Kitabı oku: «König und Meister», sayfa 3
4. Kapitel
Der Wartebereich der neurologischen Intensivstation befand sich im Zwischengeschoss direkt vor zwei großen Treppenaufgängen, über die kaum Besucher oder Patienten kamen, dafür eine Menge Ärzte und Ärztinnen, Klinikpersonal und Reinigungskräfte. Die meisten beachteten Ada nicht, doch wer zufällig ihren Blick streifte, runzelte kurz die Stirn oder hob verwundert die Augenbrauen, als fragte er sich, was eine Krankenschwester auf Krücken hier zu suchen hatte.
Ada klingelte an der zweiflügligen Milchglastür und wartete auf einen Summton. Doch stattdessen öffnete sich die Tür einen Spalt breit und eine dunkelhaarige Frau mit müden Augen lugte heraus.
»Ja bitte?«
»Ich bin Ada König und möchte zu meinem Vater, Frank König. Er wurde gestern hier eingeliefert. Wir hatten einen Autounfall.«
Der Blick der Krankenschwester glitt an Adas verheultem Gesicht hinab zur lila Uniform, ihren Krücken und wieder zurück zu den Augen. In einer Sekunde hatte sie Adas Situation erfasst und lächelte sie erschöpft, aber ehrlich an.
»Natürlich, Frau König. Kommen Sie rein.«
Sie hielt die Tür auf, damit Ada auf ihren Krücken hineinhumpeln konnte. Dann seufzte sie, als hätte sie gerade eine schwere Aufgabe hinter sich gebracht, und marschierte den Gang entlang. Ada versuchte, mit den forschen Schritten mitzuhalten, doch sie kam nur langsam hinterher. Ihr Knie brannte und ihre Hände verkrampften sich. Die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger war von der ungewohnten Belastung durch die Krücken schon ganz wund. Endlich kam sie am Ende des Gangs an, an dem die Krankenschwester wartete und in die letzte offene Tür wies. Unsicher blieb Ada neben ihr stehen.
»Waren Sie wirklich mit im Fahrzeug?«, fragte die Krankenschwester.
Ada atmete schwer, wie nach einem Sprint. Das gab ihr Zeit, auf das Namensschild der Krankenschwester zu blicken, während sie nickte. Mirovic.
»Ja, aber ich war angeschnallt. Mein Vater schnallt sich nie an.«
»Oh, das erklärt einiges«, sagte Frau Mirovic, strich sich verlegen über Stirn und Wange und fügte dann mit einem Nicken in Richtung der Krücken hinzu: »Sie haben Glück gehabt. Ist das alles?«
»Ja, sonst ist mir nichts passiert. Ich habe noch ein Schleudertrauma, aber …« Ada schluckte, angesichts der Frage, die sie als Nächstes stellen musste. »Wie geht es meinem Vater?«
Sekunden verstrichen, bevor Frau Mirovic antwortete. Adas Finger schlangen sich fester um das harte Plastik der Krücken. Im Grunde war die Frage absurd. Sie standen im Gang der neurologischen Intensivstation.
»Ich kann gleich den diensthabenden Arzt rufen, damit er Ihnen …«, begann die Krankenschwester, doch Ada unterbrach sie mit gepresster Stimme:
»Können Sie mir es nicht sofort sagen? Bitte.« Sie konnte sich unmöglich noch länger an die Hoffnung krallen und dann enttäuscht werden. Lieber gleich die schlimmste aller Nachrichten.
