröteten, gefalteten Stirn ein wenig zurückgeschoben. Die beiden Hände hielt er auf der breiten, stämmigen Brust, hinter der blauen Leinenschürze. Und er sagte:

»Ich weiß, was ich weiß. Alle unsere Minister sind verkauft. Unsere Politiker sind unser Unglück. Das alles sind, wie wir zu sagen pflegen, Banditen. Das stinkt von oben bis unten. Aber mich überrascht nichts 34 mehr – ich kenne diese Republikaner. Ich habe sie gesehen . . . Sie werden es nicht glauben, aber es ist nicht eine einzige unter diesen republikanischen Familien, in der es nicht, wie wir zu sagen pflegen, einen Kadaver gebe. Wie in der Familie von M'sieu Felisque«. Mit »M'sieu Felisque« meinte er Felix Faure.

»Ja, wenn wir eine Regierung hätten! Aber das sind, wie wir zu sagen pflegen, nur leere Schläuche. Jeder denkt nur an sich. Ich weiß, was ich weiß. Wir hatten hier einen Staatsrat im Hause wohnen (seine Frau war die Geliebte des Ministers R.), der seine drei Söhne in die Verwaltung gebracht hat. Sie haben die besten Stellen bekommen – und der jüngste war nicht einmal sein Sohn. Wir müssen das dann mit unserem Gelde bezahlen. Und unsere Verwaltung! Ich weiß nicht, ob Sie neulich gelesen haben, daß man die Briefe eines Deputierten aufgemacht hat, der nicht für das Ministerium stimmte. Das ist, wie wir zu sagen pflegen, eine Schweinerei. Und das kommt alle Tage vor!«

In diesem Augenblick brachte der Postbote die Briefe für die Mieter. Monsieur Jules musterte sie mit einem schnellen Blick und warf sie hinter sich auf den abgeräumten Tisch, wo sie zwischen der Schüssel mit Hühnerknochen und der Ziderflasche liegen blieben.

»So wären Sie also für die Monarchie?« fragte ich. Er zuckte die Achseln und entgegnete:

»Tatsache ist, daß man unter dem Kaiserreich mehr Geld verdient hat. Die Kaiserin hat nicht gespart. Sie hat mehr für die Armen getan als die ganze Republik. Ich kann das sagen, ich habe sie noch gekannt. Ich 35 habe damals beim Herzog von Massa gedient. Sie war immer freundlich, und Paris hatte etwas von ihr. Paris ohne Hof ist, wenn ich so sagen darf, wie mardi-gras ohne einen Fastnachtsochsen. Das war ein anderes Leben als heute! Denken Sie, daß der Herzog von Grammont-Caderousse damals in einer einzigen Nacht im Café Anglais für achttausend Franks Spiegelscheiben zerschlagen hat!«

Er schwieg, befangen in seinen Erinnerungen. Im Hintergrunde der Wohnstube ließ Mademoiselle Henriette gerührt und träumerisch die Gedichte François Coppées in den Schoß gleiten. Sie verstand diesen Dichter, der nur für sie geschrieben zu haben schien. Und sie dachte an den Sohn des Viktualienhändlers, an die nahe Hochzeit. Ihre Augen, welche jetzt auf die Photographie des Bräutigams gerichtet waren, waren von weichen, kleidsamen Schatten umrahmt. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.

* * *

An einem anderen Tage, als ich Monsieur Jules wieder sprach, wollte ich die Gelegenheit benutzen, um meine Kenntnisse über die auswärtige Politik zu bereichern. Er hatte eben versichert, daß die Engländer die schlimmsten Feinde Frankreichs wären, und ich fragte ihn, wie er sich nun entscheiden würde, wenn er zwischen England und Deutschland zu wählen hätte. Aber er lehnte alle bindenden Erklärungen ab mit den Worten: »Wir haben eben lauter Minister des Auswärtigen, die nichts verstehen.«

Natürlich sprachen wir auch über die »Affäre«. Er 36 war von Anfang an gegen die Revision gewesen. »Das alles ist nur gemacht, um die Ausstellung zu verhindern,« versicherte er oft. Seine innere Überzeugung ist noch heute, daß der Kassationshof gekauft ist, daß Zola sein Geld in den Goldminen verloren und es in der »Affäre« wiedergewonnen hat, und daß Brisson von den Freimaurerlogen den Auftrag erhalten, die Armee zu zerstören.

