Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 11

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Nan Gudger war schlank, munter, äußerst lebhaft. Ihre Taille war so eng, daß ein Mann sie mit beiden Händen umspannen konnte. In der Vertrauensstellung der Buchhalterin einer großen Handelsfirma war sie unfehlbar genau. Von ihrem Gehalt unterstützte sie großzügig ihre Familie. Ihre Mutter hatte einen großen Kropf; Eugen konnte die Alte nicht ansehen, ohne daß er eine Gänsehaut bekam. Ihre Schwester Carry war auf beiden Beinen gelähmt; spindeldürr, mit übertrieben breiten Schultern, humpelte sie auf Krücken im Hause herum. Die beiden Brüder, kräftige Lümmel, 18 und 20 Jahre alt, Nichtstuer von Ruf, hatten immer Messerwunden oder blaue Beulen im Gesicht, Merkzeichen jener männlichen Kämpfe, die in Kneipen und Hurenhäusern ausgefochten werden.

Die Familie bewohnte ein zweistöckiges baufälliges Holzhaus an der Clingman Street. Die Frauen arbeiteten fleißig, um die jungen Männer zu ernähren. Eugen kam oft mit Helene ins Haus. Helene fand das vulgäre, humorvolle, aufgeregte Leben der Gudgers anziehend. Die unverblümten, saftigen Redensarten Carrys machten ihr besonders Spaß.

Am Ersten jedes Monats gaben Nan und Carry ihren Brüdern Taschengeld und dazu eine besondere Summe für einen Besuch im Bordell.

»Oh, das ist doch nicht möglich, Carry, tut Ihr das wirklich?« fragte eifrig-ungläubig Helene.

»Aber sicher, mein Honig!« bestätigte Carry. »Sie brauchen das für die Gesundheit.«

»Nein, wirklich nicht! Es ist Spaß«, lachte Helene.

»Ach du lieber Gott, weißt Du Kindskopf denn das nicht einmal?« Carry spuckte ins Feuer. »Das tut den Bengeln gut. Sonst werden sie krank.«

Eugen war im Bilde. Er rutschte auf dem Boden vor Lachen. Er verstand den Humor der Lage. Zwei Frauen gaben im abergläubischen Interesse der Wohlfahrt und der Gesundheit Geld her … zwei junge nikotinstinkende haarige Lauserte gingen dafür huren.

»Was gibt's denn da zu lachen, Du Gelbschnabel!« sagte Carry und stach ihn mit der Krücke in die Rippen. »Du bist ja noch nicht trocken hinter den Ohren.«

Carry hatte die leidenschaftliche Wildheit der Leute aus dem Gebirg. Verkrüppelt wie sie war, atmete sie die hitzige Lust ihrer Brüder ein. Stumpfe, rohe, unwissende, gutmütige, mörderische Menschen. Nan aber war untadlig, hatte feine Manieren, trat anständig auf. Sie hatte dicke, schwulstige Lippen wie ein Neger, ein herzhaftes tropisches Lachen. Sie ersetzte die hinfälligen Möbel des Hauses mit neuer standardisierter Ware; hochpolierten Tischen und Stühlen, die aus den Fabriken in Grand Rapids in Michigan kamen. Im Wohnzimmer stand ein neues Büchergestell; es war immer abgeschlossen; hinter den Glasscheiben träumten ungelesen die Klassiker in der Harvardausgabe und ein billiges Konversationslexikon.

Als Mistress Selborne zum erstenmal aus dem heißen Süden nach Dixieland kam, war sie erst dreiundzwanzig, sah aber älter aus. Alles an ihr war Reife. Sie war eine hochgewachsene üppige Blondine, wohlgepflegt und elegant. Sie hatte müßig-träge Bewegungen und einen sinnlich-wogenden Gang. Ihr Lachen war zärtlich und voll Verführung. Ihre Stimme klang sinnlich beschwingend, voll, weich, verlockend, angenehm. Ihr dunkles, reiches, melodisches Lachen sprudelte von mitternächtlicher Heimlichkeit. Sie stammte aus einer altvornehmen, aber verarmten Familie aus Süd-Carolina. Mit sechzehn Jahren hatte sie geheiratet. Ihr schwerfälliger Gatte saß stillschweigend an ihrer unvergleichlichen Tafel, aß schnell, murmelte bestenfalls ein paar Worte, wenn es nicht anders ging, und verzog sich dann wieder ins Büro, wo es nach Pferden und Sattelleder roch. Er war Besitzer eines Mietstalls. Sie hatte zwei Kinder von ihm, beides Mädchen. Verstohlen – unnötigerweise verstohlen – bewegte sie sich in der leisen verleumderischen Luft des Industrienests, beging vorsichtig Ehebruch mit dem Besitzer einer Baumwollspinnerei, einem Bankier, einem Holzgroßhändler. Mit ihrem zärtlichen, blonden Lächeln schritt sie behutsam an dem schlauen Lächeln der Bürger vorbei, wohl wissend, daß ihr Ruf ihr längst den Boden unter den Füßen entzogen hatte, daß ihr Name bei Kaufleuten und Angestellten mit einem eindeutigen Grinsen und Zwinkern genannt wurde. In Gesellschaft bezeigten ihr die Herren eine noch ausgesuchtere Höflichkeit, als sie sonst in den Südstaaten Damen gegenüber üblich ist, aber hinter der öligen Verbindlichkeit der Masken glänzten die Augen ihr Einladungen zu.

