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Exkurs zum buddhistischen Weltbild
Jung meint, der Buddhismus habe bei dem Umgang mit Teilsystemen einen Vorteil. Damit hat er durchaus Recht, da der Buddhismus nicht denselben Zwängen unterliegt wie monotheistische Religionen.
Nach buddhistischer Auffassung existieren Götter real als Wesen in Samsara; ihre Existenz ist, wie bei allen Lebewesen, bedingt durch Karma. Ein Dasein als Gott ist das Resultat positiven Handelns und Denkens, das jedoch immer noch durch die grundlegende Unwissenheit über die wahre Natur der Realität getrübt ist. Großherzigkeit und meditative Versenkung sind karmische Ursachen, um ein Gott zu werden; da diese Zustände auch für Menschen erfahrbar sind, kann es Kontakte zwischen Menschen und Göttern geben. Wir alle sind schon einmal Götter gewesen, die jetzigen Götter werden im Kreislauf von Samsara eines Tages auch wieder als Menschen geboren werden.
Die buddhistische Welt gliedert sich in drei Bereiche: einen grobstofflichen, der von groben Leidenschaften regiert wird, einen feinstofflichen und einen unstofflichen (kamadhatu, rupadhatua, arupadhatu). Die uns begegnenden Götter gehören meistens wie wir zum Begierdebereich und sind daher recht menschenähnlich, schwerer ist es schon, zu den Welten der reinen Form und der Formlosigkeit vorzudringen (letztere lässt sich beispielsweise erreichen, wenn man sehr lange nur über den leeren Raum oder die Unendlichkeit des Bewusstseins meditiert).
Kurz: Götter sind im Buddhismus nicht absolut, sonder relativ, nicht noumena, sonder phainomena. Einige Götter haben sich vom Buddha belehren lassen und sind auf dem Weg zum Erwachen (wie die vier großen Könige der Weltrichtungen), daher können Götter auch als Sangha und verehrungswürdig betrachtet werden. Ebenso ist es möglich, dass ein Mensch vor dem Erlangen des Pari-Nirwana noch einmal in einem Götterbereich wiedergeboren wird, dort letzte subtilste Hindernisse bereinigt, bevor er Erleuchtung erlangt. Diese Möglichkeit gilt im „kleinen Fahrzeug“ etwa für den „Nicht-Wiederkehrer“, der die Arhatschaft erst in einer Götterexistenz erlangt. Dieser Gedanke wurde im „großen Fahrzeug“ mit besonderer Vorliebe ausgebaut, so befinden sich die meisten großen Bodhisattvas ab der ersten Bhumi (Erde) in Götterbereichen, die von ihnen zu „reinen Bereichen“ ausgebaut wurden. So konnte der Buddhismus in Indien die Hindu-Götter ohne größere Probleme in sein Pantheon aufnehmen und sich in Tibet, China und Japan an die dortigen Gegebenheiten anpassen; andererseits konnten die Bodhisattvas des Mahayana die Attribute der Hindu-Gottheiten assimilieren. Im tantrischen Buddhismus verfiel man schließlich gar auf die Idee, dass es zur Erweiterung des Bewusstseins sinnvoll sein könnte, sich selbst meditativ mit einer solchen Bodhisattva-Gottheit zu identifizieren, wobei man sich aber stets der grundsätzlichen Leerheit aller Erscheinungen bewusst bleibt.
Die vier Gesichter der Göttin
Aus buddhistischer Sicht wäre daher nichts Ungewöhnliches daran, dass in einer Welt, in der es eine Zweiteilung in männlich und weiblich gibt, auch Götter und Göttinnen existieren. Da es verschiedene Aspekte von Männlichkeit und Weiblichkeit gibt, wird es folglich wohl auch verschiedene Göttinnen geben, die verschiedene Aspekte von Weiblichkeit verkörpern. Wie lassen sich diese systematisieren?
