Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 12
Eliza sorgte dafür, daß er nicht müßig gehe. Sie schickte ihn mit der Saturday Evening Post auf die Straßen. »Es schadet Dir nichts, wenn Du nach der Schule ein bißchen leichte Arbeit tust«, sagte sie zu ihm, als er mit der vollgestopften Tasche abschob.
»Trag den Kopf hoch, Junge!« rief sie ihm nach. »Geh gerade, daß die Leute denken, daß Du wer bist!«
Sie hatte ihm einen Stoß gedruckter Karten mitgegeben, auf denen stand:
Verbringen Sie den Sommer in
Dixiland
im schönen Altamont
der Perle der amerikanischen Schweiz
Zivile Preise. Für Touristen. Für Dauergäste
Man wende sich an die Besitzerin
Eliza M. Gant
»Wenn wir leben wollen. Junge, dann müssen wir ein wenig Kundschaft zusammentrommeln, und Du mußt mir helfen«, bemerkte sie mit jener lippenschürzenden, mundverzognen Scherzhaftigkeit, die ihm so entsetzlich wehtat, weil er spürte, daß sie die augenscheinliche Maske einer noch augenscheinlicheren Unaufrichtigkeit war.
Das Herz krampfte sich ihm zusammen, als er schließlich einsah, daß er sich wie ein zahmer, abgehärteter Dickhäuter in Elizas Welt ausnahm. Er »trug den Kopf hoch«, er bemühte sich, den Eindruck zu schinden, daß er »wer« wäre, überreichte die Empfehlungskarte und schilderte auf Befragen die Freuden des Lebens in Altamont und die Annehmlichkeit der Unterkunft in Dixieland. Er ergriff jede Gelegenheit, um »Kundschaft zusammenzutrommeln«. Er haßte Berufsjargon; Eliza, die ihn seit langem angenommen hatte, drückte sich mit Vorliebe darin aus. Sie schmatzte mit den Lippen, wenn sie »Dauergäste« oder »Kundschaft zusammentrommeln« aussprach. Genau wie Gant war auch Eugen im stillen entsetzt, daß man für Geld das Brot auf seinem Tisch, den Schutz seiner Vierwände an den Gast, den Fremden, den unbekannten Freund aus der Welt, an den Siechen, den Lebensmüden, den Einsamen, den Zerbrochenen, den Schuft, die Hure, den Narren verkaufen könne.
Sein Blick war an die fernen blauen Berge der Ozarks verloren. Er ging die gebirgige Central Avenue hinauf, zu beiden Seiten ragten Berge. Berge, die für ihn die Grenze der Bezauberung, die nahe Pforte in ein zeitloses, unaufhörliches Feenland waren. Er trank vom Wasser der kochenden Brunnen in der Hoffnung, sich von allem Makel reinzuwaschen. Ein Traum, den er sein Leben lang träumen sollte, der Traum vom Jungbrunnen fing in ihm an. Er badete bis zum Hals im heilsamen Schlamm, der jeden Tropfen verderbten Bluts aus den Adern ziehen und dem Menschen wieder das Gewebe eines vollkommenen, reinen Geschöpfes verleihen soll.
Und stundenlang starrte er in die Eingangshallen der großen modischen Hotels, starrte er auf die Beine der Damen auf den Veranden, beobachtete er die Großen des Landes bei ihrer Erholung. Er bedachte – und das Herz klopfte ihm vor Staunen und Wundern –, daß er Gestalten aus Gesellschaftsromanen vor sich habe, die hier statt auf dem Papier in Fleisch und Blut ihr göttergleiches Leben führten. Er empfand die tiefste Ehrfurcht vor der großen Welt jener Bücher, besonders der englischen: Da liebten die feinen Leute, aber im Gegensatz zu den gewöhnlichen Sterblichen liebten sie elegant; ihre Redeweise war subtil, exquisit, delikat; selbst in ihren Leidenschaften bezeigten sie nie grobe Gelüste oder heftigen Hunger; sie waren völlig außerstand niedrig zu denken, fleischliche Gier zu empfinden. Wenn Eugen die schönen Schenkel einer vorbeireitenden Dame sah, dann wunderte er sich, ob sie wohl der gute Geruch des Pferds, der warme wogende Rücken des Tiers begeistern und beschwingen könne; er fragte sich, wie so eine Dame lieben würde. Die dickaufgetragne Eleganz ihres Gehabens in den Romanen beeindruckte ihn sehr; er glaubte, daß in jener Welt Frauen mit Glacehandschuhen und schlagfertigen feinsinnigen Geistreicheleien verführt würden. Solche Gedanken erfüllten ihn mit Scham über seine eigne Niedrigkeit. Er stellte sich vor, daß die feinen Leute jenseits der Naturgesetze liebten, daß sie die Wollust der Tiere und der gemeinen Menschen schon bei der elektrisierenden Fingerberührung, dem zuckenden Aufblick der Augen, bei ein paar erregenden Worten empfänden.