Als Eugen sie zum erstenmal sah und sich ihrer bewußt wurde, spürte er sofort, daß diese Frau nie mit Männern erwischt, immer aber von Männern erkannt werden würde. Er liebte sie verzweifelt. Sie war das lebende Symbol seiner Sehnsucht: die riesenhafte, mythische Gestalt der Liebenden und Mutter, alterslos und ewig herbstlich, die Immer-Wartende, die Weizenhaarige, die Großbrüstige, die Blondgliedrige, die in den Feldern der Ernte geht … Ceres und Helena war sie, reife, unerschöpfliche, verjüngende Kraft, die dunkle Amme, die allen Trübsinn, alle Entzauberung einlullt … Der Frühling, das scharfe Messer, hatte Eugen durchbohrt. Mädchen lachten im Dunkel. Die heftigen Erwartungen der Jugend drängten. Unlöschbar brannte das Verlangen in ihm. Etwas entschied ihn stets für ältere Frauen.

Als Mistress Selborne zum erstenmal nach Dixieland kam, zählte ihre älteste Tochter sieben Jahre; die jüngste war fünf. Jede Woche empfing sie einen kleinen Scheck von ihrem Gatten und einen ansehnlichen von dem Holzgroßhändler. Sie hatte eine schwarze Dienerin mitgebracht. Sie war großzügig und offenhändig zu der Negerin und zu den Töchtern. Dieses Verschwenden aus selbstverständlicher Fülle faszinierte Helene, zog sie zu der älteren Frau.

Und nachts horchte Eugen auf die süße leise Stimme dieser Frau. Er vernahm die Sinneslockung ihres sprudelnden Lachens, wenn sie auf der dunklen Veranda mit irgendeinem Handlungsreisenden oder einem Kaufmann aus der Stadt saß. Das Blut gerann ihm vor eifersüchtiger Sittlichkeit; er war bitter gekränkt, dachte an ihre kleinen schlafenden Töchter; eine leidenschaftliche Brüderlichkeit für den betrognen Gatten wallte in ihm auf. Er träumte sich in die Rolle des sühnenden Helden, rettete sie in einer Stunde großer Gefahr, machte sie reumütig mit ernsten Vorwürfen, nahm als ein Reiner die Liebe an, die sie ihm bot.

Morgens dann, wenn sie vorüberging, sog er den Saatduft ihres frischgebadeten Leibes ein, spähte verzweifelt in das zärtlich-sinnliche Gesicht; versuchte sich vorzustellen, wie dieses Gesicht, das alles sagte und nichts verriet, im Dunkeln aussehe.

Steve kehrte nach einjähriger Wanderschaft aus New Orleans zurück. Der alte Aufschneider. Dieselbe Weinerlichkeit.

»Ha, ich hab's nicht nötig zu arbeiten«, prahlte er. »Ich bin gescheit und laß andere für mich schuften.« Diese trotzige Bemerkung bezog sich auf seinen Ruf als »Wechselfälscher«. Obschon er nie die Courage gehabt hatte, jemand andern als seinen Vater – und auch diesen nur um den Betrag kleiner Schecks – zu schädigen, hielt er sich für einen großen Schwindler.

Er war jetzt Anfang der Zwanzig, mittelgroß, mit knolligem Gesicht und grauer Haut; er hatte eine angenehme leichte Tenorstimme. Eugen war entsetzt, sooft sein ältester Bruder heimkehrte. Er ekelte sich vor ihm. Die Schwachen und Wehrlosen, also vor allem Eugen und Eliza, hatten am meisten unter Steve zu leiden. Mehr als die Roheit, die Versoffenheit, haßte Eugen das Feige und Verstohlne an ihm, mehr als die Gewalttätigkeit die schlabberigen Versöhnungsszenen.