Der Mensch erlebt sich ursprünglich als Teil einer Landschaft. In dieser gibt es ein Oben und ein Unten, vier Himmelsrichtungen und eine Mitte. Die Himmelsrichtungen haben bestimmte Eigenschaften, die von Kontinent zu Kontinent, von Kultur zu Kultur verschieden sein können. Universell ist aber der tägliche Lauf der Sonne am Himmel: vom Aufgang am Morgen über den Höchststand am Mittag bis zum Untergang am Abend und der Verborgenheit in der Nacht. Ähnliches gilt für den Mond, der innerhalb von 29 Tagen vier Phasen durchläuft. Der Mensch steht im Mittelpunkt dieser vier Kardinalpunkte und zwischen oben und unten. Die vier Himmelsrichtungen können nun beispielsweise mit folgenden symbolischen Korrespondenzen verbunden werden (nach Wolf-Dieter Storl, Naturrituale, S. 72 - 74):
• Osten: Aufgehendes Licht, taufrischer Morgen, Frühling, Ostara, Werden, Heilen, Erscheinen, China: grüner Drache, Christen: Raphael, göttlicher Heiler – Göttin als junges Mädchen
• Süden: Mittagssonne, Sommer, Wärme, Zenith, volle Entfaltung, Belenos, Baldur, Lukas-Stier, China: zinnoberroter Phönix, Göttin als Frau
• Westen: Sonnenuntergang, Abend, Herbst, Ernte, Abstieg, Untergang, Tod, Avalon, Totenreich, China: weißer Tiger, Alter, Austrocknen, Lugh, Michael (Drachentöter), Markus-Löwe, Göttin als alte Frau/Mutter.
• Norden: Kälte, Finsternis, Winter, Tod, Stille, Meditation, Weisheit, Klarheit des Geistes, Riesen, Hel. Polarstern, Kailash, China: Schwarze Schildkröte (Urchaos). Johannes-Adler
• Oben: Himmel, Devas, leuchtende Gottheiten
• Unten: Unterwelt, inneres Licht der Erde, Erdgöttin, Frau Holle, Götterwiese, untere Großmutter (Cheyenne), Reich unter den Pflanzenwurzeln,
• Mitte: Midgard, Herz, Essenz, Menschen, Buddha, Shiva, Thron des Kaisers (China)
Wie wir sehen, wird die Vierteilung der horizontalen Menschenwelt ergänzt durch eine Dreiteilung der Welt in Oberwelt, Unterwelt und Himmel; die Achse bzw. Verbindung zwischen den Ebenen bildet in vielen Mythologien ein Weltenbaum (z. B. die Weltesche Yggdrasil). Dieses schamanische Weltbild ist wohl die älteste und ursprünglichste Kosmologie des Menschen.
Die Göttin, deren Verehrung vermutlich am Anfang menschlicher Kultur und Religion stand, müsste also vier Gesichter haben. In den heute verbreiteten Hexenkulten, insbesondere in den Strömungen, die unter der Bezeichnung „Wicca“ laufen, ist aber meist nur von drei Gesichtern die Rede: Die Göttin erscheint als junges Mädchen (zunehmender Mond), als vollerblühte reife Frau (Vollmond) und als alte, weise Frau (abnehmender Mond). Dies erscheint auch insofern plausibel, als sich das Jahr in eine Phase der Empfängnisbereitschaft (Frühling), eine Zeit der Trächtigkeit-Fruchtbarkeit (Sommer, Herbst) und eine Phase der Unfruchtbarkeit (Winter) einteilen lässt. Außerdem lassen sich eine weiße, schwarze und rote Erscheinungsform der Göttin ausmachen.
