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Der eleusinische Demeter-Hymnus

Die Menschen, schreibt Strabon in seiner „Erdbeschreibung“, seien den Göttern dann am ähnlichsten, „wenn sie glücklich sind. Dies aber bewirkt die Freude, das Feiern der Götterfeste, das Philosophieren und die Beschäftigung mit der Musik“. Dem antiken Menschen wurden die Götter in den Mysterien erfahrbar, in denen er durch Einweihung und kultische Feier zur Gottbegeisterung geführt wurde. Die wichtigsten Mysteriengottheiten waren Demeter, Dionysos, Apollo, die Musen – und Hekate: „Die meisten Hellenen nun haben dem Dionysos, dem Apollo, der Hekate, den Musen, ja vor allem der Demeter jede Art von Orgienfeier und Bakchischer Begeisterung, die Chortänze und das Geheimnisvolle der Einweihungsfeste beigelegt (...) Auch das Herumtragen geweihter Bäume, die Chortänze und die Einweihungen sind diesen Göttern gemeinschaftlich“ (Strabon, X,3,10). Die Mysteriengötter haben zwar ihre speziellen Zuständigkeitsbereiche und Symbole, wie das Getreide bei Demeter und der Wein bei Dionysos, sind andererseits aber doch so ähnlich, dass ihre Kulte sich gegenseitig überlappen.

Hekate konnte daher eine Rolle in den Demeter-Mysterien von Eleusis spielen. Die homerische Hymne vom Raub der Persephone, die den Gründungsmythos der eleusinischen Feier erzählt, ist der zweite frühe Text, in dem Hekate uns in der griechischen Literatur entgegentritt.

Mit Demeter war Hekate schon früh verbunden, da beide Göttinnen durch ihre Beziehung zur Unterwelt charakterisiert sind; so lag etwa der kleine Bezirk der Hekate in Selinus (Selinunt auf Sizilien) neben dem Tor des Demeterbezirks, eine Metope mit Demeter, Hekate und Kore ist noch vorhanden (Hekate begrüßt die aus der Unterwelt kommenden Göttinnen).70 Die Forschung geht heute allgemein davon aus, dass der Hymnus als Einweihungstext zu lesen ist, der in der Nacherzählung des Mythos die Einweihung nachklingen lässt.

Hekate ist hier außer Helios die einzige Gestalt, die den Hilferuf der Kore vernimmt, aber nicht sieht, wer der Entführer ist (Vers 20 ff.):

Aber kein Gott vernahm und keiner der Menschen ihr Flehen,

auch nicht die Ölbäume in der Pracht der leuchtenden Früchte;

nur die kinderliebende Tochter des Perses in ihrer

Höhle, die Göttin Hekate mit dem schimmernden Schleier

(λιπαροκρήδεμνος),

und Fürst Helios, Hyperions stattlicher Sprössling,

hörten das Mädchen nach seinem Vater rufen. 71

Hekate sitzt in einer unterirdischen Höhle und ist neben Helios die einzige Zeugin der Entführung. Die enge Verbindung zwischen Helios und Hekate wird uns noch öfter begegnen, so ist z. B. die Hekate-Priesterin Medea auch eine Enkelin des Helios. Meist wird diese Stelle des Hymnos so interpretiert, dass Hekate hier für den Mond, die Nacht und das Weibliche stehe und mit Selene gleichgesetzt sei, was zunächst auch durchaus plausibel klingt. Unwillkürlich drängt sich einem da das Bild einer weisen Frau auf, die in sich gekehrt, mit der Kopfbinde der Eingeweihten geschmückt, in ihrer Höhle über Geheimwissen nachsinnt. Aber wie passt das zu der Höhle, in der Hekate sitzt? Meines Wissens wird Selene in der griechischen Mythologie nie in einer Höhle sitzend dargestellt. Die Symbolik der Höhle verweist viel eher auf den Zugang zur Unterwelt, auf Erd- und Muttergöttinnen. Der Höhepunkt der Einweihung in Eleusis war erreicht, wenn Hierophant und Hohepriesterin den Abstieg (katabasion) vollzogen und in der Dunkelheit der Höhle die heilige Hochzeit vollzogen, nachdem die Mysten die Fackeln gelöscht hatten.72 Die enge Verbindung zu Demeter und der Kore lässt m. E. keinen anderen Schluss zu, als dass Hekate im Rahmen der Mysterien von Eleusis ebenfalls als Erdgöttin aufzufassen ist, die speziell die unterirdische, nächtliche Sonne verkörpert und den Sonnengott des Tages als Partner hat. Eine Höhle der Hekate spielte auch bei den Mysterien der Kabiren auf Samothrake eine wichtige Rolle, als Göttin Kabeiro scheint Hekate dabei die Mutter der geheimnisvollen Kabiren gewesen zu sein; in Antiochia soll Kaiser Diokletian ihr eine Krypta geweiht haben, zu der man auf 365 Stufen hinabstieg.73