Frau Mirovic verschränkte die Arme. »Ihr Vater, Herr König, hat mehrere sehr schwere Verletzungen erlitten, die durchaus typisch für einen Unfall ohne Sicherheitsgurt sind. Durch die Wucht des Aufpralls wird der Fahrer nach vorne auf das Lenkrad geschleudert, dabei knickt der Kopf nach hinten ab, das Gesicht schlägt mit der Stirn und dann der Nase gegen die Windschutzscheibe. Wenn der Körper wieder zurückfällt, prallt der Hinterkopf nicht selten an das seitliche Fenster oder die B-Säule des Autos. All das scheint ihrem Vater passiert zu sein. Ich arbeite viel in der Notaufnahme … diese Kombination ist typisch.«
»Aber der Airbag …?«
»Der ist aufgegangen, ja, aber die Verletzungen, die Ihr Vater erlitten hat, sind dennoch – es tut mir leid, wenn ich es nicht anders sagen kann: drastisch. Im CT wurden Einblutungen in den Kopf festgestellt. Im Augenblick ist das Gehirn aber noch zu geschwollen, um sagen zu können, wie groß die Verletzungen insgesamt sind. Wir müssen abwarten, und sehen, wie es sich entwickelt.«
»Kann ich zu ihm?«
»Natürlich.«
Frau Mirovic löste sich aus ihrer Erstarrung und führte Ada in das Zimmer, in dem insgesamt vier Patienten hinter teilweise geschlossenen Vorhängen lagen. Die Krankenschwester blieb an der rechten hinteren Parzelle vor dem Fenster stehen. Dort, in einem Bett, das mehr einem Industrieroboter als einem Möbelstück ähnelte, lag unter der weißen Decke ein Körper, dessen Innerstes durch zahlreiche Schläuche mit der Außenwelt verbunden war. Nirgends konnte Ada Haut sehen. Die Hände steckten in dicken Bandagen und auch das Gesicht war bis auf die Nasenspitze und den Mund vollkommen in einem weißen Mullkokon verschwunden. Eine Magensonde mit kaffeebrauner Flüssigkeit führte in eines der Nasenlöcher. Aus dem Mund ragte ein halbtransparenter Schlauch, durch den von der Beatmungsmaschine Luft in die Lungen ihres Vaters gepumpt wurde. In dem dunklen Loch, das einst sein Mund gewesen war, lag träge eine rosa Zunge, umrahmt nur von ein paar weißen Stümpfen. Die restlichen Zähne waren verschwunden. Im rechten Mundwinkel glitzerte halb geronnenes Blut. Auch an anderen Stellen des Kopfes traten frische rote Flecken durch den Verband.
Adas Atem beschleunigte sich. Schweiß sammelte sich unter ihren Achseln. Ein harter, dumpfer Schmerz stieß von ihren Handflächen nach oben zu den Unterarmen, bis sie bemerkte, dass sich ihre Finger um die Krücken krampften. Mit aller Kraft stieß sie die Gehhilfen von sich, die daraufhin mit ohrenbetäubendem Krach auf den Boden polterten. Augenblicklich begann einer der Apparate über dem Nachbarbett zu piepen.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Mirovic und hielt Ada an beiden Oberarmen, als befürchte sie, sie könne fallen.
»Danke, ich … das hatte ich nicht …«
»Schon gut. Setzten Sie sich erst mal.« Sanft, aber bestimmt, drückte die Krankenschwester Ada auf einen Stuhl neben dem Bett. Dann hob sie die Krücken auf und reichte sie ihr. »Atmen Sie durch. Es tut mir leid, aber ich muss mich um die anderen Patienten kümmern. Kommen Sie klar?«
»Ja, natürlich …«
»Soll ich einem der Ärzte Bescheid sagen?«
»Das wäre sehr nett. Danke.«
»Gut.«
Damit schob sich Frau Mirovic an ihr vorbei, drückte auf dem Weg nach draußen noch ein paar Knöpfe am Nachbarbett, sodass der Alarm verstummte, und verschwand dann aus dem Zimmer.
Ada starrte auf die Mumie, die ihr Vater sein sollte. Sie hatte Schlimmes erwartet, aber doch nicht so schlimm. Sie hatte gehofft, ihn sehen, ihn erkennen zu können. So war es nur ein Stück Fleisch, ein lebloser Körper, der von den Maschinen am Leben erhalten wurde.
Sie hätte ihn gerne umarmt oder seine Hand berührt, doch sie wagte nicht, die weißen Verbände anzufassen. Vorsichtig rückte sie mit dem Stuhl näher an das Kopfende heran.
