Kitabı oku: «Tod eines Jagdpächters», sayfa 2
Herrmann Klötsch
Klötsch kam um viertel nach neun ins Präsidium. Kein Wort der Entschuldigung für das verspätete Auftauchen. Er sah in keiner Weise vom Tod Nirbachs betroffen aus. Protziges Selbstbewusstsein ausstrahlend, nahm er Beltel gegenüber Platz.
Die tiefe Sonnenbräune konnte Anfang Juni nicht echt sein und Beltel vermutete, dass Klötsch Stammkunde im Sonnenstudio war. Das Goldkettchen, die teure Breitling-Uhr, das offen getragene weiße Hemd, die kurz geschorenen schwarzen Haare, die Rasierwasserwolke und Klötschs Figur, die garantiert durch Eisenstemmen im Fitnessstudio entstanden war, ließen ihn eher wie einen Zuhälter als einen Bauleiter aussehen. Vielleicht war er ja auch noch in beiden Bereichen tätig.
Beltel erkundigte sich nach Nirbachs Frau und erfuhr, dass sie den Urlaub in Spanien abbrechen würde. Sie musste nur einen Flug finden und das würde jetzt in der Urlaubssaison nicht einfach.
Im Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild konnte Klötsch sich gewählt ausdrücken. Das hatte er sich sicherlich in der Geschäftswelt aneignen müssen. Und er schien zu wissen, was er der Polizei zu erzählen hatte und was nicht.
Beltel ließ sich schildern, was sich zwischen Klötsch und Nirbach und den Jugendlichen abgespielt hatte. Hatte Klötsch gestern Funk gegenüber noch angedeutet, dass Nirbach vielleicht ein bisschen übertrieben hatte, so war er heute viel vorsichtiger. Seine Aussage stand im Gegensatz zu dem, was Beltel gestern Abend von den Jugendlichen erfahren hatte. Den Jugendlichen zufolge – sie waren fünfzehn und sechzehn Jahre alt – hatte Nirbach sich an ihnen wie ein Berserker ausgetobt. Die beiden Jungs hatten sogar gestern noch Blessuren im Gesicht gehabt. Aber den fünfzehnjährigen Ralf Schmitter, den Beltel und Funk nicht angetroffen hatten, hatte es nach Aussage seiner beiden Freunde noch übler erwischt. Nirbach hatte ihm die Nase angebrochen und einen Zahn locker geschlagen. Beltel spürte Wut in sich hoch steigen, weil er Klötschs Verharmlosung zuhören musste. Als kleine Abreibung bezeichnete der Mann vor ihm das, was den Jungs widerfahren war.
Beltel wollte nicht länger drumherum reden. »Wie groß sind Sie und wie viel wiegen Sie?«
Klötsch grinste unverschämt. »Wenn Sie mir erklären, was die Frage soll, werde ich sie gerne beantworten.«
»Nun, ich schätze Sie auf über eins neunzig und wahrscheinlich an die hundertzehn Kilo schwer?«
»Ja und?« Klötsch blieb weiter vollkommen gelassen.
»Ihr Chef war nicht viel kleiner und ein Leichtgewicht war er auch nicht gerade. So wie Sie hier erzählen, hört es sich an, als hätten die Jungs ein paar Ohrfeigen bekommen. Die Teenager haben mir etwas ganz anderes erzählt. Nirbach hat mit voller Wucht und mit der Faust zugeschlagen und Sie haben sich auch nicht zurück gehalten«, erwiderte der Hauptkommissar.
»Die Bürschchen sind frech geworden und wollten Streit. Sie haben Karl zuerst angegriffen. Da hat er sich einfach gewehrt und ich habe ihm beigestanden«, verteidigte sich Klötsch ohne einen Anflug von Schuldgefühl.
»Herr Klötsch, ich werde den Eltern raten, Anzeige zu erstatten. Da steht die Aussage der drei gegen Ihre und da ich die Burschen gesehen habe, glaube ich kaum, dass die es gewagt hätten, jemanden wie Herrn Nirbach oder Sie anzugreifen. Ein Richter wird da sicher ähnlich denken. Ganz klar war die Verwüstung der Hochstände eine Straftat, aber für so was sind wir zuständig und die Zeiten der Selbstjustiz sind zum Glück lange vorbei.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber es geht hier um einen Mord und nicht um ’ne kleine Abreibung. Eins von den kleinen Arschlöchern hat geschrien, er würde Nirbach umlegen. Ich dachte, deshalb soll ich meine Aussage machen? Ich bin sicher, diese Drecksäcke stecken hinter Nirbachs Tod. Das aufzuklären, sind Sie in der Tat zuständig.« Er stand auf. »Kann ich jetzt gehen, ich hab noch zu arbeiten?« Klötsch klang nun nicht mehr wie ein seriöser Geschäftsmann, sondern eher wie ein Zuhälter.