Es steht außer Zweifel, dass im Mittelpunkt der Mysterien von Eleusis die Fruchtbarkeit der Erde stand, dass dabei Schweine geopfert wurden und den Epopten eine geschnittene Ähre gezeigt wurde. Auf dem Höhepunkt der Einweihung rief der Hierophant: „Einen heiligen Sohn hat die Herrin geboren, Brimo den Brimos.“74 D. h. das Mysterium einer heiligen Geburt hat sich ereignet, die Göttin hat in der Unterwelt einen Sohn geboren und sich damit als Lebensgeberin erwiesen, die durch Töten und Tod hindurch den Kreislauf der Natur in Gang hält. Nun ist Brimo eine alte thessalische Erdgöttin, die oft mit Hekate und Persephone gleichgesetzt wird; und auch die kleinasiatische Muttergöttin (Magna Mater, Meter) wurde allgemein als Erdgöttin verstanden und insofern mit Demeter identifiziert. Wir sehen also, dass Demeter, Persephone und Hekate im Demeter-Hymnus geradezu eine Trinität von Erdgöttinnen bilden, der die Himmelsgottheiten (Helios, Zeus) als eine ganz andere Götterkategorie gegenüberstehen.

Neun Tage irrt Demeter auf der Suche nach ihrer Tochter mit Fackeln umher. Am zehnten Tag begegnet sie Hekate, die sich ebenfalls mit einer Fackel auf die Suche nach ihr gemacht hat. Gemeinsam machen sie sich auf zu Helios, der ihnen enthüllt, dass Hades der Räuber ist (im Gegensatz zu Hekate, die den Raub nur hörte, hat Helios die Szene auch gesehen, als er am Himmel dahinzog). Diese unruhige, angstvolle Suche nach der Verschwundenen wurde von den Neophythen im Vorbereitungsteil der Mysterien rituell nachgespielt (Vers 48 - 64):

Ganze neun Tage durchstreifte die machtvolle Deo den Erdkreis,

flammende Fackeln in ihren Händen; vom Kummer gepeinigt,

rührte sie weder Ambrosia an noch köstlichen Nektar,

tauchte auch ihren Körper nicht mehr ins Wasser zum Bade.

Als ihr am zehnten Tage die leuchtende Eos emporstieg,

kam ihr Hekate, in den Händen die Fackel, entgegen,

richtete gleich das Wort an sie und stellte die Frage:

„Hohe Demeter, Göttin der Reife und herrlicher Gaben,

wer von den himmlischen Göttern oder wer von den Menschen

raubte Persephone dir und schlug dich mit bohrendem Kummer?

Schreien hörte ich sie, doch erkannte nicht den Entführer.

Damit enthülle ich kurz dir den Hergang, soweit ich ihn kenne.“

So sprach Hekate. Keinerlei Antwort erteilte die Tochter

Rheias, der lockengeschmückten, sondern an Hekates Seite

stürmte sogleich sie fort, in den Händen die flammenden Fackeln.

Helios suchten sie auf, der acht gibt auf Götter und Menschen,

traten vor sein Gespann.75

Zum dritten Mal erscheint Hekate nach der Wiedervereinigung von Demeter und Persephone (v. 438). Sie wird als Dritte in den innigen Bund von Mutter und Tochter aufgenommen und zur festen Begleiterin der Persephone gemacht (C. G. Jung fühlt sich von Hekate als Helferin der Demeter an die Rolle des Anubis im Osiris-Mythos erinnert). Hekate erweist sich schließlich als zartfühlende, Anteil nehmende Freundin, die mit den beiden Getreide-Göttinnen eng verbunden ist und mit ihnen eine chthonische Trinität bildet:

So bereiteten sie, in herzlicher Eintracht, den ganzen

Tag einander aus inniger Liebe vielerlei Freuden

und erholten sich allmählich vom lastenden Kummer.

Jeder der beiden gab und empfing Beweise des Frohsinns.

Hekate nahte den beiden, die Göttin im schimmernden Kopftuch,

und umarmte herzlich die Tochter der hohen Demeter.