Und wenn diese Leute ihm ins traumverlorne Gesicht sahen – dies Gesicht, das nun, nachdem die Locken gefallen waren, noch fremder war als zuvor –, da kauften sie von ihm und zahlten das Vielfache des Preises mit der lässigen Bußfertigkeit von Verschwendern.
In den Fenstern der Restaurants schwammen große Fische in Glaskästen; Aale rollten sich schlangenhaft, weißbäuchige, große Forellen drehten sich, ließen sich sinken. Eugen träumte von unbekannten üppigen Mählern an den Tischen dieser Gaststätten.
Manchmal kamen Männer mit fischbeladnen Wagen von dem großen Fluß herüber. Da fragte er sich, ob er wohl je diesen Fluß, den Missouri, sehen würde. Was hier nah und unerkundet in der Gegend lag, erfüllte ihn mit Sehnsucht.
Und später wieder! Da reiste er mit Eliza die sandige Küste von Florida entlang, erging sich auf den schmalen Wegen in Saint Augustine, rannte auf dem betonharten Strand von Daytona. In Palm Beach wetzte er einmal über die grünen Rasenplätze vor den Hotels, um Kokosnüsse zu kaufen, die Eliza als Souvenirs nach Altamont mitnehmen wollte; er erstand einen Sack voll, lud ihn sich auf die Schultern und schleppte die Last durch die nicht endenwollenden Gartenrestaurants der »Royal Poinciana« und »Breakers«, Gegenstand des Zorns, des Skandals, des Amüsements für Sklaven und Prinzen. Er streifte auf den breiten, palmschattigen Wegen, die die Halbinseln queren, um am Badestrand die sinnlich gelösten seidigen Frauenbeine und die hageren gebräunten Körper der Männer zu sehen –, und die breitanbrandenden, sich, überstürzenden Wogen, das endlose smaragdgrüne Meer, das aus Muscheln, die sein Vater besaß, in sein Gemüt gerauscht, in seinem Herzen gedröhnt hatte, das er aber bisher nie gesehen hatte. Durch die huschenden Sonnenkringel unter den Palmen, auf den weichen Spazierwegen ließen sich Prinzessinnen und Lords von Negern in Rollstühlen fahren; in den vergitterten Bar-rooms, in denen große Fächer summten, saßen Herren und tranken aus beschlagnen, hochstieligen Kristallgläsern.
Und später wieder! Sie reisten nach Jacksonville und lebten dort ein paar Wochen in der Nähe von Pett und Greeley. Ein kleiner buckliger Mann, der die Harvard-Universität besucht hatte, gab ihm Unterricht. Er aß mit seinem Lehrer in einem Büfettrestaurant; der Lehrer trank Bier und aß Brezeln dazu. Als sie abreisten, weigerte sich Eliza, die bescheidne Summe zu bezahlen, die der Mann für seine Lehrtätigkeit verlangte. Der Bucklige zuckte die Achseln und nahm, was sie ihm anbot. Eugen verrenkte den Hals und hob scharf den Fuß vom Boden, wie jemand, der sich vor plötzlichem Schmerz windet.