Immer wieder versuchte Gant, seinen Ältesten ins Brot zu stellen. So schickte er ihn eines Tags auf einen ländlichen Friedhof, um dort ein kleines Grabmonument aufzubauen. Eugen mußte als Handlanger mit. Steve schaffte eine Stunde lang in der brennenden Sonne. Er wurde zusehends mißmutiger. Die Hitze war drückend, das geile Unkraut roch scharf, Steve hatte überhaupt eine unüberwindliche Abneigung gegen Arbeit. Eugen wartete gespannt auf den Ausbruch, der kommen mußte.

»Was stehst Du da rum«, heulte der große Bruder auf und schlug den Kleinen mit einem schweren Schraubenschlüssel aufs Schienbein. Eugen taumelte vor Schmerz zu Boden. Augenblicklich war Steve wie verwandelt, nicht aus Reue, sondern aus Angst, er könne den Kleinen so schwer verletzt haben, daß die Mißhandlung aufkäme.

»Du hast Dir doch nicht wehgetan, Brüderchen, sag schnell, daß Du Dir nicht wehgetan hast«, fing er mit zitternder Stimme an und tätschelte Eugen mit seinen unreinen gelben Händen. Und dann folgte eine der weinerlichen Versöhnungsszenen, die Eugen so entsetzlich waren. Steve flennte, blies Eugen seinen faulen Atem ins Gesicht, bettelte, flehte ihn an, zu Hause nichts von der Roheit zu sagen. Eugen erbrach sich heftig, der ranzige Körpergeruch Steves, sein klebriger, ungesunder Schweiß, der Nikotingestank der braungefleckten Hände machten ihm übel.

Aber die Art, wie Steve den Kopf trug, etwas in seinem herausfordernden Schlenkergang beschworen das Gespenst seiner zerstörten Jungenhaftigkeit. Manchen Frauen gefiel er. Er hatte Glück, insofern er es fertigbrachte, daß Mistress Selborne während ihres ersten Sommers in Dixieland seine Geliebte wurde. Nachts flatterte ihr volles beschwingtes Lachen von der Veranda ins Dunkel, sie streifte mit Steve durch die Straßen, sie gingen zum Vergnügungspark in Riverside und über die grellen Lichter des Rummelplatzes hinaus auf den dunkeln, sandigen Pfaden am Fluß.

Als sie sich dann mehr und mehr mit Helene befreundete und den Abscheu der Familie vor Steve gewahr wurde, als sie einzusehen begann, wie sehr sie ihrem Ruf geschadet hatte durch die Beziehung mit diesem Prahlhans, der ihren Namen in allen Kneipen ausquatschte, um sich seiner Eroberung zu rühmen, ließ sie ihn mit stillschweigender, zärtlicher Unabänderlichkeit fallen. Wenn sie nun, Sommer um Sommer, wiederkam, begegnete sie ihm kühl mit einem unschuldigen, unwissenden Lächeln, überhörte seine unzüchtigen Anspielungen und seine plumpen Drohungen, die bittern Offenbarungen, die er hinter ihrem Rücken machte. Ihre Zuneigung zu Helene war echt; sie wußte jedoch gut, daß sie strategischen Nutzen aus der Freundschaft zog. Helene machte sie mit gutaussehenden jungen Männern bekannt, gab ihr zu Ehren in Gants Haus oder in Dixieland Einladungen und Tanzpartien, half ihr in allen Intrigen, sorgte dafür, daß sich die Dinge im Privaten, in der Stille, im Dunkel abspielen konnten. Gereizt verteidigte sie die Freundin, als die üble Nachrede begann.

»Was wissen Sie über ihr Tun und Lassen? Überhaupt nichts. Ich rate Ihnen, nehmen Sie sich mit diesem Gerede in acht. Alles mißgünstiger Klatsch. Außerdem hat sie einen Gatten, der sie in Schutz nehmen wird. Eines Tags jagt der Ihnen 'ne Kugel durch den Kopf und dann …«

Oder etwas vorsichtiger: »Na also, ich schere mich nicht um das Geschwätz. Mir gefällt sie sehr, ich mag sie. Sie ist eine süße Person. Und letzten Endes, was weiß man denn für sicher? Nichts. Was kann man ihr nachweisen? Nicht das geringste!«

Im Winter machte Helene nur kurze Besuche bei Mistress Selborne. Begeistert kam sie aus Süd-Carolina zurück, schwärmte von ihrem Empfang, den Partien, die die Freundin ihr zu Ehren gegeben hatte, dem Essen, der großartigen Gastfreundschaft. Mistress Selborne lebte in derselben Stadt wie Joe Gambell, Daisys Verlobter. Der kleine Angestellte erging sich in vielsagenden Anspielungen über die Dame, ihr gegenüber aber benahm er sich höchst unterwürfig, verwirrt und sehr ergeben. Nach seiner Verheiratung nahm er ohne Einwand die Geschenke, Kleider und Lebensmittel an, die sie ihm ins Haus schickte.