Seitdem wirkte die Herrin für sie als treue Genossin.76

Der letzte Vers lautet wörtlich: „Seit dieser Zeit war Hekate die Dienerin (πρόπολος, própolos) und Begleiterin (όπάων, opaôn) der Persephone.“

Der Hymnus deutet mit diesen beiden Begriffen an, dass Hekate im Mythos und im Ritual der Einweihung eine entscheidende Rolle bei der „Höllenfahrt“ und der „Auferstehung“ der Kore zukommt. Sie ist die schützende Begleiterin der Proserpina, die den Übergang in die chthonische Welt vermittelt, und dies nicht nur einmal, sondern alljährlich. Wenn wir uns noch einmal Hekates Ort zu Beginn des Hymnus vergegenwärtigen, sehen wir, dass sie wieder die Mittlerin zwischen Ober- und Unterwelt ist. Sie ist gegenwärtig, als die Kore in die Unterwelt hinabsteigt und ebenso, als sie wiedergeboren wird. Daher wird Hekate auf Vasenbildern häufig neben Persephone dargestellt (Beispiele von antiken Vasen findet man auf der Homepage www.theoi.com).77 Hekate ist die Vermittlerin, die Göttin des Übergangs von Leben zu Tod und Tod zu Leben, von Unterwelt und Oberwelt. Ich frage mich, ob die dreigestaltige Darstellung der Hekate nicht sogar als die Dreifaltigkeit von Demeter, Hekate und Persephone gedeutet werden könnte, wobei Hekate die geheime Verbindung zwischen Demeter und Persephone wäre, der schwarze Engel, der die Verbindung zwischen oben und unten bewacht, wie der Psychologe James Hillman meint:

Von Hekate heißt es, sie habe die ganze Zeit dabeigestanden und zugehört oder zugesehen. Es gibt offensichtlich eine Perspektive, von der aus der Kampf der Seele wahrgenommen werden kann ohne die Angst der Persephone oder das Unglück der Demeter. Auch in uns lebt ein schwarzer Engel (Hekate hieß auch angelos), ein Bewusstsein (sie hatte auch den Namen phospheros), das im Dunkeln leuchtet und solche Ereignisse wahrnimmt, weil es ihrer schon vor aller Erfahrung gewahr ist. Dieser Teil hat eine a priorische Verbindung mit der Unterwelt durch schnuppernde Hunde und Keiferei, Mondfinsternisse, Geister, Abfälle und Gifte. Ein Teil von uns wird nicht nach unten gezogen, sondern lebt immer dort, wie Hekate teilweise eine Göttin der Unterwelt ist. Von diesem Aussichtspunkt können wir unsere eigenen Katastrophen mit einer dunklen Weisheit beobachten, die kaum etwas anderes erwartet.78

Hekate wird im Demeter-Hymnus zweimal „mit glänzendem (gesalbtem?) Kopfband geschmückt“ (λιπαροκρήδεμνος, liparokrêdemnos) genannt. Die deutschen Übersetzungen von Eduard Mörike (1840) und Weiher (1961) geben dieses seltene Adjektiv, mit dem Homer in der Ilias (18,382) die Charis bezeichnet, ungenau mit „weißverschleiert“ wieder. Erst Dietrich Ebener (1976) übersetzt korrekt mit „schimmerndes Kopftuch“. Die Bedeutung dieses Beinamens ist rätselhaft, er muss einen esoterischen Sinn gehabt haben, der sich nur dem Eingeweihten erschloss. Das Anlegen von Kopfbinden kommt jedoch häufig bei Einweihungsriten (z. B. bei tantrischen Einweihungen) vor und steht meist für das Nicht-Sehen des Ungeweihten; sobald der Neophyt in die Geheimnisse eingeweiht wurde („Eintritt ins Mandala“), darf er die Kopfbinde abnehmen (daher verhüllt auch der Held bei Achilleus Tatios, III,18 sein Gesicht, als seine Geliebte von einem Ägypter mit Hilfe der Hekate wiederbelebt wird). Insbesondere bei der Einweihung in die Mysterien der unterweltlichen Götter musste man sich den Kopf verhüllen, so z. B. bei den Mysterien der „unterweltlichen Persephone“ in Agrai (Hippolytus, Refutatio, 5,8,43). Auf einem Marmorrelief aus dem 1. Jahrhundert n. Z. im Nationalmuseum von Neapel, das eine Einweihungsszene zeigt, ist deutlich zu erkennen, dass der Kopf des Mysten mit einem Tuch verhüllt ist, während eine weibliche Gestalt links von ihm zwei umgedrehte Fackeln hält und ein Priester mit Kopfbinde eine Flüssigkeit ins Feuer gießt.79 Sogar Goethe plante ursprünglich für den zweiten Teil des „Faust“ eine Szene, in der Faust in der Unterwelt der „verhüllten Persephone“ gegenüber treten sollte.