So sah er, der aus dem verketteten, vom Himmel gegürteten Gebirg kam, er, dessen Meister die Berge waren, zuerst den fabulösen Süden. Bilder von vorüberwehenden Felsen, Wäldern, Hügeln blieben ihm für immer im Herzen. An die dunkle Landschaft draußen verloren lag er nächtelang auf der Liege im Pullmanwagen und sah, wie das schattende, schemenhafte Land vorüberflog; schlief schließlich ein und erwachte plötzlich, um die kühlen Seen von Florida im Tagesgrauen zu sehn, die dalagen, als hätten sie von Ewigkeit her auf diese Begegnung gewartet. Oder er hörte, als der Zug in den noch dunklen Morgenstunden in Savannah einlief, die ruhigen Stimmen von Männern, die sich auf dem Bahnsteig unterhielten, und die matten Echos der Halle. Oder er sah in der blassen Stunde vor Tagesanbruch gespenstische Wälder, tiefgefurchte Feldwege, eine Kuh, einen Buben, einen Menschen, der in der Tür einer Hütte döste. Er erlebte in diesem einzigen Augenblick der Zeit, was sich alles Leben zu zeugen gemüht hatte, damit es im Fenster des fahrenden Zugs erscheine und vorüber sei.
Der Gemeinschaft aller Dinge auf Erden entsann er sich mit einer sonderlichen Vertrautheit. Er träumte von den stillen Wegen, den monderhellten Wäldern, und er dachte, eines Tags würde er zu Fuß hinkommen und sie dort unverändert, mit all dem Wunder des Wiedererkennens, finden. Sie existierten für ihn von Anfang an und auf immer.
Eugen war fast zwölf Jahre alt.
Zweiter Teil
XIV
Der Pflaumenbaum wiegt sich steif im Winterwind. Seine kleinen Zweige, schwarz und spröde, sind zu tausendmaltausend Eisspeeren gefroren. Wenn's aber lenzt, wird er wieder jung werden. Schwer und geschmeidig wird er sich unter der Last von Blüte und Frucht biegen. Pflaumen werden reifen. Wenn der Wind in den Obsthag fährt, werden die Pflaumen, verzweifelt von den dünnen Stielchen gerüttelt, geborsten auf die mulmige, warmfeuchte Erde fallen. Die Luft wird voll sein vom Laut fallender Pflaumen, die Nacht wird voll sein vom Laut fallender Pflaumen, und ein ganzer Baum voller Vögel wird singen. Ja, von Keimlauten, Blühlauten, vollen, warmkehligen, pflaumenfallenden Vogellauten wird die Luft erfüllt sein.
Die harte Bergscholle ist aufgetaut und locker geworden; weicher, reicher Regen fällt; zarthalmiges, frisches Gras, wie ein dünner Flaum aufgesproßt, bedeckt strichweise das Land.
Meines Bruders Ben Gesicht – dachte Eugen – ist wie aus einem Stück leicht angegilbtem Elfenbein geschnitzt. Seine hohe, weiße Stirn ist kühn und knollig, weil er die Brauen herunterzieht wie ein alter Mann. Sein Mund ist wie ein Messer, sein Lächeln wie ein Lichtschein auf einer Klinge. Sein Gesicht ist wie eine Klinge und wie ein Messer und wie ein flackernder Lichtschein; es ist zärtlich und heftig, es blickt immer so schön finster drein, wenn er Dinge, die er sich einprägen will, anguckt oder sie mit seinen harten weißen Fingern anfaßt. Ganz gesammelt und scharf zieht er die Luft durch die lange spitze Nase. So kommt's, daß Frauen, die ihn ansehn, eine aufwallende Zärtlichkeit für ein spitzes, knolliges, stets finster dreinblickendes Gesicht empfinden. Sein Haar glänzt wie das Haar eines kleinen Jungen, es ist kraus und spröd wie Endiviensalat.
In die aprilnen Vortagstraßen geht Ben. Die Nacht ist hell, von kühlen, zarten Sternen besät. Ben schleicht sich leis aus dem Haus. Sein helles Gesicht steht dunkel unter den Obstbäumen; ein Geruch von Nikotin und Schuhleder kommt zu den jungen Blüten. Ben setzt die Füße einwärts beim Gehen. Sein Tritt hallt wie Musik durch die leeren Straßen. Im Springbrunnen am Stadtplatz schwappt träge das Wasser. Alle Feuerwehrmänner schlafen; aber Big Bill Merrick, der brave Nachtschutzmann mit dem Schweinskopf, lehnt an der Theke in der Frühstücksbar, trinkt Kaffee und ißt Mince-Pie. Der gute, warme Geruch der Druckerschwärze weht in Wolken auf die Straße. Ein Zug, der in den Frühlings-Süden fährt, pfeift lang.