»Aber wenn es sich nun wirklich ergibt, daß Dreyfus unschuldig ist,« fragte ich ihn schüchtern – »würden Sie ihn dann auf der Teufelsinsel lassen wollen?«

»Ich weiß, was ich weiß,« entgegnet er – »sie sind alle gekauft, es ist, wie wir zu sagen pflegen, alles Gesindel.«

»Sehr richtig, Monsieur Jules – aber haben Sie nicht gelesen, daß Esterhazy jetzt selber sagt, er habe mit einem fremden Militärattaché verkehrt? Und als andere das behaupteten, hat das Kriegsgericht ihn freigesprochen. Und Picquart sitzt im Gefängnis, weil er das nachzuweisen versucht hat, was Esterhazy heute selber erzählt. Wie reimen Sie das zusammen?«

»Hm – darauf kann ich mich nicht einlassen. Der eine sagt dies und der andere sagt das. Ich bin überhaupt gegen die ganze Preßfreiheit. Alle unsere Zeitungen taugen nichts. Der einzige, auf den ich noch allenfalls etwas gebe, ist Paul.« Dieser »Paul«, auf den Monsieur Jules noch etwas gibt – und auf den alle Concierges in den besseren Stadtvierteln schwören – ist der bonapartistische Draufgänger Paul de Cassagnac. »Paul sagt ihnen wenigstens bisweilen die Wahrheit. Ich kenne ihn sehr gut, er hat mir oft die Hand 37 geschüttelt. Er kam nach dem Kriege oft in die Häuser, wo ich bediente, und er war immer lustig, der Lustigste am ganzen Tisch. ›Monsieur Jules,‹ hat er mir oft gesagt – ›was? Wir beide holen noch mal Elsaß-Lothringen?‹«

»Das, was Sie über Ihre Zeitungen sagen, ist vortrefflich. Aber Sie müssen eingestehen, daß dadurch Dreyfus nicht von der Teufelsinsel runter kommt. Und wenn er unschuldig ist –«

»Es ist eben bei uns alles verfault. Wir haben keine Männer – niemand hat mehr Mut. Sehen Sie doch nur unser Parlament! Das ist, wie wir zu sagen pflegen, die reine Menagerie. Ich bin gegen den ganzen Parlamentarismus.«

»Schön – aber darum haben doch gerade die Leute ein doppeltes Verdienst, die zuerst den Mut gehabt haben, die Wahrheit zu sagen. Und als die Regierung nicht ihre Pflicht getan hat –«

»Die Regierung tut nie ihre Pflicht!«

»Da haben diese Leute die Wahrheit eben ein bißchen lauter hinausschreien müssen. Finden Sie nicht, daß in einem Staate die Gerechtigkeit gewahrt werden muß, und daß, wenn die Regierung, wie Sie sehr richtig bemerken, ihre Pflicht versäumt, es die Pflicht der Privatleute wird, für die verletzte Gerechtigkeit zu kämpfen?«

Er zögert einen Augenblick und sagt dann langsam:

»Ja, natürlich, Gerechtigkeit muß es geben. Aber wir Privatleute haben doch nicht die Pflicht, die Wahrheit zu suchen . . .«

Er zieht die Stirn in Falten und schweigt wieder sorgenvoll. Erst hinterher habe ich erfahren, daß seine 38 letzten Worte ein wörtliches Zitat aus der großen Rede gewesen sind, die Jules Lemaître in der »Liga des Vaterlandes« gehalten hat. Würde ich nicht durch einen Zufall den Text dieser Rede noch einmal in die Hand bekommen haben, nie hätte ich gemerkt, daß diese Worte nicht das eigene geistige Fabrikat des Concierge meines Freundes gewesen.

* * *

Mein Freund ist mit seinem Concierge sehr zufrieden. Monsieur Jules ist fleißig, aufmerksam, sauber, und wenn er eine Indiskretion begeht, so tut er es diskret. Er regiert das Haus mit Strenge, aber wer mit ihm zu reden weiß, findet ihn auch billigen Gründen zugänglich. Madame Jules ist wie ihr Gatte: fleißig, aufmerksam und sauber. Mademoiselle Henriette gehört nicht zu jenen Conciergetöchtern, die man an Orten trifft, wo junge Mädchen nicht hingehören. Man braucht ihr nie das immer peinliche Versprechen zu geben: »Ich werde es dem Papa nicht sagen.«

Das Ideal des braven Monsieur Jules wäre, von der Regierung einen kleinen Posten als Steuereinnehmer, irgendwo in der Provinz, oder eines jener »Tabakbureaus« zu bekommen, welche das Monopol haben, die Bürger mit Zigarren, Zigaretten, Tabak und Streichhölzern zu versorgen. Aber die republikanische Regierung braucht diese Posten und diese Tabakbureaus für die Kreaturen ihrer Kreaturen. Bei diesem großen Stellen- und Ehrenschacher gehen Monsieur Jules und seinesgleichen mit leeren Händen aus – sie sehen ihm aus 39 der Ferne zu, gekränkt, mit gefurchten Stirnen, sorgenvoll und entrüstet über alles, was vorgeht.