Dass Hekates Kopfband „glänzend“ ist, passt wieder sehr gut zu ihrem Charakter als Licht-Gottheit. Merkwürdig ist auch, dass Zeus’ Mutter Rheia, die Demeter auf sein Geheiß in den Kreis der olympischen Götter zurückholen soll, ebenfalls als „mit glänzender Kopfbinde geschmückte“ (V. 459) bezeichnet wird. Rhea wurde gern mit der phrygischen Kybele gleichgesetzt, die ebenfalls Mysterien besaß; beide wurden von den Pythagoräern mit Demeter identifiziert. Ein Grabrelief aus Lebadeia in Böotien, wo sich die berühmte Orakelhöhle des Trophonios befand, zeigt einen Mysten, der nach seinem Tod von Hekate an der Hand genommen und vor Kybele geführt wird.80 Da der Verstorbene in derselben Größe wie die Göttinnen abgebildet ist, darf man annehmen, dass er selbst vergöttlicht wurde. Hekate scheint also in den Kybele-Mysterien ebenfalls eine vermittelnde Funktion übernommen zu haben. Über Beziehung zwischen Rheia und Hekate haben sich später dann die Neuplatoniker Gedanken gemacht, wir werden bei der Besprechung von Proklos’ sechster Götter-Hymne noch darauf zurückkommen.

Da der Mythos von Eleusis allem Anschein nach die Erfahrung eines Abstieges in die Unterwelt und einer Wiedergeburt vermittelte, spielte Hekate in ihm eine wichtige Rolle als Helferin und Wegbereiterin des Einzuweihenden. Sie war die Hüterin der Schwelle, die vor jeder Reise in die Anderwelt gewonnen werden musste. Hierfür spricht, dass sich in Eleusis ein propyläisches Hekate-Heiligtum befand, das auch von Pausanias (I, 38) erwähnt wird. Bei den Einweihungen hat die Fackel, die sie oft als Symbol in Händen hält, gewiss eine kultische Rolle gespielt (und zwar als chthonisches Symbol81). Hekate hilft Demeter bei der Suche nach der geraubten Tochter, indem sie ihr mit ihrer Fackel leuchtet – was von den Neophyten zu Eleusis am Abend des 20. Boedromion, des Iakchos-Tages, am Meeresufer kultisch nachgespielt wurde.

Auch hier erweist sich die Göttin also wieder als Vermittlerin bzw. Wächterin des Übergangs zwischen verschiedenen Welten. Sie steht am Übergang von Haus und Öffentlichkeit, profan und sakral, lebendig und tot. Wir können also die gängige Vorstellung, Hekate sei die Göttin der Unterwelt und der Toten – denn dies ist in Wirklichkeit Persephone als Gattin des Hades/Plutos - dahingehend modifizieren, dass sie die Göttin des Übergangs von Leben zu Tod und von Tod zu Leben ist. In dieser Funktion ist sie mit dem Türhüter Apollon, mit dem römischen Gott Janus und vor allem mit Hermes dem Seelenführer verwandt, der ebenso wie Hekate Seelen in die Unterwelt hinab- und Träume hinaufführt (vgl. Odyssee, XXIV). Dies erklärt auch den scheinbaren Widerspruch, warum Hekate (oder Artemis) häufig als Geburtshelferin angerufen wird: Die Geburt ist ebenfalls ein Übergang, bei dem eine Seele aus der Unter- in die Oberwelt überführt wird (die Vorstellung der Reinkarnation war mit den eleusinischen Mysterien eng verbunden, wie die bekannte Stelle in Platons „Gesetzen“ und archäologische Funde beweisen). Die Geburtswehen wurden bildlich als Pfeil gedeutet, den die Göttin auf die Gebärende abschießt: „Wie in den Wehen der spitzige Pfeil die Gebärende peinigt,/ stechend, wie ihn die hilfreiche Eileithyia entsendet,/ Heras Tochter, die mit sich führt die bitteren Wehen“82. Von daher erklärt sich die Gleichsetzung der Geburtsgöttin Eileithyia mit Artemis und Hekate. Wir werden später noch einmal auf die Unterwelt (chthonos) zurückkommen.