»Hallo, Papa«, sagte sie leise. »Kannst du mich hören?«
Der König zeigte nicht die geringste Reaktion. Ada streckte ihre Hand nach seiner aus und zog sie dann auf halbem Weg wieder zurück. »Papa, mir geht es gut. Mir ist nichts passiert.«
Ihr war, als würde sich sein Puls, den der Monitor aufzeichnete, mit einem Mal beschleunigen, doch dann kehrte die Anzeige zu ihren konstanten 63 Schlägen zurück. Obwohl überall Maschinen klickten, surrten und piepten, war es sonderbar still – es war die Abwesenheit von menschlichen Geräuschen. Überaus deutlich nahm Ada den fremden Geruch ihrer Kleidung nach Krankenhauswaschmittel und parfumfreier Seife wahr.
Es war so schwer, sich unter diesem weißen Berg ihren Vater vorzustellen. Wenn sie an Frank König dachte, dachte sie an einen großen, athletischen Mann, der aufrecht und mit selbstsicherem Schritt voranging. Die weißen, halblangen Haare, die ihm etwas Dandyhaftes oder wildes – je nach Tagesform – verliehen, waren stets sein Markenzeichen gewesen. Schon ihre Mutter hatte ihn mit dieser verlängerten Prinz-Eisenherz-Frisur kennengelernt; früher blond, später grau, dann weiß, schneeweiß wie sein Bart, wie der Weihnachtsmann in der Coca-Cola-Werbung, oder wie ein alter König.
Irgendwann kam ein Arzt in den Raum, an der Position bestand kein Zweifel, denn er trug einen weißen Kittel über seinem hellgrünen Gewand. »Hallo, ich bin Dr. Belram, Sie wollten mich sprechen?«, sagte er, während er ihr ein bisschen zu fest die Hand drückte. Dennoch war Ada froh, endlich jemanden vor sich zu haben, der ihre Fragen beantworten konnte.
»Hallo, ich wollte gerne wissen, wie es meinem Vater geht und … was mit ihm passiert ist.«
Der Arzt trat an das Fußende des Bettes, an das ein kleiner Tisch montiert war und blätterte in der darauf liegenden Akte. Er nickte ein paar Mal, übersprang ein paar Seiten und las dann halblaut: »Dislozierte distale Tibiafraktur links, Trümmerfraktur linkes Knie, pertrochantäre Femurfraktur beidseitig, Beckenfraktur links. Schweres stumpfes Bauchtrauma, serielle Rippenfraktur. Fraktur von Unterkiefer, Nasenbein, und Stirnbein. Stabile Fraktur HWK3. Schulterpfannenfraktur links, Trümmerfraktur rechter Ellenbogen. Schweres Schädelhirntrauma mit Contre-Coup und subduralem Hämatom.«
So mechanisch und medizinisch korrekt, wie der Arzt die Zusammenfassung der Verletzungen auflistete, hörten sie sich an wie die Mängelbeschreibung eines maroden Hauses, dessen Preis man drücken wollte. Es klang nicht wie etwas, was durch einen fleißigen Handwerker und ein paar Wochen Zeit repariert werden konnte. Es verlangte nach einer Totalsanierung, oder gleich einem Abriss. Ada verstand nur die Hälfte von dem, was der Arzt gesagt hatte, aber die schiere Menge an Verletzungen und die Wiederholung von »Fraktur, Fraktur« waren niederschmetternd. Sie fragte sich, welcher Teil der Mumie eigentlich noch intakt war. Konnte man das noch als menschliches Leben bezeichnen?