Braver Monsieur Jules! Er lebt im heutigen Frankreich in unzähligen Exemplaren! Er repräsentiert diese ganze große Klasse, die, zwischen dem eigentlichen Arbeiterstande und dem eigentlichen Bürgertum, behaglich und doch verdrießlich hinlebt. Er repräsentiert diese kleine und kleinste Bourgeoisie, die immer über die »Herrschaft« klagt, immer grollt, immer kritisiert, und die ihr ganzer Instinkt doch dazu treibt, sich unterzuordnen. Er repräsentiert diese kleine und kleinste Bourgeoisie, die niemals einen Gedanken logisch bis an sein Ende denkt und aus Furcht, sie könnte am Ende eine unangenehme Wahrheit entdecken, sich lieber zu abstrakten Phrasen und allgemeinen Schlagworten flüchtet. Freilich – das hat sie mit vielen anderen gemein . . .

Sie sieht auf der einen Seite den Arbeiterstand, der um einiges kräftiger und unabhängiger ist, und sie blickt mit gelinder Verachtung auf ihn herab. Sie sieht auf der anderen Seite das wohlhabende, satte Bürgertum, und sie blickt mißtrauisch zu ihm hinauf. Sie ist unzufrieden, fühlt sich benachteiligt – sie möchte gern ihren Anteil haben, möchte ganz zum Hause gehören. Und sie bleibt immer nur an der Tür, wie Monsieur Jules, der Concierge meines Freundes. 40

Steinlen

Ungefähr dort, wo im nördlichsten Paris die Viertel Montmartre und Batignolles sich zusammenschließen, steigt die Rue Caulaincourt nordwärts. Sie überschreitet auf einer langen eisernen Brücke das tiefer liegende Gräberfeld des Montmartre-Friedhofs und steigt dann wieder bergan. Aber sie kommt nicht ganz bis auf den Hügel hinauf, sie läuft ein wenig unterhalb des Gipfels am westlichen Rande der Butte Montmartre entlang, zieht einen weiten Bogen um die westliche Hälfte des Hügels und neigt sich dann, im letzten Norden, wieder zur Ebene, wo sie beinahe die alten Fortifikationen erreicht. Diese Straße, die sich wie ein Arm um den Montmartre-Hügel legt, ist dort, wo sie sich am höchsten über dem Häusermeer der Ebene erhebt, nur wenig bebaut. An ihrem westlichen Rande stehen nur wenige alte Buden, und so verhindern nur hier und da verfaulende Bretterzäune den Ausblick auf die Vorstädte, die tief unten schon jenseits der Fortifikationen aufgebaut sind, durch freies Wiesenland voneinander geschieden. Aber am östlichen Rande der Straße, der von dem engbebauten Gipfel des Hügels überragt wird, sind 41 die Häuser zahlreicher. Weißkalkige, feucht aussehende Arbeiterhäuser, wo die Trockenwäsche aus den Fenstern hängt, und dazwischen schrumplige, verwitterte, niedrige, oft nur ans Holz gebaute Baracken, bei denen irgend ein verräterisches Detail, eine alte nasenlose Marmorbüste neben der Tür oder ein bizarres Wappenbild an der Mauer ankündigt, daß dort ein künstlerisch schaffendes Wesen haust. Über der Tür der schrumpligsten, verwittertsten dieser Baracken stehen, mit Ölfarbe aufgeschrieben, die Worte: »Cats cottage«. Und in dieser kleinen Katzenhöhle lebt mit Frau und Kind Steinlen, der eine dieser drei Zeichnerchronisten von Paris, deren Namen jedes Pariser Kind weiß: Forain, Steinlen, Willette.

Nur selten trottet ein rumpelnder Karren die einsame Straße herauf. Untergefaßt, selbst in dieser Öde noch kokett sich drehend, kommen dann und wann zwei faullenzende junge Frauenzimmer und bleiben am Westrand der Straße stehen, um auf die Vororte in der Ebene hinunterzuschauen und den Bahnzug durch das blaugrüne Land schneiden zu sehen. Oder ein Trupp Bauarbeiter poltert vorbei. Oder einer jener dickhalsigen Gesellen schlendert heran, die Ballonmütze in die Stirn gezogen, die Zigarre im Mundwinkel, das Halstuch lose geknotet, die Hände in den Taschen.