Mit dieser Funktion der Hekate hängt auch der Galinthias-Mythos zusammen, der das Wiesel zu einem ihr heiligen Tier macht. Die Sage wird uns bei Antoninus Liberalis (Verwandlungen, 29) und Ovid (Metamorphosen IX, 281 ff.) überliefert. Als Hera die Geburt des Herakles verzögert, um zu verhindern, dass er König von Theben wird, greift Galinthis oder Galinthias ein:

Galinthias war die Tochter der Prötus in Theben. Diese Jungfrau war die Gespielin und Freundin der Alkmene, der Tochter des Elektryon. Als nun Alkmenen die Geburt des Herakles drängte, hemmten die Parzen und Ilithyia, aus Gefälligkeit gegen Here, den Fortgang der Wehen Alkmenes, indem sie mit eingeschlagenen Händen dabei saßen. Indem nun Galinthias fürchtete, Alkmene möchte den Schmerzen unterliegen, kam sie eilig zu den Parzen und der Ilithyia heraus, und meldete, Alkmene habe nach Zeus Willen einen Knaben geboren, und mit ihrem Ehrennamen wäre es nun aus. Bei dieser Nachricht ergriff die Parzen ein heftiger Schreck, und sie verließen augenblicklich die Wehen, und Herakles kam zur Welt. Darob trauerten die Parzen, und nahmen der Galinthias ihr Magdthum ab, weil sie, eine Sterbliche, Götter betrogen hatte, verwandelten sie in ein listiges Wiesel, wiesen ihr den Aufenthalt im Winkel an, und machten ihre Begattung widerwärtig; denn sie begattet sich durch die Ohren, und wirft, was sie empfangen, durch den Hals aus. Indes hatte Hekate wegen der Verwandlung ihrer Gestalt Mitleiden mit ihr, und machte sie zu ihrer heiligen Dienerin; Herakles aber gedachte, als er herangewachsen war, ihres Dienstes, errichtete ihr ein Heiligtum neben dem Hause, und brachte ihr Opfer. Diese Opfer beobachten die Thebaner auch jetzt noch, und opfern vor dem Feste des Herakles zuerst der Galinthias.83

Die Verwandlung der Galinthias, englischer Stich von 1777

Ovid ergänzt in seiner ausschmückenden Erzählung, mit welcher magischen Geste die Geburtsgöttin die Geburt hemmt: sie schlägt das rechte Knie über das linke und verschränkt die Finger „kammartig“ (dextroque a poplite laevum/ Pressa genu, digitis inter se pectine junctis). Das Verschränken der Finger und Beine soll, verbunden mit einer böswilligen Absicht, eine hemmende Wirkung haben, was durch den älteren Plinius bestätigt wird:

Bei Schwangeren zu sitzen oder, wenn Heilmittel für irgendjemanden angewandt werden, mit kammartig (pectinatim) ineinander verschränkten Fingern ist eine Giftmischerei, und dies überliefern sie zuverlässig von der den Herkules gebärenden Alkmene, schlimmer, wenn um ein oder zwei Knie, ebenso die Knie gegenseitig gegen die Knie aufgelegt werden. Daher haben die Vorfahren verboten, dies bei Beratungen der Heerführer oder der Beamten zu machen gleich wie das jede amtliche Handlung Hemmende, sie haben aber auch verboten, Opfern und Gelübden auf ähnliche Weise beizuwohnen.“84