»Ihr Vater …«, der Arzt stockte, schien nach Worten zu suchen. »Hat sehr schwere Verletzungen erlitten. Wir konnten ihn so weit stabilisieren, aber er ist immer noch in einem kritischen Zustand. Wir haben ihn mit Medikamenten sediert, damit sich sein Gehirn erholen kann, aber selbst ohne die Sedierung wäre er nicht bei Bewusstsein. Wir überprüfen ständig den intrakraniellen Druck, das heißt, wir müssen sicherstellen, dass sein Gehirn nicht zu sehr anschwillt. Wenn die Schwellung abgeklungen ist, können wir ihn langsam aufwachen lassen und sehen, wie es ihm geht. Bis dahin sind alle Prognosen reine Spekulation.«
»Aber … ist es möglich, dass er wieder ganz gesund wird?«
»Möglich ist es.«
»Und wahrscheinlich?«
Der Arzt hob die Augenbrauen und wackelte leicht mit dem Kopf hin und her. Dann zuckte er mit den Schultern. In entschuldigendem Tonfall sagte er: »Das kann ich wirklich nicht sagen. Ich hab schon Leute hier rausspazieren sehen, da hatten wir alle Hoffnungen aufgegeben. Und andere sterben, da hätte man es niemals erwartet. Wir müssen abwarten.«
Ada konnte sich denken, was das heißen sollte. Ihr Vater war erst im Frühling 66 Jahre alt geworden. Sicher, er war schlank und sportlich und man hätte ihn ohne Probleme fünf Jahre jünger schätzen können. Aber er war trotzdem kein junger Mann mehr. Vorletzten Winter hatte er sich bei einem Sturz die Hand gebrochen. Bis heute klagte er über Schmerzen, Steifigkeit und Taubheitsgefühl – und das war nur eine kleine Fraktur gewesen. Sie sah zu der Mumie im Bett und schüttelte den Kopf. Ihr war, als würde sich in ihrem Innersten ein schwarzes Loch auftun, ein Mahlstrom, der jedes Gefühl, jeden Hauch von Hoffnung in einen schwarzen Abgrund jenseits dieser Welt zog.
Und wenn ich auch um sein Überleben gefleht hätte?, kroch eine Frage über den Rand des Strudels, doch Ada schluckte sie herunter, bevor sie sich bis zu ihrem Mund hinaufwinden konnte.
»Sie können ruhig bei ihm bleiben und auch mit ihm reden, wenn Sie wollen. Haben Sie keine Angst, sprechen Sie mit ihm, als wäre er wach. Sie müssen nicht schüchtern sein. Falls er sie versteht, wird er sich freuen, und falls er nichts mitbekommt, können Sie auch nichts falsch machen. Es ist immer gut, mit den Patienten so umzugehen, als wären sie wach. Das verhindert auch, dass man über sie spricht, verstehen Sie?«
5. Kapitel
Zurück in ihrem Zimmer war Ada so erschöpft, als hätte sie eine Weltreise hinter sich. Stöhnend glitt sie ins Bett und zog sich die Decke bis unter die Nase.
Sie musste eingeschlafen sein, denn sie erwachte, als ein Pfleger das Tablett mit dem Abendessen brachte und eine weiße Tüte auf den Stuhl neben ihrem Bett stellte.
»Was ist das?«, murmelte sie schlaftrunkener, als sie eigentlich war, denn sie wollte nur Antworten, keine Fragen hören.
»Das sind Ihre persönlichen Sachen. Ein Mitarbeiter der Polizei hat sie abgegeben. Wenn Sie wollen, kann ich sie auch in den Safe legen?«
»Nein, danke, geben Sie bitte her.«
Er reichte ihr die Habseligkeiten und ließ sie dann allein. Ada lugte in die Tüte. Tatsächlich lagen dort ihr Geldbeutel sowie der ihres Vaters, mehrere Schlüsselbunde, sein altes Handy und ihr eigenes Smartphone. Das Schutzglas war in ein Spinnennetz zersprungen, doch als sie auf den Power-Knopf drückte, leuchtete das Display auf. Ada versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wo das Handy während des Unfalls gewesen war. Die Erinnerung pochte in ihrer Magengrube wie ein Faustschlag: Sie hatte es in der Hand gehalten, sie hatte die Rehe gefilmt. Vor lauter Schreck entglitt ihr das Telefon, landete aber weich auf der weißen Decke. Mit zitternden Fingern nahm sie es erneut hoch, konnte ihren Tremor aber kaum unter Kontrolle bringen, sodass es sie einige Mühe kostete, die Kamerafunktion zu öffnen. In einem kleinen runden Fenster erschien das Vorschaubild des letzten Videos, das sie aufgezeichnet hatte: ein Standbild des verwackelten Wagenfensters. Ada zögerte. Wollte sie das wirklich sehen? Konnte sie es aushalten? Bevor sie sich entschieden hatte, tippte ihr Daumen schon auf Play.