Daisy heiratete im Sommer, nachdem Eliza Dixieland erworben hatte. Die Hochzeit war im Juni. Sie fand im großen Speisesaal der Pension in großem Stile statt. Gant und seine zwei Ältesten standen belämmert und grinsend in ihren ungewohnten Smokinganzügen herum. Die Pentlands, eine Sippe, die stets an Hochzeiten und Begräbnissen teilnimmt, schickten Geschenke und kamen. Will und Pett schenkten ein schweres Tranchierbesteck.

»Ich hoffe doch, daß Ihr immer was zum Zerlegen auf dem Tisch haben werdet«, sagte Will, tranchierte einen Braten in der Luft und zwinkerte Joe Gambell zu.

Eugen erinnerte sich an Wochen irrsinniger Vorbereitungen; unendliche Kleideranproben, an Daisy, die vor Hysterie ihre Fingernägel anstarrte, bis sie blau wurden. Schließlich kam der Glanz der letzten beiden Tage. Die Geschenke liefen ein, das Haus war ungemein festlich mit Teppichen und Blumen. Der Speisesaal war voll von Menschen, der presbyterianische Geistliche predigte eine geraume Weile, der große Moment war da: die Musik blies einen Tusch und der kleine Angestellte im Kramwarenvertrieb bekam die Braut. Dann wieder Verwirrung, Glückwünsche, Hysterie. Daisy lag schluchzend in den Armen einer entfernten Kusine, Berti Pentland, die mit ihrem Gatten, dem Inhaber einer Lebensmittelfirma mit vielen Filialen, aus einer Stadt in Süd-Carolina zur Feier gekommen war. Diese beiden hatten viele Geschenke gebracht und als etwas Besondres eine Riesenwassermelone. Beths Freude wurde nachträglich verdorben; sie fand heraus, daß sie das Kleid, an dem sie Wochen im voraus gearbeitet hatte, in der Aufregung verkehrt herum angezogen hatte.

Daisy verschwand nun fast ganz aus Eugens Leben. Er sah sie in den folgenden Jahren auf kurzen, immer seltner werdenden Besuchen. Der kleine Angestellte im Kramwarenvertrieb hatte sich zu der einzigen gewagten Gebärde seines ganzen Lebens aufgerafft. Er verließ seine baumwollstaubige Vaterstadt, verzichtete auf die langen trägen Geschäftsstunden im Krämereivertrieb, auf den gemütlichen Tratsch mit Baumwollfarmern und Stadtleuten, den er von Kind auf so gern hatte. Er nahm eine Anstellung als Handlungsreisender in der Lebensmittelproduktenbranche an. Sein Standort war die Stadt Augusta im Staate Georgia. Sein Arbeitsgebiet erstreckte sich weit in den Süden bis an die mexikanische Grenze. Diese Entwurzelung aus angestammtem Nährboden, dies Abenteuer in Neuland, diese Bereitschaft, es wirtschaftlich und gesellschaftlich vorwärts zu bringen, war Joe Gambells Hochzeitsgeschenk für Daisy … ein sehr kühnes Unterfangen, das allerdings schon von Anfang an gefährdet war durch Selbstmißtrauen und abergläubische Angst vor neuer Umgebung.

»Eine Stadt wie Henderson gibt es auf der Welt nicht noch mal«, behauptete er stumpf von jener aus rotem Backstein, Unwissenheit, Verleumdungssucht und Staub bestehenden Zuflucht, in deren Strahlungskreis er herangewachsen war.

Trotzdem verließ er Henderson und ging nach Augusta, wo er mit Daisy sein neues Leben in einem Lodging House begann. Sie war ein schlankes, leicht errötendes Mädchen, das gewissenhaft und akademisch schön, mit einem reißerischen Anschlag, aber völlig phantasielos Klavier spielte. Eugen konnte sich nie gut an sie entsinnen.