Es gibt jedoch schwerwiegende Einwände gegen die heutzutage beliebte Dreiteilung, die sich sowohl aus natürlichen Gegebenheiten als auch aus dem mythologischen Material ergeben. Zum einen gibt es bei den Mondphasen nicht nur drei, sondern vier Phasen: zunehmender und Vollmond, abnehmender und Neumond (Dunkelmond, Schwarzmond). Die Menstruation der Frau, die wohl mit dem Mondzyklus in Verbindung steht, lässt ebenfalls vier Phasen erkennen:
1. Präovulatorische Phase oder Ei-Reifung.
2. Ovulationsphase, beginnend mit dem Eisprung.
3. Prämenstruelle Phase, Abfall von Gelbkörperhormon und Östrogen.
4. Menstruelle Phase.
Wie Jutta Voss zu Recht kritisiert, herrscht eine weitverbreitete Tendenz, die menstruelle „Dunkelmond“-Phase zu vernachlässigen. Sie schreibt:
Die allgemeine Verwirrung der Mythologen über die Vier- und Dreiteilung scheint der Verwirrung der Mediziner beim ovariellen und uterinen Zyklus zu entsprechen. Mythologen vergessen den Schwarzmond als eine selbständige Phase. (…) Auch die matriarchale Forschung macht diesen kurzschlüssigen Denkfehler. Sie ordnet dem zunehmenden Mond das Mädchen Kore zu; dem Vollmond gehört die gebärende Mutter, und zum abnehmenden Mond gehört dann die weise Alte, die Hekate oder Kali. Wie bei den Menstruationsphantasien der Psychiater fällt auch hier die Schwarzmondphase einfach unter den Tisch. Das ist umso erstaunlicher, als auf allen uns erreichbaren Bildern früherer Kulturen genau dieser Schwarzmond als liegende Mondsichel das Symbol für die Göttin ist. Die Schwarzmond-Menstruationsphase wird als die Phase der Göttin einfach nicht wirklich wahrgenommen. Die einfache Parallelität von Mondphasen und Zyklusphasen, auch die von Mondphasen und Göttinnen-Gestaltungen ist zu kurzgeschlossen.10
Auch die Sonne, die in vor-patriarchalischer Zeit ebenfalls als Göttin gesehen wurde, durchläuft im archaischen Weltbild vier Phasen: Sonnenaufgang im Osten, Höchststand an Mittag im Süden, Untergang im Westen und nächtliche Reise unter der Erde hindurch nach Osten, wobei sie an Mitternacht genau im Norden steht. In der griechischen Mythologie fällt uns zudem auf, dass Aphrodite keineswegs als „rote“ Göttin bezeichnet wird, wie man erwarten könnte, sondern schon bei Homer konstant „die Goldene“ genannt wird. Pythagoras soll gesagt haben, dass die vier weiblichen Lebensalter nicht umsonst nach vier Göttinnen benannt seien: Die Jungfrau heißt Kore, die junge Frau Nymphe, die Mutter Meter, die Großmutter Maia (Iamblich. De vita Pyth., 56).
Wesentlicher als solche Stellen aus der spätantiken Literatur ist jedoch die psychologische Tatsache, dass Menschen die vier Gesichter der Göttin auch heute noch erleben – in Visionen, Tagträumen, Offenbarungen (oder Comics). Ein sehr überzeugendes Beispiel hierfür sind die „Visionen der vierfachen Göttin“ der Kölner Ärztin Bärbel Kreidt, die 1988 eine Visionssuche in der kalifornischen Wüste unternahm und dort nach dreitägigem Fasten von einer Serie archetypischer Bilder überschwemmt wurde, die sich schließlich als die vier Gesichter der Göttin erwiesen.
Zunächst erschien ihr, aus dem Süden kommend, die Goldene (die Liebesgöttin):
Über mir auf einmal ein atemberaubender Anblick: die feurige, ekstatische Göttin, ganz in Gold gekleidet, die Arme hoch erhoben, den Kopf in den Nacken geworfen. Das Gesicht schaut zur Seite. Sie lacht, freut sich unglaublich. Über und über ist sie mit Sternen geschmückt, so dass sie von innen und außen glüht, leuchtet, sprüht. Es sieht aus, als tanze sie fortwährend über den Himmel. Sie liebt ihren Körper, sich selbst, die Liebe, die Männer – das Leben. Ihr Anblick ist überwältigend schön. Die Göttin der Liebe. Sie sagt, sie liebt mich und ich könnte sie jederzeit rufen.11
Als nächste erscheint aus dem Westen eine tiefschwarze, isisartige, verschleierte Gestalt, die folgende Erklärung abgibt:
Ich bin die Göttin, die alle Rätsel löst (…) Ich löse alle Rätsel, weil ich alles weiß. Die Goldene hat mich zu dir geschickt. Jeder Mensch muss mich wenigstens einmal im Leben anschauen. Verschleiert, weil unverschleiert mein Anblick unerträglich ist. Aber wer Wissen sucht, kann mich bitten, meinen Schleier zu heben.