Sie hörte das Brummen eines Motors, das Display zeigte ein wackeliges, hellgelbes Weizenfeld durch das geschlossene Beifahrerfenster, dann die Einfahrt eines Wirtschaftsweges, Bäume, die am Straßenrand vorbeiflogen. Die wohlbekannte Stimme ihres Vaters sagte: »Schau mal, da vorn.« Die Landschaft bewegte sich abrupt nach rechts. Rehe auf einer Wiese. Dann ein Schwenk zurück über die leere Straße in Richtung der Baumreihen, doch bevor das Objektiv wieder fokussieren konnte, sagte ihr Vater: »Ach du …«, das Bild flog zur Seite, wilde Farben tanzten, ein Schrei, Ende. Ada schluckte. Sie erinnerte sich noch genau, ja, ihre Erinnerungen deckten sich mit dem Video, da sie im Augenblick des Unfalls auf eben dieses Display geblickt hatte. Doch etwas war anders. Es waren nicht nur die fehlenden Gefühle, die den Film von ihrer Erinnerung unterschieden. War da nicht … Erneut spielte sie das Video ab. Es ging alles so schnell, das Bild war verhuscht, die Töne dumpf, doch sie war sich sicher: Irgendetwas stimmte nicht! Sie drückte auf Pause und schob den Fortschrittsbalken mit dem Finger langsam an die richtige Stelle. Da war es: Die Straße vor dem Auto war leer.
Das Bild zeigte eindeutig eine vollkommen freie Fahrbahn. Weder links noch rechts war ein Reh zu entdecken. Aber sie hatte es doch gesehen! Das siebte Reh. Ihr Vater hatte deshalb das Lenkrad verrissen. Warum hätte er das bei einer leeren Straße tun sollen? Der dunkle Ort in ihrem Magen begann sich langsam zu drehen. Ihre Gedanken rasten. Wie konnte das sein? Wieso hatte das Handy nicht aufgezeichnet, was sie und ihr Vater eindeutig erkannt hatten? Es musste ein Fehler sein. Irgendein technischer Defekt, wie ein toter Winkel oder ein fehlender Frame, ein gelöschter Datenpunkt durch die Kräfte des Unfalls. Irgendetwas. Hatte die Polizei das Handy geprüft? Hatten sie das Video gesehen? Hatten sie vielleicht irgendwelche Daten gelöscht? Aber warum sollten sie so etwas tun? Sollte sie ihnen das Video zeigen? Oder würde das beweisen, dass ihr Vater völlig grundlos in den Graben gefahren war? Vielleicht würden sie Ada verdächtigen, irgendetwas getan zu haben – ich habe nur um mein Überleben gefleht! – obwohl sie doch vollkommen unschuldig war … Das Handy klingelte und Ada fuhr erschrocken zusammen. Sie schaute aufs Display: Es war ihre Mutter.
Dankbar für diesen Ausweg aus dem Chaos nahm Ada das Gespräch an.
»Hallo, Mama« Sie schluchzte, da sich augenblicklich alle Gefühle Bahn brachen und durch ihre Augen nach draußen quollen.
»Hallo, Ada«, quäkte die Stimme ihrer Mutter blechern aus dem Lautsprecher. »Du erinnerst dich doch sicher noch an Mike von Creatom, der Werbeagentur, mit der wir die letzte Nudging-Kampagne hatten. Mit dem habe ich beim Lunch über dich gesprochen und stell dir vor, er hat vielleicht einen Job für dich. Natürlich müsstest du ihn …«
»Mama …«, unterbrach Ada ihre Mutter, doch die redete unbeeindruckt weiter.