Alle, die hier vorüberkommen, wissen, daß in der alten Katzenbude Steinlen haust. Hin und wieder klopft einer von ihnen an die Tür und fragt, ob man ihn nicht gebrauchen könne. Steinlen besieht sich prüfend seinen Mann, und kann er ihn gerade gebrauchen, so läßt er ihn herein. In dem kleinen Atelier, wo auf 42 allen Stühlen und in allen Ecken Katzen schlummern und schnurren – es riecht im ganzen Hause nach Katzen – muß das gewöhnlich zwanzigmal wegen nächtlicher Heldentaten vorbestrafte Modell gehorsam eine Stellung nach der anderen einnehmen. Steinlen, ein kaum mittelgroßer Mann von sechsunddreißig Jahren, mit kurzem, braunem Vollbart, blauen Augen, ganz schlichter, etwas zurückhaltender Art, spricht, während er Skizze auf Skizze hinwirft, mit seinem Modell in diesem reichen und plastischen Argot der Pariser Zuhältergilde. Und schließlich entläßt er mit einigen Sous und einem treuherzigen Händedruck seinen Mann.

Aber er bleibt nicht immer in seiner Katzenhöhle. Er streift in den Cabarets der Montmartre-Bohème herum, oder in Moulin la Galette, dem Tanzlokal vorurteilsfreiester, unterster Lebewelt, oder auf den Jahrmärkten des äußeren Boulevards. Er wandert über die von Liebespärchen, Arbeiterfamilien und Obdachlosen besetzten grünen Festungswälle, flaniert in den Außenteilen des Bois, setzt sich zwischen die blaublusigen Arbeiter in den Schenken der Vorstädte. Überall erhascht er flüchtige Skizzen.

So entstand sein Hauptwerk, entstanden diese meisterhaften, überraschend kühnen und neuen Illustrationen zu den beiden Bänden der Chansons Aristide Bruants. Und so entstanden diese unzähligen Blätter, die zumeist der »Gil Blas« veröffentlicht hat. In den Bruant-Illustrationen fixierte Steinlen diese beiden grotesken Typen: den Zuhälter und die »grue«, die Prostituierte der letzten Kategorie, die ohne Hut mit in die Stirn gekämmten Haaren in den Faubourgs herumlatscht. In 43 den Blättern des »Gil Blas« wurde Steinlen der Chronist des modernen Paris.

Da ist das ganze Paris beieinander. Da sind die eleganten Equipagen des Bois, da ist der schwere, unförmige, von drei dicken Pferden gezogene Omnibus, dessen Kondukteur der jungen kräftigen Wäscherin, die mit dem Korb am Arm ihren Weg marschiert, galant zuschmunzelt. Da ist das tanzende Paar im Moulin Rouge – das Frauenzimmer weit zurückgelehnt in dem Arm des Tänzers, der Kerl frech sich vorbeugend, mit Blicken, die nicht mehr zweideutig sind. Da ist die junge Bourgeoise mit zartem Profil, weichem Haar und neugierigen Augen, die über das Pflaster schreitet, die Röcke mit beiden Händen emporschürzend. Da ist der alte verhungerte Landstreicher, der ausgezehrt, stieräugig, mit vorgedrückten Knien seinen Weg trottet. Da sind die ganz jungen Frauenzimmer, mager, dürftig, unreif, mit Ponylocken und Stupsnasen, die mit begehrlichen Augen die Armbänder des Juwelierschaufensters betrachten, während aus dem Schatten der Straße ein alter Sünder heranschreitet: – »le vice qui vient . . .«

Und die dicke Madame ist da, deren Kleider über das Trottoir rauschen, und deren vier Kinder hinterherzotteln, während ein alter Freund, der die Frau in der Jugend geliebt und im Arm gehalten, am Wege steht und an die Vergänglichkeit von Liebe und Schönheit denkt. Und der feiste Protz, »fils de ses oeuvres«, der im Pelz, die schwere Zigarre zwischen den Lippen, vorbeistolziert, während der spitzschädlige Bettler seine triefenden Augen demütig auf ihn richtet. Und die kleine storchbeinige Balletteuse, der irgend ein alter kahler 44 Senator verführerische Worte ins Ohr flüstert. Und das Fischweib, das hinter den Körben steht, die Arme auf die dicken Hüften gestützt, den Bauch vorgeschoben, während die Haube fast in den feisten Hals gerutscht ist. Und der Concierge, der mit dem Licht in der Hand streng wie Cerberus an der Treppe steht, auf der er eben das Gas hat auslöschen wollen, während sein Mieter ein junges Mädchen, eine kleine Modistin, hinabgeleitet, die sich verschämt den Muff vors Gesicht drückt.