Als die Gestalt schließlich auf Kreidts Bitten hin ihren Schleier lüftet, bietet sich ein Bild des Grauens, wie es in Indien von Kali verkörpert wird:
Ihr Gesicht! Das namenlose Grauen, das Entsetzen, Tod, Krieg, Krankheit, Gemeinheit, Folter aller Zeiten und der ganzen Welt sind darin zu sehen. Ich höre das Schreien, das Weinen, die Verzweiflung. Es kommt einfach aus ihrem Gesicht. Ein Gesicht – steinalt, alterslos. Ein Urbild von Hässlichkeit. Unfassbar. Mit Augen, die sich vor nichts verschließen. Ich nehme das in mich auf und höre noch ihre Stimme, die mir sagt, es komme darauf an, sie nicht nur zu ertragen, sondern zu lieben. Ich könne zu ihr kommen, wann immer ich wolle.
Die dritte Gestalt kommt aus dem Norden und verkörpert Eigenschaften, wie wir sie von Artemis und Athene kennen:
Wieder später. Ich entdecke die dritte. Die Göttin des Nordens. Sehr schön, wieder anders und ebenfalls vertraut. Ihre Gestalt ist hoch und schlank, eine einzige Verkörperung von Stolz, Willen, Mut und kühler Überlegung. Sie trägt einen weichen, rehbraunen Lederanzug. Sehr sinnlich und gleichzeitig deutlich ein Kämpferinnenanzug. Die Arme sind nach beiden Seiten ausgestreckt; wie ein lebendes Kreuz steht sie da; zugänglich, aber mit spürbaren Grenzen, die niemand ungestraft überschreiten wird. Auch sie trägt Sternenschmuck; ein Stern in jeder Handinnenfläche, auf den Fußrücken und einen auf dem Scheitel. Klar, geordnet, kühl, entschlossen. Gefährlich, wenn es sein muss, und niemals im Gefühlschaos. Göttin der Amazonen.
Ganz zum Schluss erscheint der Seherin schließlich eine entfernte, starre weiße Gestalt, die sie so beschreibt:
Schließlich sehe ich die vierte, weit entfernt im Osten. Die ganze Erscheinung weiß. Ein langes, weißes Gewand, das Haar lang und weiß wie bei einer Greisin. Trotzdem scheint sie die Jüngste von allen zu sein. Als einziger Schmuck auf ihrer Stirn ein Stern. So weit, wie sie am Himmel von mir entfernt steht, so fremd ist mir auch ihr Wesen. Auch sie strahlt Ruhe, Gelassenheit und Unerreichbarkeit aus, aber anders als bei der Schwarzen. Wenn ich das einigermaßen treffend kennzeichnen soll, dann als Unschuld mit hohem Wissen – eine unbeschreibliche Mischung.12
Aus diesem Erfahrungsbericht wird bereits deutlich, dass das vierte Gesicht der Göttin am schwersten zu erfassen ist, auch wenn es unverkennbar ist. Wenn wir versuchen, die vier Göttinnen zu einem Muster zu abstrahieren, ergeben sich vier Göttinnen-Familien, die jeweils mit einer Himmelsrichtung, einer Tageszeit, einer Mondphase, einer Menstruationsphase, einer Jahreszeit, einem Element verbunden sind.
1. Osten - Luft: Die Göttin erscheint als junges Mädchen oder Jungfrau, Lichtbringerin, Sonnenjungfrau, Frühlingskönigin. Morgendämmerung, zunehmender Mond. Brigid, Hathor, Ischtar/Astarte, Aphrodite, Arianrhod, Vajrayogini. Gold
2. Süden - Feuer: Die Göttin erscheint als Mutter, liebevoll beschützend oder festhaltend-verschlingend. Mittag, Vollmond, Mittsommer. Maria, Isis, Demeter, Kybele, Tara, Rhea. Rot.