Im Frühherbst des Hochzeitsjahres unternahm Gant eine Reise nach Augusta und nahm Eugen mit. Die beiden waren höchst aufgeregt und gespannt. Auf dem verschlafnen Umsteigebahnhof Spartanburg mußten sie lange warten; dann rollten sie in den abgenutzten Wagen der Nebenlinie, die nach Augusta führt, durch die ausgetrocknete Gegend. Pinienwälder lagen am Fuß der Berge. Alles und jedes in der Landschaft tranken sie mit durstigen Augen ein. Gants Wanderseligkeit war mächtig erwacht. Für Eugen war das Reisen etwas Neues; die Fahrt nach St. Louis war ihm längst zur blassen Unwirklichkeit geworden. Eine Vision, ein herrliches vorgefaßtes Bild des üppigen Südens, brannte in ihm seltsamer noch als das Phantasieheimweh nach dem unbekannten hohen Norden, nach dessen strengen Wintern, Stürmen und Dunkelheiten er sich oft mit jener Leidenschaft sehnte, die vielleicht nur der Südländer kennt. Echten Winter gab es in Altamont nicht; der Schnee trieb ins Gebirg, blieb ein paar Tage liegen, und man mußte die Gelegenheit zum Eislaufen und Schlittenfahren beim Schopf packen, ehe es dazu zu spät war.

So kam es denn, daß Eugen die Stadt Augusta nicht in den Farbtönen der schnöden Wirklichkeit sah, sondern wie einer, dem sich ein Fenster ins Feenland auftut, wie einer, der ein Leben im Gefängnis gelebt hat und freigelassen die Erde und das Leben im rosenen Sonnenaufgangslicht erblickt, wie einer, der im fabulösen Bilderreich von Büchern gelebt hat, eine Reise tut und die Fortsetzung und Wahrwerdung dieser Fabelwelt erlebt. Mit frischen, klaren Kinderaugen sah er eine traumhafte Verzauberung.

Sie blieben zwei Wochen. Im Gedächtnis bewahrte er vor allem die braunen Hochwasserspuren an den Häusern, denn die Stadt hatte kürzlich eine Überschwemmung überstanden, und die Flut war bis über die Erdgeschosse gestiegen. Dann: die breite Hauptstraße; eine würzig duftende Drogerie mit einer leuchtenden Sodafontäne war dort. Dann: die Hügel und Felder um Aiken in Süd-Carolina, wo er umsonst nach John D. Rockefeller suchte, einem legendären Prinzen, der dem Hörensagen nach dort Sport trieb, und wo er sich wunderte, daß zwei Staaten ohne sichtbare Zeichen oder natürliche Trennungslinien aneinandergrenzen können. Schließlich die Engreniermaschine, wo er zusah, wie riesenhafte, unförmige Baumwollballen säuberlich in halb so große Würfel zusammengepreßt wurden.

Einmal hatten ihn ein paar Kinder auf der Straße wegen seiner langen Locken verhöhnt; in einem Wutausbruch hatte er sie maßlos und glorreich beschimpft. Einmal hatte er sich über seine Schwester geärgert Und war in seinem Jähzorn kurzerhand davongerannt. Er lief stundenlang einer Landstraße am Flußufer und durch Baumwollfelder nach, ins Abenteuer hinein. Gant holte ihn auf einem geliehenen Wagen ein.

Sie gingen ins Theater; es war eines der ersten Stücke, die er sah, ein biblischer Stoff: die Geschichte von Saul und Jonathan. Von Szene zu Szene flüsterte er Gant die Ereignisse, die da eintreten würden, ins Ohr, eine Vorsichtsmaßnahme, die den Alten höchlich belustigte, denn er erzählte monatelang davon.

Kurz ehe sie nach Hause abreisten, gab Joe Gambell in einem Anfall von Mißlaune seine Stellung auf und kündigte seine bevorstehende Rückkehr nach Henderson an. Sein Abenteuer hatte genau drei Monate gedauert.

XIII

In den folgenden Jahren, bis er elf oder zwölf Jahre alt war und nicht mehr auf eine Kinderfahrkarte mitgenommen werden konnte, reiste Eugen mit Eliza in den reichen, geheimnisvollen Süden. Eliza wurde während ihres ersten Winters in Dixieland von schwerem Rheumatismus befallen; ihr Körper war aufgedunsen, der Doktor diagnostizierte ein Nierenleiden. So begann sie – auf der Suche nach Gesundheit und unklar auch auf der Suche nach Reichtum – ausgedehnte, wenn auch keineswegs großzügige Reisen nach Florida und Arkansas zu machen.