Beltel war von der arroganten, herablassenden Art des Mannes aufgewühlt. Aber er war Profi genug, ruhig zu bleiben. »Einen Moment noch bitte, Herr Klötsch. Ihr Boss ist mit einem Präzisionsgewehr erschossen worden. Das sieht mir nicht nach jugendlichen Tätern aus. Könnte es vielleicht sein, dass Sie uns absichtlich auf eine falsche Spur führen möchten? Gab es eventuell noch irgendwelche alte oder neue Konflikte im Rotlichtmilieu, die zum Tod Nirbachs geführt haben könnten?«
Klötsch lächelte ungerührt. »Rotlichtmilieu? Herr Nirbach war bis vor einiger Zeit im Baugeschäft tätig. Er hat für einflussreiche Leute gearbeitet. Zu irgendeinem Rotlichtmilieu hatte er garantiert keine Kontakte. Herr Kommissar, ich habe noch einen wichtigen Termin. Bitte tun Sie Ihre Arbeit und lassen Sie diese falschen Verdächtigungen.«
Ohne abzuwarten erhob sich der Hüne, nickte Beltel noch einmal arrogant lächelnd zu und verließ das Büro.
»Kotzbrocken«, dachte Beltel, dann begab er sich rüber zu Funks Büro.
Naturkindergarten
Hans Funk wartete mit einer Neuigkeit auf. Ralf Schmitter war von seiner Pflegemutter bei der Polizei als vermisst gemeldet. Er war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Die Kollegen aus Rheinbach und Euskirchen suchten bereits nach ihm.
Der Junge lebte seit einem Jahr bei dem Erzieherehepaar Gaby und Wolfgang Dederichs in Loch bei Rheinbach. Von seinem neunten bis zum vierzehnten Lebensjahr war er in einem Heim in Köln untergebracht gewesen. Wahrscheinlich hatten seine beiden Freunde ihm gestern Abend erzählt, dass die Polizei mit ihm sprechen wollte und nun war er untergetaucht. Aufgrund eines Motivs und der Vergangenheit des Jungen war es erforderlich, ihn unter die Lupe zu nehmen. Sein Verschwinden machte ihn nicht gerade unverdächtig.
Gaby Dederichs war halbtags im Naturkindergarten angestellt. Auf der Fahrt dorthin hatte Beltel mit einem Beamten aus Rheinbach telefoniert und erfahren, dass Ralf Schmitters Freundin Jessica Carlius ebenfalls von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden war. Das Mädchen wohnte in Merzbach, nur wenige Kilometer von Rheinbach entfernt.
Den Eltern war erst am Morgen aufgefallen, dass ihre Tochter in der Nacht nicht zuhause war. Offensichtlich waren die beiden Teenager zusammen ausgerissen.
Die Rheinbacher Kollegen erklärten, dass sie die Mitschüler von Ralf und Jessica in der Schule aufsuchen und befragen würden.
Funk parkte auf dem Weg, der zum Naturkindergarten führte. »Ich frage jetzt echt nur aus Neugier: Konntest du eine Lösung wegen der unfreiwilligen Hundepatenschaft finden?«, erkundigte sich Funk, während sie in Richtung Naturkindergarten schritten.