Keiner hat so gut den Typ dieser kleinen Modistin – »petit trottin«, wie man in Paris sagt – getroffen wie Steinlen. Viele – der Zeichner Heidbrinck besonders – haben es versucht, aber sie haben gewöhnlich idealisiert und manchmal karikiert. Sie haben aus dem »petit trottin« eine süße Puppe gemacht. Auch Steinlen sucht sich seine Modelle gewöhnlich nicht unter den häßlichsten dieser in Paris so zahlreichen Mädchen. Aber die eigentümliche herbe Schärfe und Härte seines Stifts verbannt alle Süßlichkeit. In unzähligen Blättern hat er diese »oiseaux de Paris« gezeichnet, von irgend einem »vieux marcheur«, oder einem jungen Don Juan verfolgt, und es ist gar nicht zu beschreiben, wie meisterlich er ihre zugleich eckige und elegante Art wiedergegeben hat.

Auch Kinder hat selten jemand so gut zu zeichnen gewußt wie Steinlen. Ob sie vor der Bank im Tuilleriengarten spielen, auf der die alten Herren in der Sonne beisammensitzen und plaudern, ob sie andächtig vor den Straßensängern stehen, die mit verdrehten Augen im Hof ihre sentimentalen Romanzen singen, ob sie dem 45 wandernden Handwerksburschen nachgucken – das Charakteristische in der Handlung eines Kinderkörpers, die Schwäche der Beinchen, das alles ist wie mit einem einzigen sicheren Strich herausgeholt und hingesetzt.

Diese sicheren, energischen, charakteristischen Linien erinnern an die Blätter Forains. Doch während Forain sich immer auf diese wenigen, aber vielsagenden Linien beschränkt, geht Steinlen nicht so ganz an dem Nebensächlichen vorüber. Forain gibt gezeichnete Epigramme – die Unterschriften seiner Blätter stimmen dazu. Steinlen gibt Bilder. Man könnte auch von Steinlens Bildern sagen, sie wirken in ihrer schlagenden, überraschenden, knappen Wahrheit wie Epigramme, aber es ist noch richtiger, zu sagen, daß sie dramatisch wirken. Sie wirken dramatisch, weil sie so voller energischer Bewegung sind, daß sie wie aus der Pistole geschossen erscheinen. Sie wirken dramatisch, weil alles in ihnen vorwärts zu drängen scheint, weil alles in ihnen lebt und von einer prachtvollen, oft brutalen Bewegung durchzuckt ist.

Daß es Steinlen auch darum zu tun ist, seine Blätter nicht wie gezeichnete Epigramme, sondern wie Bilder wirken zu lassen, kann man schon daraus entnehmen, daß er nie – wie Forain das tut – Figuren ohne Milieu gibt, daß er immer das Milieu zum mindesten mit ein paar Strichen andeutet. Und er hat auch da wieder eine ganz besondere Kunst, die Pariser Straße durch diese wenigen charakteristischen Striche aufleben zu lassen. Wenn man solch ein Bild vor sich hat, auf dem man von der Stadt nichts sieht, als drei Bäume, eine Gosse und etwa die Umrisse eines in der Ferne stehenden 46 Hauses, so ist gar kein Irrtum möglich: das ist Paris. Selten ist es das Paris der großen Boulevards, die eigentlich das am wenigsten Eigenartige in dieser Stadt sind. Es ist viel öfter das Paris der Vorstädte mit den hügelansteigenden alten Gassen, das Paris an den Festungswällen mit seinen breiten, öden, nur von einer langen, dürftigen Baumlinie durchschnittenen Straßen, mit seinen weiten Fernsichten über die unbebaute Ebene.