Sie äußerte sich stets sehr hoffnungsvoll über die Möglichkeit, in einem tropischen Winterkurort ein zweites Boardinghouse aufzumachen und so im Sommer ihr Haus in Altamont, im Winter das im warmen Süden zu führen. Im Winter vermietete sie nun Dixieland auf ein paar Monate, manchmal auch auf ein Jahr, obschon sie alsdann keineswegs daran dachte, sich die einträgliche Kursaison im Sommer entgehen zu lassen. Sie vermietete, mehr oder weniger absichtlich, an unerfahrene Frauen, die sich abenteuernd im Geschäft der Pensionsinhaberin versuchten, für ein oder zwei Monate im voraus bezahlten, aber weder Mittel noch Ausdauer hatten, ein Unternehmen wie Dixieland außerhalb der Kurzeit länger zu halten. Wenn Eliza dann von ihrer Reise zurückkehrte, war entweder ein fälliger Termin nicht erledigt oder irgendein andrer Punkt im Kontrakt nicht eingehalten worden. Sie rückte triumphierend in die Schlacht, erzwang den Eintritt in die Burg mit Hilfe von Polizisten, Detektiven, mit Befugnissen, Vollmachten, Vorladungen und all der anderen schweren Artillerie juristischer Kriegführung und riß rachsüchtig ihr Vermögen wieder an sich.

Ihre Reiseziele lagen stets im Süden. Den Norden hielt sie, obschon sie ihn öfters zu erkunden drohte, für verdächtig. Nicht etwa, daß sie wegen des verjährten Bürgerkriegs gegen Land und Leute dort eine feindselige Gesinnung hegte, aber sie empfand Furcht, Mißtrauen, Fremdheit: der echte Yankee, der Mensch aus den Nordoststaaten der Union, war ein Ausländer für sie. So reiste sie also in den Süden, in jenen Süden, der wie die dunkle Helena in Eugens Blut brannte, und sie nahm ihn stets mit. Er schlief noch immer in ihrem Bett.

Eugens Gefühl für den Süden galt nicht so sehr dem Historischen. Es war vielmehr Kern und Sehnsucht seiner romantischen Natur. In ihm war jene grenzenlose und unerklärliche Trunkenheit, jener Magnetismus des Blutes, der manche Menschen ins Herz der Hitze und darüber hinaus in die smaragdene Kälte des Südpols treibt, so wie es dem Romantiker Coleridge in dem unvergleichlichen »Rime of the Ancient Mariner« ging, einem Gedicht, über das nichts geht. Diese Sehnsucht nach dem Süden wurde fraglos gesteigert durch das, was er gelesen und geträumt hatte. Dazu kam, daß der Geschichtsunterricht in der Schule eine Gloriole um die Gegend wob: da hörte er von dem »guten alten Süden« in jenen »guten alten Zeiten«, wo Leute noch in sogenannten »Herrenhäusern« wohnten, wo die Sklaverei eine von dauerndem Banjogestrumm und Schiebetänzen begleitete Wohlfahrtseinrichtung war, wo alle weißen Frauen rein, adlig und schön und alle weißen Männer kühne, todverachtende Kavaliere waren. Jahre später, als Eugen längst mit Widerwillen an diesen billigen Schwindel dachte, tat er immer noch so, als sei er dem Süden fanatisch ergeben, und entschuldigte die Tatsache, daß er in den Nordstaaten wohnte, mit Gründen der Notwendigkeit. Schließlich fiel ihm bei, daß er der Gegend und den Leuten dort nichts schuldig sei, daß er die ganze leidige Mythe zum Teufel wünschen könne – und das tat er denn auch.

Nun aber reichte sein Leben an ein fabelhaftes, einsames Wunder, in die Verzauberung, die nur durch Elizas geizige Gewohnheiten, ihren Mangel an Großartigkeit in einer großartigen Welt, unterbrochen wurde. Sie nahmen Mahlzeiten von mürben Brötchen und Butter und Milch in trüben Restaurants; im Speisewagen packten sie mitgebrachte Butterbrote aus einer Schuhschachtel, sobald Eliza nach einem langwierigen Studium der Karte schließlich Kaffee bestellt hatte. Beinah überall, wo sie abstiegen, gab es Schwierigkeiten wegen des Preises und Streit wegen der Rechnung. Wenn der Fahrkartenkontrolleur kam, hieß sie ihn sich zusammenzu»hutzeln«, damit seine Berechtigung auf eine halbe Fahrkarte nicht angezweifelt würde, denn Eugen war ein hochaufgeschoßner Junge.