Galinthis handelt als Hexe, wenn sie den bösen Zauber der Geburtsgöttin mit einer List, also einem Gegenzauber, bricht. Ihre Verwandlung in ein Wiesel ist einerseits eine Bestrafung, andererseits eine Erhöhung, da sie nun selbst zu einer Gottheit mit eigenem Kult erhoben wird. Man fragt sich auch, wieso Hekate am Ende der Geschichte so unvermittelt eingreift, nachdem zuvor nur von Hera, Eileithyia und den Moiren (Parzen) die Rede war. Die Antwort kann nur darin liegen, dass sie eine Affinität zu der Göttin hat, der sie assoziiert wird. Dass Hekate oft mit der Geburtsgöttin gleichgesetzt wird, haben wir gesehen; sollten also Eileithyia und Hekate hier nicht im Grunde identisch sein und nur zwei Aspekte der Göttin ausdrücken? In der Sage geht es um Binden und Lösen, Hemmen und Vorantreiben, „schwarze“ und „weiße“ Magie. Eine Göttin der Magie wird beide Aspekte haben müssen, die hier durch Eileithyia, Hera und die Parzen einerseits und Hekate andererseits ausgedrückt werden. Das Wiesel galt im alten Thessalien, dem griechischen Hexenland, als Verwandlungsform von Hexen – dass Hexen meistens ein „Krafttier“ haben oder nachts ihren Körper verlassen und in Tiergestalt herumstreifen, ist vielfach belegt.85 Was der Mythos als einmalige Verwandlung erzählt, dürfte in Wirklichkeit eine sich regelmäßig wiederholende Praxis der Hexen gewesen sein. Das Wiesel muss also ein Hexentier gewesen sein, das womöglich einen Bezug zu einem alten Göttinnenkult hatte, in dem die Göttin selbst als dieses Tier verehrt wurde. Jedenfalls wurde das Tier als ambivalent empfunden, wofür die Spuren im europäischen Volksaberglauben sprechen, in dem es sowohl unglückbringend wie glückverheißend ist (die getrocknete Zunge des Wiesels im Schuh zu tragen sollte alle Feinde zum Verstummen bringen, ein Wiesel vermag den Basilisken zu töten, Plin. Nat. hist. 8,33,78). In der Tat kann dieses kleine Raubtier beim Eindringen ins Haus Schaden anrichten und wurde verdächtigt, Kühen die Milch auszusaugen, andererseits macht es sich als Vertilger von Ratten und Mäusen nützlich, weshalb man früher Wieselfelle in die Scheune legte oder im alten Rom gar die Asche eines verbrannten Wiesels im Stall verstreute.86 Dass das Wiesel im Lauf des Jahres sein Fell wechselt (braun zu weiß), passt ebenfalls zu seinem ambivalenten Wesen. Da es bei ihm keine normale Fortpflanzung gibt, wie man glaubte, schrieb man ihm im Volksglauben sogar eine empfängnisverhütende Wirkung zu – was wiederum sehr gut zu Dunkelmond-Göttinnen wie Hekate passt.87

1 „She is not essentially a demonic deity but one of liminality, concerned with guiding the worshipper through inherently dangerous and uncertain areas of ‚no-man’s lands’ beyond the certain and the known, like birth and death and, in the physical realm, crossroads and doorways“ (Stephen Ronan: The goddess Hekate. Hastings 1992, S. 6).

2 Gegen die orientalische Herkunft der Göttin spricht sich hingegen Nina Werth (2007) aus, was mich aber nicht überzeugt.

3 Alfred Heubeck hat schon 1955 gefordert, man müsse in Zukunft die hurritisch-hethitischen Mythen auf ihre Vorbildfunktion für die griechische Sagenbildung betrachten, ein Ansatz, der heute u. a. von Frank Starke, Norbert Oettinger und Peter Högemann vertreten wird.

4 Volkert Haas: Magie und Mythen in Babylonien, Vastorf 1986; Magie und Mythen im Reich der Hethiter, Hamburg 1977; Geschichte der hethitischen Religion, Leiden/New York/Köln 1994.

5 S. Ronan, S. 120 f. und Gimbutas.

6 S. Abb. 354 in G. Camporeale, Die Etrusker, Düsseldorf u. Zürich 2003.

7 Herbert J. Rose: Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München 2003, S. 118.

8 Reinhold Merkelbach: Mithras. Königsstein 1984, S. 216 - 218.

9 Volkert Haas: Geschichte der hethitischen Religion. Leiden, New York, Köln 1994, S. 156.

10 Volkert Haas: Geschichte der hethitischen Religion, S. 300 und 373.

11 Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriarchats. Frankfurt 1991, S. 25.

12 Gerda Lerner, S. 27.

13 Volkert Haas: Magie und Mythen im Reich der Hethiter. Hamburg 1977, S. 51. Hervorhebung im Zitat von mir.

14 Haas, Hethiter, S. 18.

15 Haas, Hethiter, S. 28.

16 Volkert Haas: Geschichte der hethitischen Religion, S. 383 - 392.

17 Haas, Hethiter, S. 29.

18 Haas, Hethiter, S. 33.

19 Gerda Lerner, S. 198.

20 Gerda Lerner, S. 198 - 200, vgl. V. Haas, Hethiter, S. 25 - 40.

21 Daniel Schwemer: Gebet und Vorzeichenkunde bei den Hethitern. In: Damals, 34. Jg., Heft 2/2002, S. 28. S. auch Schwemer, Die Wettergottgestalten Mesopotamiens und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen, Wiesbaden 2001.

22 Volkert Haas: Geschichte der hethtischen Religion, S. 378 u. 421.

23 Daisuke Yoshida: Untersuchungen zu den Sonnengottheiten bei den Hethitern. Heidelberg 1996, S. 318 f.

24 Haas: Mythen und Magie im Reich der Hethiter, S. 52.

25 „Das von den aufgebrachten Dämonen oder den erzürnten Göttern begehrteste Substitut ist ein Mensch.“ (V. Haas: Geschichte der hethtitischen Religion, S. 896).