Beltel wollte eigentlich überhaupt nicht daran erinnert werden. »Der Nachbar meiner Haushälterin will sich nach einer geeigneten Hundepension erkundigen«, brummte er. »Aber aufgrund seiner Allergie kann er den Hund dort nicht hinbringen und seine Frau hat keinen Führerschein. Das muss ich dann nach Feierabend machen, und du weißt selbst, wie lange momentan unsere Arbeitstage sind. Na ja, vielleicht kann ich Butz heute Abend schon loswerden. Dann werde ich erst mal tief durchatmen. Zum Glück konnte ich der Nachbarin meinen Hausschlüssel dalassen, so dass sie den Hund ein paar Mal am Tag zum pinkeln nach draußen führt. Das Kerlchen würde mir sonst noch den Teppich einsauen.«
Funk legte eine Hand auf seinen Bauch. »Also, wenn es nach mir ginge, würde ich dir ja helfen. Ich würde mir am liebsten sowieso einen Hund anschaffen. Viel spazieren gehen wäre nicht schlecht. Allein schon wegen meinen Kilos. Aber Marga mag nur Katzen und da zieh ich den Kürzeren.«
Beltel nickte kurz, ohne auf Funks Bauch zu schauen. »Hast in der Tat letzte Zeit einiges zugelegt.«
»Meine Frau hat so eine Scherzkarte an den Kühlschrank gepinnt: ›Alles schläft, einer frisst‹. Das passt leider wirklich. Nachts überkommt mich furchtbarer Heißhunger. Da kann ich gar nicht anders. Meistens spachtele ich drei Joghurts nacheinander rein. Und was es da für Sorten gibt. Im Moment steh ich total auf weiße Schokolade.«
»Ja, dann mach mal weiter so«, sagte Beltel schadenfroh lächelnd.
»Dann hab ich nachts sogar Ideen für weitere exotische Joghurt-Geschmacksrichtungen. Die vergesse ich dann wieder, weil ich schnell wieder einschlafe.«
»Schreib sie mal auf und dann schickst du sie an einen Joghurthersteller. Vielleicht kriegst du sogar Geld für die Erfindung einer neuen Joghurtkreation«, schlug Beltel scherzhaft vor.
»Habe ich auch schon dran gedacht«, nickte Funk und merkte gar nicht, dass sein Kollege ihn auf die Schippe nahm.
Nach wenigen Schritten standen sie vor dem Grundstück, auf dem sich die herrlich ausgebauten Bauwagen befanden, die den Kindern bei Regenwetter, anstatt eines Steinhauses, zur Verfügung standen. Beltel war froh, dass die Joghurtschwärmerei ein Ende gefunden hatte.
Letzte Nacht hatte es geregnet, und die Wiese des abgezäunten Grundstücks war nass. Fast zehn Kinder liefen in Gummistiefeln herum. Einige hatten Matschflecken an den Knien der Jeans und auch die T-Shirts und Hemdchen strahlten nicht gerade vor Sauberkeit.
Zwei Kleine saßen in einem Holzanhänger und ein Junge, der sicher nicht älter als vier war, versuchte den Wagen zu ziehen. Verzweifelt rief er nach Verstärkung, aber die anderen waren so beschäftigt, dass sie seiner Bitte nicht nachkamen. Der Junge gab auf, versetzte dem Holzkarren einen Tritt und blieb mit verschränkten Armen und Schmollmund stehen.
Beltel fühlte sich an seine eigene Kindheit erinnert. Obwohl er nie einen Kindergarten kennengelernt hatte. Er hatte sich auf dem Bauernhof seiner Eltern ausgetobt und ständig so ausgesehen wie diese Kids. Scheinbar gab es kein Plastik- und Lego-Spielzeug. Hier galt es, Pflanzen und Tiere zu erkunden. Beltel sah den angelegten kleinen Teich und hörte das Quaken der Frösche.
Für ihn waren seine ersten naturverbundenen Jahre die glücklichsten seines Lebens gewesen. Es gefiel ihm, dass es Kindergärten gab, die das »Zurück zur Natur« mit den Kleinen praktizierten.
Zwei Erwachsene standen vor einem großen braunen Bauwagen, der eher einem wunderschönen Zirkuswagen glich, und unterhielten sich. Nicht nur von außen war der Wagen mit dichten Pflanzen bewachsen. Durch die Fenster konnte man auch im Inneren Grünzeug erkennen, das die Funktion von Gardinen eingenommen hatte.
Die Frau sah Beltel und Funk kommen und ging ihnen entgegen.
»Sind Sie von der Polizei? Gaby Dederichs.« Sie reichte den Polizisten die Hand. Beltel und Funk stellten sich ebenfalls vor.
»Mordkommission?«, fragte sie ungläubig, ihr war die Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Ralf ist doch nichts …?«
Beltel unterbrach sie. »Nein, Ihrem Pflegesohn ist nichts passiert. Aber vorletzte Nacht ist ein Mann namens Nirbach in einem Waldgebiet ganz in der Nähe von Ihrem Wohnort erschossen worden, und in dieser Angelegenheit würden wir gerne mit Ralf sprechen.«
»Aber Sie wissen sicher, dass Ralf letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist?« Gaby Dederichs konnte den sorgenvollen Ton in ihrer Stimme nicht verbergen.