Ich erinnere mich, mit welchem Enthusiasmus Max Liebermann einmal vor einem Zeitungskiosk auf den Boulevards stand, wo der »Gil Blas« mit dem neuesten Blatte Steinlens aushing, und wie er Steinlen für den größten aller Zeichner erklärte. Und dieser Steinlen ist durch keine Akademie gegangen, nicht einmal durch eine Zeichenschule. Er ist vor sechzehn Jahren aus seiner Vaterstadt Genf – wo er viel mehr mit Literatur, als mit Zeichnerkünsten sich abgegeben – nach Paris gekommen, hat in seine Skizzenbücher eingetragen, was er um sich herum gesehen, dieses bewegungsreiche Leben, und in der fortwährenden Berührung mit diesem Leben und in der unablässigen stillen Beobachtung dieser Bewegung ist er ein großer Zeichner und ein eigenartiger Philosoph geworden.

* * *

Es gab eine Zeit in Frankreich, wo alle Ideen, die, wie man zu sagen pflegt, in der Luft zu liegen schienen, plötzlich in einer Liedzeile Form und Ausdruck fanden und nun als Wahrheiten, die jeder lange wußte und nur keiner bisher ausgesprochen hatte, von Mund zu Mund gingen. Das waren die Refrains des Vater 47 Béranger. Da war der ganze Geist der Epoche, war das gemütliche Verhältnis des braven Bürgers zum lieben Gott ausgedrückt in dem Refrain des »dieu des bons gens«.

Aber Frankreich hat auch von jeher das Glück gehabt, die Ideen, von denen die Epoche durchsetzt war, durch seine Zeichner ausgedrückt zu sehen. Henri Monnier, der Schöpfer des »Monsieur Joseph Prudhomme«, war der Béranger unter den Zeichnern – Daumier vertrat den revolutionären Geist des Jahrhunderts, Gavarni die Enttäuschung, den müden Pessimismus. Und als nach dem Kriege eine neue Gesellschaft in Frankreich geschaffen worden, traten (wenn auch nach einer gewissen Pause) wieder die Zeichner hervor, um den Geist dieser Gesellschaft zu offenbaren, und wir sehen Forain den Zerfall dieser herrschenden Klasse geißeln, sehen Willette die Opfer dieser Gesellschaft, denen er die Züge von Pierrot und Colombine leiht, in graziösen entzückenden Bildern beklagen, sehen Steinlen die Auflehnung der brutalen, rohen, nur mühsam zurückgehaltenen Kräfte verkündigen – die Auflehnung der skrupellosen Muskelkraft gegen eine im Raffinement und Wohlleben entnervte Gesellschaft.

Ein leises, halb schlummerndes Verlangen nach Energie lebt im französischen Volke, und ein wenig davon verkündet Steinlen. Er hat in der letzten Nummer des »Gil Blas« einen Seemann gezeichnet, der auf den Schiffsballen sitzt, mit untergeschlagenen Armen, ein Bild rohester, fast gemeiner Kraft, und melancholisch über das Meer hinaussieht. Es ist in diesem und in anderen Blättern Steinlens die stille Freude an den 48 gewaltigen Muskeln, an der starken Natur. Aber es ist auch eine gewisse Melancholie in ihnen – eine Melancholie darüber, daß für diese starken Naturen, diese Wilden, kein Raum mehr in der schlechtesten der Welten ist.

Der schlichte Steinlen denkt viel nach über den üblen Lauf der Dinge auf Erden. Er ist einer von denen, die ein Ideal brauchen und es noch nicht gefunden haben. Eine Zeit lang – als er das revolutionäre Blatt »Chambard« herausgab – sah er dieses Ideal in der Revolution überhaupt, offenbar weil sie Bewegung und Betätigung der Kräfte bedeutet. Welch einen Zeichner hätte in ihm eine wirkliche Revolution!

Er löst so gern auf seinen Bildern die letzten fernen Häuser am Horizont in einen feuchten, rötlichen Abenddunst auf. Das gibt der Welt dort hinten etwas Geheimnisvolles, Schicksalbergendes. Und vor diesem großen, geheimnisvoll schweigenden Hintergrunde spielen die brutalen, grundgemeinen Geschichten des Lebens sich ab . . .

Und das ist es, was Steinlen, neben seiner zeichnerischen Kunst, so hoch erhebt: er ist, um zwei dumme, mißbrauchte und mißverstandene Worte auf ihn anzuwenden, Realist und Romantiker zugleich. Sein Zeichenstift folgt dem großen Zuge des Lebens, der durch die ungeheure Stadt hingeht . . . er zeigt die rohen Leidenschaften, den Betrug, das Laster und die Enttäuschung – und er zeigt, wie durch einen Tränenschleier, in einer leichten Abendröte am Horizont, ihre unklaren Hoffnungen und ihre mystischen Träume. 49

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