26 Yoshida: Untersuchungen, S. 319.

27 Strabon: Geographie XIV.2, übersetzt von Karl Kärcher, Stuttgart 1835, S. 1208.

28„Meerwärts liegen die Karer, die Päoner, kundig des Bogens, Leleger auch, Kaukonen zugleich.“ (Ilias 10,428, Übersetzung von D. Ebener).

29 I. J. Adiego: The Carian Language. Leiden 2006.

30 Anneliese Peschlow-Bindokat: Der Latmos. Eine unbekannte Gebirgslandschaft an der türkischen Westküste. Mainz 1996.

31 Peschlow, S. 5.

32 Strabon, XIV,17, p. 656 f.

33 S. Artikel „Karisch“ in: Der Neue Pauly, Bd. 6, Sp. 279 f.

34 Homer: Werke. Erster Band: Ilias. Deutsch von Dietrich Ebener, 3. Auflage, Berlin u. Weimar 1983, S. 47.

35 Griechische Lyrik in einem Band. 2. Aufl., Berlin u. Weimar 1980, S. 287.

36 „sprach die purpurfüßige Jungfrau, die wohlwollende/Hekate, dieses Wort“ (Pindar, frag. 34/P. Oxy. 841; Pindar: Gedichte, München o. J., S. 361).

37 M. P. Nilsson: Griechische Feste von religiöser Bedeutung. Leipzig 1995, S. 398.

38 Nilsson, Griechische Feste, S. 398 - 400.

39 Alfred Laumonier: Les cultes indigènes en Carie. Paris 1958, Tafel VI, Abb. 4,6,7.

40 A. Laumonier, S. 423 f.

41 Annemarie Peschlow, S. 12.

42 Nilsson: Griechische Feste, S. 400 f. Ich konnte den Ort am 21.3.2008 besuchen.

43 Zum Lagina-Fries s. Peter Baumann: Der Fries des Hekateions von Lagina, Neue Untersuchungen zu Monument und Kontext. BYZAS 6, Istanbul 2007.

44 „Dans une pose assez raide“, A. Laumonier, S. 406.

45 Karl Kerényi: Die Göttin Natur. Eranos XIV (1946), S. 57; Diels, Vorsokratiker, Bd. 1, S. 149.

46 Theodor Kraus: Hekate. Studien zu Wesen und Bild der Göttin in Kleinasien und Griechenland. Heidelberg 1960, S. 50.

47 A. Laumonier, S. 401, Nilsson, S. 401.

48 Nilsson, S. 401.

49 Cousin BCH 11,1887, 160-161, Hula, Arch.-epig. Mitt. Aus Öst.-Ung. 12, 1887, 77 - 79. IStrantonikeia 543. S. auch http:/7epigraphy.packhum.org/inscriptions .

50 Martin Nilsson: Griechische Feste von religiöser Bedeutung, Stuttgart 1995, S. 400.

51 Theodor Kraus: Hekate. Heidelberg 1960, S. 11.

52 Th. Kraus, S. 12.

53 Karin Zeleny, Die Göttin Hekate, Wien 1999, S. 12.

54 Scott Jeffreys: The chronicle of John Malalas. A Translation. Melbourne 1986, S. 167.

55 Richard Wünsch: Antike Fluchtafeln, 2. Aufl. Bonn 1912, Text 1.

56 „Hekate ist zuerst so genannt worden, weil sie Strahlen von weither schleudert.“ (Historiae Deorum Gentilium, Basel 1548, S. 494; zit. bei K. Zeleny, S. 7). Näheres zur Etymologie-Diskussion bei Zeleny, S. 26 - 32.

57 S. hierzu Peter Högemann: Die Seuche im Heerlager der Griechen vor Troia. Klio 2007 (im Druck).

58 Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen. München 1996, S. 361.

59 Pausanias: Beschreibung Griechenlands, II, 30,2. Neu übersetzt von Ernst Meyer. Zürich 1954, S. 136.

60 „L‘Hekataion archaïsant de l’Acropole de Rhodos prouverait la persistance dans l’île du type triple du Vie s. jusqu’à l’époque gréco-romaine. Ainsi se trouverait confirmée l’origine orientale, au moins en partie, de notre Hekate carienne, et ses affinités étroites avec Cybele déjà reconnue à Kolophon et à Lagina. Hekate semble encore à Rhodes tenir la place de la vieille Terre-Mère trônant seule sur les hauts-lieux, ou associée à Zeus (…) parèdre du Souverain des dieux sur un double-trône.„ (Alfred Laumonier: Les cultes indigènes en Carie. Paris 1958, S. 681).