»Das wissen wir. Seine Freundin Jessica Carlius ist letzte Nacht auch nicht zu Hause gewesen. Es sieht so aus, dass die beiden zusammen abgehauen sind. Haben Sie eine Ahnung, wo sie stecken könnten?«, fragte Funk.
»Eigentlich wollte ich mir heute hier frei nehmen. Leider sind aber zwei Kolleginnen krank und es ging nicht. Na ja, ich hätte sowieso nicht gewusst, wo ich nach Ralf suchen sollte.«
Eines der Kinder fiel hin und Gaby Dederichs musste die Unterredung kurz unterbrechen. Ihr Kollege eilte herbei und nahm ihr die Aufgabe ab, sich um den kleinen Jungen zu kümmern. Das Kind hatte zu weinen begonnen, weil es nass geworden war. Der Erzieherkollege verschwand mit dem Jungen im Bauwagen und Gaby Dederichs wandte sich wieder an die Polizisten. »Wissen Sie, Ralf war sehr schwierig. Die ersten Monate mit ihm beanspruchten die Kräfte meines Mannes und mir dermaßen, dass wir schon aufgeben wollten. Aber nach und nach ging es besser. Teilweise hat er etwas Vertrauen zu uns aufbauen können. Nur was er mit seinen Freunden so treibe, ginge uns nichts an und erst recht nichts, was seine Freundin betraf. Darüber wollte er nicht mit uns reden. Wahrscheinlich haben die meisten Teenies in der Pubertät keine Lust, mit den Eltern über ihre Privatsphäre zu sprechen. Wo die beiden sich getroffen haben, was sie zusammen unternommen haben, weiß ich leider nicht.«
»Frau Dederichs, Ralf hat keine einfache Geschichte. Einiges ist uns bekannt. Auch, dass er bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, unter anderem wegen Gewaltdelikten. War Ihr Pflegesohn immer noch bereit, Gewalt anzuwenden?«, wollte Beltel wissen.
Gaby Dederichs seufzte. »Die Erzieher im Heim sind überhaupt nicht mehr mit ihm klargekommen. Dort hätte wahrscheinlich bald wieder die Jugendstrafanstalt angestanden und wie gesagt, waren auch mein Mann und ich anfangs total überfordert. In den ersten Monaten wollte ich so wenig wie möglich mit dem Jungen alleine bleiben. Von mir hat er sich überhaupt nichts sagen lassen. Das war schon frustrierend. Wenn Sie definitiv nach Gewalt fragen, dann muss ich sagen, dass ich anfangs auch Angst vor ihm hatte. Ralf war sicher ein ganz schwieriges Kind, aber es hat eine – für seine Maßstäbe – enorme Entwicklung stattgefunden. Mein Mann und ich haben da echt was hingekriegt. Aber sicherlich lag es auch an diesem Medikament. Ich war eigentlich dagegen, dass Kinder so ein Zeug nehmen. Dennoch gab ich nach, denn die Ärzte hatten bei Ralf dieses so genannte ADHS diagnostiziert und ihm Ritalin verschrieben. Wie gesagt, hat mir das anfangs gar nicht gefallen, dann aber sah ich ein, dass etwas geschehen musste. Und ja, dieses Medikament hat wirklich eine extreme Änderung herbeigeführt.«
Funks Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »ADHS?«, hakte er nach.
»Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. So genannte Hyperaktivität. Kinder, die extrem den Unterricht stören und durch Ritalin dann viel ruhiger werden«, erklärte Beltel.
»Stimmt«, fuhr Gaby Dederichs fort. »Aber die Ursachen für diese Diagnose sind seelischer Art. Das Medikament hilft den Kindern, besser in ihrer Umwelt zu funktionieren. In ihrer Seele sind sie aber trotzdem weiter leidende Wesen. Sie müssen wissen, dass Ralf von seinem leiblichen alkoholkranken Vater sehr viel Prügel einstecken musste. Im Heim hat er im Prinzip auch einiges über Faustrecht kennengelernt. Sich nichts gefallen lassen und zuschlagen, bevor der andere zuschlägt, das war lange sein Motto. Aber nach einiger Zeit bei uns ist er wieder in die Schule gegangen, und die Lehrer haben uns nicht einmal wegen einer Prügelei oder Ähnlichem kontaktiert.«
»Wussten Sie, dass Ralf von dem Ermordeten dabei erwischt worden ist, dass er Jäger-Hochstände verwüstet hat und deshalb von ihm zusammengeschlagen wurde?«, erkundigte sich Funk.