Auf die Herbstfahrt mit Gant nach Augusta folgte eine Winterreise mit Eliza nach Florida. Sie gingen zuerst nach Tampa, dann ein paar Tage später nach Saint Petersburg. Er watete durch den tiefen losen Sand der Straßen, saß und fischte mit munteren alten Männern am Ende des langen Piers, verschlang eine ganze Menge von 10-Cent-Räuber-Schinken, die er in einer Kiste in den möblierten Zimmern, die Eliza in einem Privathaus gemietet hatte, fand. Sie reisten ganz plötzlich ab. Es gab Krach mit dem alten Kavalier, der ihnen die Zimmer vermietet hatte und sich nun um sein Haupteinkommen für die Saison geprellt sah. Sie fuhren eiligst nach Süd-Carolina, auf eine hysterische Depesche Daisys hin, die ihrer Mama ein »Komme bitte sofort« gedrahtet hatte. Sie kamen in der trüben Kleinstadt an, es war spät im März, man blieb mit den Schuhen im lehmigen Gassenkot stecken, es regnete unausgesetzt. Daisys erstes Kind, ein Junge, war am Tage zuvor geboren worden. Eliza hielt die Unterbrechung ihrer Erholung für überflüssig und unnütz, war verärgert; zwei oder drei Tage nach der Ankunft zerstritt sie sich mit der Tochter und fuhr heim nach Altamont. Bei ihrer Abreise erklärte sie – Daisy applaudierte den Vorsatz mit Ironie –, sie würde nie wieder zu Daisy zu Besuch kommen. Aber sie hielt nicht Wort.

Im nächsten Winter fuhren sie um die Fastnacht nach New Orleans. Eugen erinnerte sich an die großen Zisternen, die im Garten hinter dem Haus seiner Tante Mary voll mit Regenwässer standen; an das Schnarchen der Tante, von dem nachts die Fenster schepperten; und an den Mardi Gras. Der große Karnevalszug kam durch die Canal Street mit geschmückten, hochaufgestockten Narrenkutschen; die Schönen lächelten; Gruppen in grotesken und phantastischen Masken marschierten lärmend vorbei. Und wieder sah Eugen Schiffe vor Anker; die hohen Kiele ragten über die Hafenmauer am Ende der Canal Street. Auf dem Friedhof waren die Grabhügel über der Erde angelegt, weil – wie Gants Neffe Olly erklärte – »das Grundwasser für die Leichen nicht gut ist«.

Und er erinnerte sich an die Gerüche auf dem alten französischen Markt, an den Duft des starken Kaffees, den er dort trank, und an die völlig ungewohnte Sonntagsheiterkeit der Stadt: offne Theater, Gehämmer und Gesäge aus den Werkstätten, Menschen in lustiger Stimmung auf der Straße. Er besuchte die Boyles, Stammgäste in Dixieland, die im alten französischen Viertel wohnten. Er schlief mit Frank Boyle in einem dunklen, von Kerzen matterleuchteten Saal. Die Boyles hatten als Köchin eine steinalte Negerin, die nur Französisch konnte; morgens kam sie vom Markt mit einem großen Korb voll Gemüsen, Südfrüchten, Geflügel, Fleisch. Sie bereitete fremde Gerichte von ungekannter Köstlichkeit: schweren Gumbo, garnierte Beefsteaks, Geflügel in würzigen Tunken.

Und er blickte auf die ungeheure gelbe Schlange des Mississippi. Er träumte von den langen Ufern dieses »Vaters der Ströme«, von den unzähligen, tropisch umwucherten Flüssen, die ihn speisen, von dem merkwürdigen Leben auf den Plantagen und in den Zuckerrohrbrüchen, von Uferlandschaften im Mondlicht. Er sah Neger im Dunkel auf den Deichen tanzen, sah die langsamen Lichter der goldverstuckten Flußdampfer, Frauen an Deck mit schwarzen Haaren und duftender Haut; er hörte das geisterhafte Echo der Musik klingen unter den tief ins Wasser hängenden phantomischen Uferbäumen.

Sie waren erst kürze Zeit von dieser Reise zurück, als Eugen eines Nachts, als er im Hause seines Vaters schlief, durch furchtbare Schreie Gants geweckt wurde. Gant hatte seit Tagen maßlos gesoffen. Eugen hatte ihn selbst am Abend mit Jannadeaus und eines Negerkutschers Hilfe heimgebracht. Nach der üblichen Bändigung des wahnsinnig Betrunknen, dem Suppeessen und dem Entkleiden erschien Doktor McGuire, gab Gant eine Spritze in den sehnigen Arm, ließ Schlafpulver zurück und ging. Helene war völlig erschöpft; auch Gant war am Ende seiner Kräfte. Ein schmerzhafter Rheumatismus fiel ihn an, die Anfälle wiederholten sich zweimal in der Nacht.