»… erst mal kennenlernen. Er kann auch nicht zaubern und muss sich auf die Expertise seiner Personaler verlassen, aber ganz sicher wird er da ein Wörtchen mitzureden haben, ich weiß doch, wie das läuft. Er ist mir nämlich noch einen Gefallen …«
»Mama …«
»…schuldig, wegen er Sache mit Nordchip. Das hat er in den Sand gesetzt und deshalb habe ich was gut bei ihm. Man mag es kaum glauben, aber ja, auch Männer haben ein schlechtes Gewissen. Vor allem, wenn es um Geld geht, aber …«
»Mama!«
»Was ist denn? Wieso unterbrichst du mich ständig? Kannst du nicht abwarten, bis ich fertig bin? Und geh mal ans Fenster, wo du besseres Netz hast, ich versteh dich kaum.«
»Mama! Papa und ich hatten einen Autounfall. Mir geht es gut, aber Papa …«
»Was? Ich verstehe kein Wort.«
»Wir hatten einen Unfall.«
»Wer hat einen Anfall? Meine Güte, Ada, kannst du dir nicht endlich ein anständiges Handy kaufen? Ich rufe dich in fünf Minuten zurück. Und in der Zwischenzeit gehst du raus oder nimmst ein Headset oder sonst was. Ich hasse es, mit Leuten zu telefonieren, deren Handy nicht richtig funktioniert. Das liegt nur daran, dass du es ständig runterfallen lässt. Bis gleich.«
Damit war die Verbindung beendet. Fassungslos starrte Ada auf das Display. Am liebsten hätte sie das Telefon an die Wand geworfen! Doch das würde kein Problem lösen, außerdem durfte sie das Video nicht verlieren. Ihre Mutter würde wieder anrufen, so viel war klar. Vielleicht war der Empfang draußen auf dem Flur besser.
Sie steckte das Handy in die Brusttasche des Schwesternhemds und machte sich mit den Krücken erneut auf den Weg. Im Flur überprüfte sie den Empfang, doch hier draußen hatte sie noch weniger Netz als im Zimmer. Leise fluchend schleppte sie sich zum Aufzug und fuhr nach unten in die Patientenstraße, von der mehrere Türen nach draußen in den Innenhof führten. Ihr war zu kalt, um dort zu telefonieren, doch hier im Glasgang zeigte das Netz immerhin zwei Striche an.
Exakt fünf Minuten, nachdem Adas Mutter aufgelegt hatte, klingelte das Handy erneut.
»So, ich hoffe, du hast jetzt Netz, sonst leg ich gleich wieder auf.« Die genervte Stimme ihrer Mutter klang verzerrt durch den kaputten Hörer.
»Hörst du mich?«, fragte Ada. Ein Schluchzen drohte sich schon wieder nach oben zu bahnen, doch sie konzentrierte sich, es nicht heraus zu lassen. Hier waren überall Leute, außerdem wollte sie erst sicher sein, dass die Gefühle, die sie unter so schrecklichen Schmerzen hervorpresste, auch bei ihrer Mutter ankamen und nicht irgendwo im Äther versackten. Wie sehr sie sich wünschte, ihre Mutter wäre jetzt wirklich hier und würde sie in den Arm nehmen.
»Ja, ich höre dich, aber ganz abgehackt. Kann es sein, dass dein Telefon schon wieder kaputt ist?«
»Ja, kann sein. Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu erzählen. Wir hatten einen Autounfall und …«
»Ihr hattet einen was?«
»Einen Unfall.«
»Wer?«
»Papa und ich.«
»Wer? Kannst du mir vielleicht eine SMS schreiben, ich verstehe dich so schlecht.«
»Hör mir doch endlich zu, verdammt!«, schrie Ada. »Papa und ich hatten einen Autounfall. Ich bin okay, aber Papa liegt auf der Intensivstation und ist halb tot, verstehst du jetzt endlich?«
Die Stille, die Ada daraufhin umschloss, kam sowohl von ihrer Mutter als auch von den unzähligen Leuten, die um sie herum im Patientengang stehen geblieben waren. Gesichter, in denen sich Mitleid und Scham mit Erleichterung darüber mischten, selbst nicht ganz so schlecht dran zu sein.