61 S. V. Haas: Geschichte der hethitischen Religion, S. 477 - 481.

62 Ovid: Festkalender (Fasten). Metrisch übertragen von C. F. Metzger. Erstes Bändchen. Stuttgart 1838, S. 697.

63 http://www.mlahanas.de/Greeks/Mythology/HecateChiaramonti1922.html.

64 Tatjana Brahms: Archaismus. Untersuchungen zur Funktion und Bedeutung archaistischer Kunst in der Klassik und im Hellenismus. Frankfurt a. M 1994; Nina Werth: Hekate, Hamburg 2006.

65 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Der Glaube der Hellenen. 2. Aufl., Bd. 1, Darmstadt 1955, S. 165.

66 Hesiod: Sämtliche Gedichte. Übersetzt und erläutert von Walter Marg. Zürich 1970, S. 194 - 207.

67 S. die Übersicht der verschiedenen Genealogien bei Zeleny, S. 33.

68 H. Petersmann: Persephone im Lichte des altorientalischen Mythos. Eine etymologisch-religionsgeschichtliche Untersuchung. In: Die Sprache 32 (1986), S. 298 ff.

69 Hesiod: Theogonie. Hrsg. Von Albert von Schirnding. München und Zürich 1991, S. 37 - 39.

70 Nielsson, Griechische Feste, S. 349; Margaret M. Miles: The Propylon to the Sanctuary of Demeter Malophoros at Selinous, in: American Journal of Archaeology, Vol. 102, No. 1 (Jan., 1998), pp. 35 - 57; IG XIV 270 (Vª). Abbildung auf: www.selinunte.net/le_piccole_metope.htm (2007).

71 In: Griechische Lyrik, 2. Aufl., Berlin u. Weimar 1980, S. 1. Hingewiesen sei auch auf die Übersetzung Eduard Mörikes (Sämtliche Werke, München 1964, S. 1254 - 1268).

72 „Ist dort nicht der finstere Niederstieg und das feierliche Zusammensein des Hierophanten und der Priesterin, zwischen ihm und ihr allein; werden nicht die Fackeln ausgelöscht und hält nicht die unzählbare Menge für ihr Heil, was in der Finsternis von den Beiden vollzogen wird?“ (Bischof Asterius, um 390, nach C. G. Jung, Ges. Werke V, Olten 1973, S. 435).

73 Karl Kerényi: Humanistische Seelenforschung, Stuttgart 1996, S. 111; C. G. Jung: Ges. Werke V, S. 471.

74 Walter Burkert: Antike Mysterien. München 1990, S. 76 (Hippol. Ref. 5,8,39).

75 Griechische Lyrik, S. 2 - 3.

76 Griechische Lyrik, S. 14 - 15.

77 Vgl. Sarah Iles Johnston, Hekate Soteira, Atlanta 1990, S. 23 („by being both behind and in front of Persephone, Hekate thoroughly protects or guides her… Hekate’s role in the story of Persephone is that of an escort across a very important boundary”).

78 James Hillman: Im Anfang war das Bild. München 1983, S. 50. Ähnlich äußert sich schon Kerényi in Das göttliche Mädchen (Amsterdam 1941, S. 24 - 28): „Doch mahnte Hekate (...) die Griechen zugleich daran, dass die Dreiteilung neben der geordneten Zeuswelt auch einem chaotischen Bereich Raum lassen muss, in dem sich die Gestaltlosigkeit der Urwelt als Unterwelt weiter erhält.“

79 S. Abbildung 7 in: J. J. Bachofen, Mutterrecht und Urreligion, Stuttgart 1941, S. 144.

80 S. Eitrem: Orakel und Mysterien am Ausgang der Antike. Zürich 1947, S. 67.

81 „Wo sonst die Fackel im Kult vorkommt, gehört sie keiner Gottheit, die je als Mond- oder Sonnengottheit in Anspruch genommen worden ist, sondern chthonischen und orgiastischen Göttern.“ (Martin Nilsson, Griechische Feste, S. 396 f. Fußnote 4).

82 Homer: Ilias, XI, 269 - 271, übers. von Dietrich Ebener, Berlin 1983, S. 199 f. Vgl. Nonnos: Dionysiaka XXXVI, 62 ff.

83 Antoninus Liberalis Sammlung von Verwandlungen. Uebersetzt von Fr. Jacobs. Stuttgart 1837, S. S. 125 - 126 (s. auch Mader, Griechische Sagen, Zürich 1963, S. 225 - 226). Kurze Erwähnung bei Aelian, Hist. Anim. XII,5.

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