Nun erwachte er in der Dunkelheit, schrie vor Entsetzen, vor wahnsinnigen, niegekannten Schmerzen. Seine ganze rechte Körperhälfte war gelähmt. Abwechselnd flehte er Gott an und verfluchte ihn. Es bestand die Gefahr, daß die rheumatische Entzündung sich aufs Herz schlüge. Tagelang betreuten Arzt und Pflegerin den Kranken, der sich vor Schmerz bog, krümmte, wand. Als er soweit hergestellt war, daß er reisen konnte, fuhr er unter Helenes Obhut nach Hot Springs. Wie eine Wilde trieb die Tochter alle andere Hilfe von der Seite des Kranken, sie wich nicht von ihm, schenkte ihm jeden Augenblick ihrer Zeit. Sie blieben sechs Wochen weg. Ab und zu kamen Postkarten und Briefe, berichtend von einem Leben in Hotels, Mineralbädern, Krankheit, Lähmungserscheinungen, von dem Sport, den vornehme Reiche dort im Kurort trieben. Als Gant zurückkam, konnte er wieder gehn, aber seine rechte Hand, steif und krumm nun, war für dauernd gelähmt. Er konnte die Finger nie mehr schließen. Sein Auftreten war ernüchtert und zahm; Angst, ein gewisses Entsetzen glomm in seinen Augen.

Die Zusammengehörigkeit von Vater und Tochter aber war endgültig besiegelt. Vor Gant lag, er ahnte es selbst, eine Straße der Schmerzen, die in den Tod führte. Aber jeden Schritt dieses Weges, den er gebrochen, von seinen großen Kräften verlassen, ging, ging sie mit ihm und knüpfte so das Band, das sie zusammenhielt, über das Leben, über den Tod, über alles Gedenken hinaus, fest.

»Ich wäre gestorben, wenn ich sie nicht hätte«, behauptete er immer wieder von Helene und prahlte unaufhörlich mit ihrer Ergebenheit und Treue, mit den Kosten der Kur, den Hotels, von dem Reichtum und den feinen Leuten, die sie zusammen gesehen hatten.

Und während die Legende von Helenes Ergebenheit von Tag zu Tag wuchs, während Gants Abhängigkeit von ihr zunahm und stets laut verkündigt wurde, schürzte Eliza immer gedankenvoller die Lippe, weinte manchmal in das brutzelnde Fett der Bratpfanne, lächelte dann wieder unter der breitangesetzten roten Nase, ein zuckendes, bittres, furchtbar gekränktes Lächeln.

»Ich werd's ihnen zeigen«, flennte sie, »ich werd's ihnen zeigen«, und kratzte sich gedankenvoll einen hochroten juckenden Flecken auf dem linken Handrücken, ein Ekzem, das in diesem Jahr dort ausgeschlagen war.

Im folgenden Winter ging auch sie nach Hot Springs. Sie unterbrachen auf zwei Tage in Memphis, wo Steve gerade in einer Farbenhandlung arbeitete. Er ging mit Eugen in der Stadt spazieren, schlüpfte ab und zu in eine Bar an der Straßenecke, um »'nen Augenblick 'nen Bekannten zu sprechen«. Der Bekannte hatte die Eigenschaft – so schien es Eugen –, Steves Gang noch schlenkriger und herausfordernder zu machen.

Eugen fuhr verschlafen auf, als der Zug über den Fluß nach Arkansas hinüberfuhr. Dann sah er verschwommen armselige Häuser auf den dunklen, malariaverseuchten Feldern.

In Hot Springs schickte ihn Eliza gleich in die Schule. Mit einem kühnen Satz sprang er in die bestürzende neue Welt. Seine Leistungen waren glänzend und erwarben ihm die Gunst der jungen Klassenlehrerin, aber die feindselige Bande der Mitschüler ließ den Fremdling bitter büßen. Eh noch ein Monat vergangen war, hatte er schwer für seine Unkenntnis ihrer Gebräuche gezahlt.

Eliza kochte sich täglich in den Bädern aus. Manchmal begleitete er sie. Trunken von Unabhängigkeit verließ er sie und schritt in die Männerabteilung. Er entkleidete sich, ging in den mit Liegegelegenheiten ausgestatteten Heißluftraum, schloß sich in der Dampfzelle ein, wo er in der Schweißlache, die sich zu seinen Füßen bildete, sich aufzulösen glaubte. Mit zitternden Knien kam er wieder heraus und ließ sich von einem mächtigen grinsenden Negermasseur rollen und kneten. Später lag er glorreich, ein Mann unter Männern, im Nachschwitzraum. Sie unterhielten sich von Liege zu Liege oder trugen ihre prallen Bäuche auf und ab, die Lenden keusch mit einem Badetuch gegürtet. Da waren malariakranke Männer von Mississippi; Alkoholiker mit schweren Augensäcken, Spieler mit puterroten Gesichtern; zusammengebrochne Boxer. Dampf und Männerschweiß; Eugen roch das gern zusammen.

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13 kasım 2024
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