3. Westen - Wasser: Die Göttin erscheint als weise Alte, Ratgeberin und Führerin, oder als destruktive, dämonische Hexe. Abend, abnehmender Mond, Herbst. Ceridwen, Göttin des Meeres, Baba Yaga, Frau Holle, Frigga, Athene. Weiß.
4. Norden - Erde: Die Göttin erscheint als Ahnin, Todesbotin, Zerstörerin, Spenderin der Wiedergeburt, geschmückt mit Schädeln und Knochen als starre, weiße Gestalt, Herrscherin der Unterwelt. Nacht, Dunkelmond, Winter. Hela, Hekate, Ereschkigal, Morrigan, Ankou, Giltine, Kali, Santa Muerte, Lady Death, Death. Schwarz/weiß.13
Selbstverständlich sind diese vier Grundtypen nicht scharf von einander abgetrennt, sondern fließen ineinander. So kann die gütige Mutter leicht zur dämonischen Verschlingerin werden, und die Todesgöttin kann als unschuldiges junges Mädchen auftreten (wie z. B. in Neil Gaimans „Sandman“-Epos). Wir haben es schließlich nicht mit mathematischen Funktionen zu tun, sondern mit Symbol-Bildern, die ähnlich ambivalent sind wie Traumsymbole. Daher kann die Zuordnung der Farben, Himmelsrichtungen und Symboltiere variieren, wie wir dies auch in der Mythologie feststellen können.
Hekate, mit der wir uns im Folgenden befassen wollen, ist unseres Erachtens eine Ausprägung des vierten Göttinnen-Aspekts. Dabei werden wir versuchen, ihren ambivalenten Charakter herauszuarbeiten und gegen die gängige Auffassung polemisieren, dass Hekate eine Mondgöttin sei – wenn sie mit dem Mond in Verbindung steht, dann allenfalls mit dem Dunkelmond. Die Fixierung auf die „Mondgöttin“ Hekate verhindert jedoch, ihr ursprüngliches Wesen als Erd- und Sonnengöttin zu erkennen. Die Mondgöttin Hekate ist ein eher sekundärer Aspekt, wie sich im Folgenden, wie wir hoffen, noch zeigen wird.
Hekate verkörpert den Tod, aber auch die Geburt, ist der personifizierte Übergang, die Herrin der Kreuzwege, die unfruchtbare Zeit, in der sich aber unsichtbar schon das neue Leben vorbereitet, die Einweiherin und Entsühnerin, das Tor zur Unterwelt. Sie ist verwandt mit all den „weißen Frauen“, die in der europäischen Folklore als Todesbotin und Zerstörerin/Erneuerin auftreten, wie z. B. die keltische Morrigan, die germanische Hel, die litauische Giltinè oder die bretonische Ankou. Nach Meinung von Marija Gimbutas stammen alle diese Göttinnen von dem Typus der steinzeitlichen „starren weißen Frau“ ab, der in zahlreichen Gräbern gefunden wurde:
Ein ganz eigener Typus in der Skulpturenkunst ist die Nackte mit verschränkten oder anliegenden Armen, übergroßer Vulva, langem Hals, kaum angedeuteten Gesichtszügen oder Gesichtsmaske und Polos oder Diadem. Sie ist stets in Marmor, Alabaster, Bernstein, Knochen, hellem Stein oder Ton gearbeitet. Der helle Farbton ist die Farbe von Knochen und damit auch die Farbe des Todes. Im europäischen Volksglauben gibt es bis heute die Vorstellung vom Tod in Gestalt einer großen, weißgekleideten Frau mit knochendürren Beinen. Zweifellos stammt dieses Bild aus dem alten Europa, wo der Tod weiß war wie Knochen und nicht schwarz wie der furchterregende, indoeuropäische Gott des Todes und der Unterwelt. (…) Die meisten starren Nackten aus dem Neolithikum, der Kupferzeit und der Frühbronzezeit wurden in Gräberfeldern oder Einzelgräbern gefunden, da diese Art von Statuetten als Grabbeigaben fungierten.14
Die wichtigsten Symbole der Todesgöttin sind unheilverkündende Vögel wie der Geier, die Eule, der Kuckuck, der wilde Eber, die Schlange und der Jagdhund sowie der trockene Knochen. Wir werden sehen, was davon sich bei Hekate wieder findet.