»Ada …«, hörte sie endlich die Stimme ihrer Mutter, diesmal eine Nuance hektischer, was sie vermuten ließ, dass sie jetzt verstanden hatte. »Ada, geht es dir gut?«
»Nein … ja … ich hab nur ein paar Schrammen.«
»Und Frank?«
»Papa … hat es ganz schlimm erwischt.« Da waren sie wieder, die Tränen. Wie Ada sie hasste. Tränen machen hässlich, sagte ihre Mutter Karin immer; sie, die Ada noch nie hatte weinen sehen. »Er war nicht angeschnallt und hat sich tausend Sachen gebrochen und auch am Kopf ist es ganz schlimm und … also … ich weiß, so was darf man nicht sagen, aber ich glaube nicht, dass er es schaffen wird, weil …« Den Rest brachte sie nicht mehr heraus, weil die Schluchzer ihr die Kehle zuschnürten.
»Ada, wo bist du?«
»Im Rechts der Isar.«
»Bleib, wo du bist. Ich besorge dir ein neues Telefon, dann können wir in Ruhe reden, ja? In zwei Stunden ruf ich dich noch mal an.«
Das Gespräch war wieder beendet. Ada lehnte ihre Stirn gegen das kühle Glas, das unter ihrem heißen Atem sofort beschlug. Ihre Eingeweide strebten erneut dem Mahlstrom zu, den sie auf der Intensivstation gespürt hatte. Als würde sich ihr Innerstes auflösen. Als würde alles, was jemals wichtig gewesen war, verschlungen, ins Nichts, ins Nichts.
Knapp zwei Stunden später war Ada zurück in ihrem Zimmer, als jemand an die Tür klopfte. Eine Expresskurierin in Radlermontur brachte ihr einen dünnen Karton, in dem sich ein neues, aufgeladenes Smartphone und ein Ladegerät befanden. Auf einem gelben Post-it standen ihre neue Telefonnummer und die dazugehörige PIN.
Wenige Minuten später kam der erste Anruf.
»Hallo, Mama.«
»Ada, gut, jetzt verstehe ich dich endlich. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich habe gerade schon mit dem Krankenhaus telefoniert, aber die wollten mir nichts sagen. Wie geht es dir? Bist du verletzt?«
»Es geht. Mein Knie ist angeschrabbt, aber die sagen, das heilt wieder.«
»Ein Glück!« Ada meinte, echte Erleichterung zu hören.
»Aber Papa ist ganz schlimm verletzt.«
»Ich habe ihm immer gesagt, dass er sich anschnallen soll, aber er wusste ja alles besser. Nur zwanzig Prozent der Todesfälle sind auf nicht angeschnallte Passagiere zurückzuführen. Der Rest stirbt also, obwohl er angeschnallt ist. Solche Sprüche hat er immer gebracht. So ein Unsinn. Dabei wusste er doch genau …«
»Mama! Ich will jetzt keine schlechten Sachen über Papa hören.«
»Wieso schlechte Sachen? Das hat dein Vater selber gesagt.«
»Ist mir egal. Eigentlich hatte ich mir nur gewünscht, dass du mich tröstest und sagst, dass alles gut wird und du herkommst.«
Ada biss sich auf die Lippen. Die Pause am anderen Ende ließ ihren Mahlstrom rotieren.
»Ada … ich bin sehr froh, dass es dir gut geht. Wenn etwas Schlimmes wäre, würde ich sofort kommen …«
»Es ist etwas Schlimmes … wie kann das nichts Schlimmes sein?«
»Nein, ich meine, wenn es dir schlecht ginge … aber wie es aussieht, bist du ja nur leicht verletzt. Im Augenblick … weißt du, grad ist es total schlecht. Ich komme jetzt nicht weg. Jedenfalls nicht die nächsten zwei Tage. Marsheimer hat mich allein gelassen und ich muss morgen eine Präsentation fertig haben und am Mittwoch ist noch eine Konferenz in Basel. Am Donnerstag könnte ich es schaffen, vielleicht komme ich einfach direkt nach München. Ich muss mal sehen.«
»Weißt du was? Vergiss es.« Ada trennte die Verbindung und schaltete beide Telefone aus.