Die Erzieherin war betroffen. »Ich habe seine Nase und die geschwollene Lippe gesehen und sein blutiges Sweatshirt in der Wäsche gefunden. Er hat mir gesagt, er sei hingefallen. Ich habe nicht weiter nachgehakt. Sicher war ich besorgt und hatte die Befürchtung, dass da was anderes vorgefallen ist. Aber ich wusste, dass Ralf nichts weiter dazu sagen würde.«
Der Erzieher kam mit dem kleinen Jungen wieder aus dem Bauwagen. Das Kerlchen hatte frische Sachen an und rannte sofort wieder freudestrahlend zu seinen Spielkameraden. Beltel ahnte, dass auch die frische Kleidung nicht lange trocken bleiben würde und lächelte in sich hinein. Dann kam er zu der Frage, die ihm am Herzen lag: »Frau Dederichs, könnten Sie sich vorstellen, dass Ralf für die Prügel, die er bezogen hat, Rache genommen haben könnte?«
Die Frau zögerte kurz. Dann klang ihre Antwort umso entschlossener. »Herr Beltel, Ralf ließ sich nichts gefallen, und er reagierte auf Gewalt mit Gegengewalt. Aber kaltblütig jemanden ermorden? Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er konnte in enorme Wut geraten. Insofern wäre es möglich, dass er im Affekt reagiert hätte. Dennoch traue ich es ihm nicht zu, einen Racheakt über Tage zu planen und dann mit einem Mord in die Tat umzusetzen.«
»Aber was glauben Sie, weshalb Ralf nun abgehauen ist?«
»Wie Sie wissen, hat Ralf in der Vergangenheit schon Be-kanntschaft mit der Polizei gemacht, und er hatte noch dieses Misstrauen, dass man ihm immer nur was anhaben wollte. Wahrscheinlich hat er erfahren, dass Sie nach ihm gefragt haben. Ich kann mir denken, dass er Panik bekommen hat, weil Sie ihm sowieso nicht glauben würden und dann seine Bewährung futsch wäre.«
»Hat Ihr Mann Waffen im Haus? Oder wissen Sie von Nachbarn, bei denen Ralf ein Gewehr geklaut haben könnte? Hatte Ralf sonst irgendwie Kontakt zu Waffen, war er vielleicht in einem Schützenverein?«
Die Erzieherin schüttelte vehement den Kopf. »Mein Mann hasste Waffen und in unserer Nachbarschaft ist mir niemand bekannt, der ein Gewehr besitzt. Und zu Ihrer dritten Frage: Ralf war nicht in einem Schützenverein, und ich kann mir nicht denken, dass er jemals mit einem Gewehr geschossen hat.«
Beltel nickte und lächelte freundlich. »Wir danken Ihnen für Ihre ehrliche Auskunft, Frau Dederichs. Sie wissen sicher, dass Sie einen weiteren Mann namens Klötsch, der Nirbach geholfen hat, Ralf zusammenzuschlagen, anzeigen können? Ich an Ihrer Stelle würde dies tun.«
»Eine Anzeige ist erst mal nicht das Wichtigste. Die können wir in die Wege leiten, sobald Ralf wieder da ist. Ich hoffe nur, dass ihm nichts passiert ist.« Die Erzieherin begleitete die beiden Polizisten zum Ausgang des Kindergartengeländes. Beltel und Funk verabschiedeten sich und begaben sich in die Richtung ihres Wagens.
Der Poet
Er war schon lange nicht mehr in so einem Waldgebiet gelaufen. Er hatte nicht vor, sich noch einmal richtig in Form zu bringen. Diese Art von Ehrgeiz wäre sinnlos. Es ging nur um dieses herrliche Gefühl der Freiheit beim Laufen, das er lange vermisst hatte. Die frische Luft, fernab von Verkehrsstraßen. Die Ruhe des Waldes und die Erinnerung an den militärischen Drill, der ihm vor langer Zeit so viel gegeben hatte. Außerdem hatte er vor diesem kleinen Lauf die Aufgabe eines Boten erfüllt. Eine Nachricht hinterlassen. Verschlüsselt, aber klar genug, um ein wenig Licht in eine Angelegenheit zu bringen, die ihm seit Langem am Herzen lag. Er grüßte die beiden Männer, von denen er wusste, dass sie Polizisten waren und er war sicher, dass sie seine verschlüsselte Nachricht als richtige Spur deuten würden. Etwas schneller trabte er in die Frische des Waldes.