Die Religion der Steinzeit
Die Forschungsergebnisse von Marija Gimbutas haben unseren Blick auf die Tatsache gelenkt, dass die Wurzeln aller heutigen Religionen, aller Götter und Riten, in der Steinzeit liegen. Denn in dieser Zeit begann der Mensch erstmals, Tote zu bestatten, Rituale durchzuführen und Magie zu üben. Eine Rekonstruktion des steinzeitlichen Weltbildes ist daher anthropologisch, religionsgeschichtlich und psychologisch von hohem Interesse.
Eine behutsame Rekonstruktion der steinzeitlichen Glaubenswelt unternimmt Ina Mahlstedt in ihrem Buch „Die religiöse Welt der Jungsteinzeit“ (2004 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen); ihre Erkenntnisse sollen im Folgenden zusammengefasst werden.
Der Mensch der Alt- und Mittelsteinzeit war Jäger und Sammler, erst in der Jungsteinzeit erfolgt der Übergang vom Nomadenleben zur Sesshaftigkeit und zum Ackerbau. In Verbindung mit der Agrikultur wird die Beobachtung der Gestirne und die Bestimmung des Jahreszeitenzyklus immer wichtiger, was dazu führt, dass die ursprüngliche Verehrung von Ahnengeistern und Tiergeistern durch einen ausgeprägten Sonnen- und Gestirnkult ergänzt wird (Stonehenge, Planeten identifiziert mit Göttern).
Erde und Himmel bilden eine Polarität, wobei die Erde als weiblich, der Himmel als männlich gesehen wird. Die Erde ist ambivalent, einerseits die große Mutter, andererseits die große Verschlingerin:
Denn im zyklischen Vegetationskreislauf steht ihrem Leben gebenden Aspekt gleichwertig eine zum Tode führende Kraft gegenüber. Als Magna Mater war sie Mutter des Lebens und des Todes. Andere weibliche Gottheiten, wie sie heute noch in Indien als Anba, Durga, Kali oder Shakti verehrt werden, wurden als Personifikation der Ur-Energie verstanden, die das Leben rhythmisch entstehen und vergehen lässt. (Mahlstedt, S. 56).
Der Himmel verkörpert hingegen Ordnung und Zeugungskraft, sein Regen wird daher als Samen verstanden, der die Erdmutter schwängert und befruchtet. Der tägliche Sonnenuntergang sowie die kürzere Sonnenscheindauer im Winter werden als zyklischer Tod des Sonnengottes, als Unterweltsfahrt oder als Wechsel von Sommer- und Wintergott verstanden. Symboltier des männlichen Himmelsgottes ist hauptsächlich der Stier, seine Paarung mit der Erdgöttin wird alljährlich vom König, Stammesfürst, Clanchef und der Hohepriesterin (oder Königin) stellvertretend vollzogen; die Legitimität des männlichen Anführers bedarf anfangs der Bestätigung durch die Göttin und ihre Priesterinnen.