Außerhalb einer größeren Stadt wie Bonn sind die Menschen in der Regel freundlicher, dachte Beltel mit einem Blick auf den Sportler. Deshalb lebte er auch in Altenahr. Dort waren sogar die großstädtischen Kegelclubtouristen freundlich, besonders, wenn sie besoffen und ausgelassen waren.
Noch wenige Meter vom Auto entfernt, glaubte Beltel an ein Knöllchen. Aber beim Näherkommen sah der Zettel unter der Windschutzscheibe nicht nach etwas Amtlichem aus. Funk hatte ihn zuerst in der Hand. Er entfaltete das Blatt vor den Augen seines Vorgesetzten und las laut:
Der Jäger jagte nicht nur das Tier
Auch Frauen gehörten in sein Revier
Da war ein schönes Mädchen aus Polen
Dem hat er die Unschuld gestohlen
Das arme Mädchen wurde schwanger
Der Jäger wollte nicht an den Pranger
Ivonna Martiniak pflückte Erdbeeren in Loch
Wahrscheinlich tut sie das immer noch
Funk sah Beltel fragend an. »Was für ein Poet hat uns denn dieses Gedicht untergejubelt?«
Beltel war überfragt. Reimen konnte die Person, aber als Poet wollte der Kriminalhauptkommissar sie nicht unbedingt betiteln.
»Da will uns offensichtlich jemand etwas über Nirbach mitteilen.«
»Meinst du wirklich?«
»Es scheint mir, dass wir die Zeilen ernst nehmen sollten.«
Funk nahm ein Tütchen aus dem Handschuhfach und steckte den Zettel dort hinein. »Ja und, was nun?«, wollte er wissen.
»Fahren wir nach Loch. Dort arbeiten polnische, rumänische und Menschen anderer osteuropäischer Nationalitäten als Saisonarbeiter. Fragen wir mal nach einer Ivonna Martiniak. Lassen wir die Kollegen weiter nach Ralf Schmitter suchen. Heute Nachmittag können wir noch mal mit seinen beiden Kumpeln reden, aber du glaubst doch auch nicht, dass der Junge dahintersteckt?« Beltel hatte schon die Wagentür geöffnet und stieg ein.
»Warum ist er dann abgehauen? Das sieht doch sehr nach einem schlechten Gewissen aus. Außerdem war er kein pubertierendes Bürschchen mehr, Manfred. Bei so einer Vergangenheit hat eine ganz andere Entwicklung stattgefunden als bei einem Kind aus normalen Verhältnissen. Wie oft ist es in der letzten Zeit vorgekommen, dass Jungen in seinem Alter dutzendweise Mitschüler und Lehrer abgeballert haben?« Funk war ebenfalls eingestiegen. Vor ihnen ging eine Frau mit einem Dackel an der Leine in Richtung Wald.
Beltel musste wegsehen. »Die Kollegen von der Spurensicherung gehen trotz weniger Anhaltspunkte davon aus, dass der Schuss aus etwa zweihundert Metern abgegeben wurde. Das heißt, der Täter muss mindestens hundert Meter von der Lichtung entfernt und dicht von Bäumen umgeben gewesen sein. Nirbach befand sich zwar auf der Lichtung, aber dennoch, da muss man erst mal einen Standpunkt finden, der einigermaßen freie Sicht und Flugbahn erlaubt. Hat man den, muss man die Konzentration eines Schachweltmeisters beibehalten. Ich habe beim Bund nicht viele Scharfschützen kennengelernt, die so etwas hingekriegt haben. Wir kennen zwar den Gewehrtyp noch nicht, aber es handelt sich in jedem Fall um eine Präzisionswaffe. Da kommt man nicht leicht ran. Also erstens traue ich einem fünfzehnjährigen, an der Waffe unausgebildeten Jungen so einen Schuss nicht zu und zweitens glaube ich auch nicht, dass er sich so ein Gewehr besorgt haben könnte.«
»Okay, Manfred, gehen wir diesem mysteriösen Gedicht nach und fahren nach Loch. Dennoch sollten wir keine Scheuklappen anziehen. Auch wenn ich deine Überlegung nachvollziehen kann, unser Hauptaugenmerk sollte trotzdem auf Ralf Schmitter liegen.«