So bewegt sich das Leben in einem ewigen Kreislauf von Leben und Sterben; das Leben läuft auf den Tod zu, während sich im Tod schon wieder kommendes Leben ankündigt. Für den Menschen der Jungsteinzeit
war der Tod das Geheimnisvollste, weil nur er das Leben wiederkehren lassen konnte… Der Tod ist im Neolithikum die geheimnisvollste und mächtigste Kraft des Daseins. Er ist der geheimnisvollste Magier, da er den Tod in Leben zu verwandeln vermag. Es ist dieser Gedanke – nämlich die existentielle Bedeutung des Todes für die Erhaltung und Weitergabe des Lebens – der den Archäologen und Religionswissenschaftlern bislang entgangen ist… man hat sich nicht vorstellen können, dass man den Tod als schöpferische Kraft erfuhr. (62 - 63)
Ausdruck solcher Vorstellungen sind die zahlreichen Mythen, in denen die Entstehung der Welt aus der Tötung und Zerstückelung eines Ur-Wesens erklärt wird oder das Opfer eines jungen Lieblings der Göttin notwendig ist, um die Fruchtbarkeit der Erde zu sichern. So wird der Himmel etwa als steinerne Kuppel gedacht, die von einem Helden mit einem Hammer, einer Axt oder einem Vajra (Indra in Indien) zerschlagen wird. Der Stein erscheint geradezu als Manifestation von Schöpferkraft, was sich in zahllosen Steinkulten ausdrück, die auf der ganzen Erde verbreitet sind. Die Geburt des Mithras aus einem Stein ist ein später Widerhall solcher Vorstellungen.
Voraussetzung für neues Leben ist der Tod eines (anfänglich sicherlich freiwilligen) Opfers: die Zerteilung von Kornpuppen, deren Stücke über die Felder verstreut werden, sind ein schwacher Rest solcher ursprünglichen Menschenopfer. Der Mythos von Osiris und Seth spiegelt keinen Mord wieder, sondern ein Kultopfer, das Fruchtbarkeit erzeugt (aus Osiris’ Leib wachsen Pflanzen) – woraus übrigens auch folgt, dass Gott Seth in diesem Mythos nicht einfach nur der „Böse“ sein kann. „Die Zerstückelung eines Urzeitwesens und das daraus Hervorgehen von Kulturpflanzen und Tier ist ein weltweites Mythologem.“ (S. 72). Der Opfertod wird als Hochzeit mit dem Gott oder der Göttin gefeiert, das Opfer wird selbst vergöttlicht und als Bote zu den Göttern geschickt. Teilweise scheinen die Opfer auch lebendig begraben worden zu sein, was man noch aus einer Koranstelle herauslesen kann (Sure 81,7 - 10), die einen vorislamischen Brauch verurteilt.
Das Jenseits ist für den Menschen der Jungsteinzeit kein Ort des Schreckens und auch kein statischer „Himmel“, sondern ein Ort der Wandlung und Entstehung: „Die neolithische Jenseitswelt hatte überhaupt nichts Furchtbares. Es war eine geheimnisvolle, kraftvolle Landschaft, eine entlegene Gegend, in der Einsamkeit, Leere und Kargheit sichtbar wurden. In den Mythen ist sie oft durch Tore, Türen oder Mauern von der Lebenswelt der Menschen getrennt.“15 Beispiele sind die Insel Tirnanog oder das Gebirgsland Maschu im Gilgamesch-Epos. Dieses Jenseits konnte in schamanischen Jenseitsreisen rituell besucht werden, Kultorte und Gräber waren Zugangspforten zur Unterwelt (so noch bei Vergil im sechsten Gesang der Äneis).
Dieses Weltbild kreist um die Gestalt der Göttin, die als Erdgöttin die beiden scheinbar widersprüchlichen Aspekte von Fruchtbarkeit und Vernichtung verkörpert. Nun gibt es in der Steinzeit, wie wir aus den Grabungsfunden wissen, zwei Arten von Göttinnen: zum einen ausgesproche üppige, ausladende Göttinnen, die auf Sitzen thronen und von Löwen begleitet sind, zum anderen dürre, starre Gestalten, die aufrecht stehend die Arme vor der Brust verschränken. Gimbutas deutete letztere als Verkörperung des Mangels und der Angst vor Dürre, Tod usw. Mahlstedt widerspricht und deutet diese „starren Nackten“ als Ausdruck für die Kraft des schöpferischen Todes“16 , die vielmehr die Fähigkeit zur Regeneration verkörpern. Die beiden Göttinnen-Typen würden also die beiden Aspekte der Erd-Göttin verkörpern: in zyklischem Wechsel Mutter und Mörderin zu sein.