Die Zeitungsträger gehen ins Dunkel, an den kühlen Obstgärten vorbei. Negerinnen dehnen erwachend ihre kupfernen Glieder in den dunklen Verschlagen. Reinlich murmelt der Bach in der Schlucht.
Ein Neuer, Nummer 6, hörte, wie die Buben von Foxie sprachen.
»Wer ist Foxie?« fragte Nummer 6.
»Ein Aufpasser! Gib acht, daß er Dich nicht erwischt, der Bastard!«
»Vorige Woche hat er mich dreimal ertappt, jedesmal im griechischen Lunch-Room. Nicht mal essen können sie einen lassen!«
Nummer 3 dachte an Freitag – er hatte die Route im Negerviertel.
»Wieviele, Nummer 3?«
»162.«
»Wieviele Totenköpfe hast Du darunter?« fragte Mister Randall zynisch. »Hebst Du je das Geld dort ab?« fügte er hinzu, während er im Buch nachschlug.
»Er läßt sich in Poon-Tang bezahlen«, sagte Foxie grinsend. »Eine Woche freie Zustellung für die Dosis.«
»Was willst Du denn überhaupt?« bockte Nummer 3 streitsüchtig auf. »Seit sechs Jahren machst Du Stunk wegen dieser Leute.«
»Mach mit den Niggern, was Du willst«, sagte Mister Randall. »Aber das Geld für die Zeitung muß her.« Randall wandte sich an Ben. »Hör mal, Ben, nächsten Samstag gehst Du mit ihm auf die Route.«
Ben lachte still, zynisch.
»Ach, Du mein Gott!« sagte er. »Ich soll also diesem kleinen Gauner mal auf die Pfoten schauen. Na, ich kann Dir's von vornherein verraten, Randall, er beschummelt Dich seit einem halben Jahr.«
»Schon gut!« sagte Randall verärgert. »Das sollst Du jetzt endgültig klarstellen.«
»Bei Gott«, sagte Ben verächtlich, »dieses Früchtchen hat Nigger auf der Liste, die seit fünf Jahren tot sind. Das hast Du davon, daß Du jeden hergelaufenen kleinen Gauner anstellst.«
»Nummer 3«, sagte Randall, »wenn Du die Sache nicht in Ordnung bringst, dann gebe ich die Route einem andern Buben.«
»Zum Teufel«, maulte Nummer 3, »tun Sie's doch! Mir ist's schnuppe!«
»Um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte«, wandte sich Ben leis lachend an seinen Engel und deutete mit einer Kopfbewegung auf Nummer 3.
»Ja, hör Dir das Ding an, das sag ich auch«, begehrte Nummer 3 rauflustig auf.
»Schon gut, Kleiner, lauf und trag Deine Zeitungen aus, eh Dir was wehtut«, sagte Ben und sah den Buben finster an. »Du Gauner«, bemerkte er angewidert, »ich hab 'nen kleinen Bruder zu Haus, der taugt mehr als sechse von Deiner Sorte.«
Der Frühling lag wie ein Duftschleier auf der Erde. Die Nacht war wie eine kühle Schale, mit fliederfarbnem Dunkel, mit jungem Gartengeruch gefüllt.
Gant schlief schwer. Er schnarchte, daß die Fenster schepperten. Und mit kurzen Explosionsdonnern schickte sich die Kleinbahn Nummer 36 an, die Saluda Avenue hinaufzufahren. Die Lokomotive bockte, die Räder sausten, ohne die Spur zu fassen. Der Maschinist Tom Cline starrte mit ernstem Gesicht hinunter in den milchigen Nebelbrodem der Schlucht und wartete ab. Die Lokomotive lief an, blieb stehen, faßte die Fahrspur und pflügte langsam, wie ein in den Harnisch gesträngtes Maultier, bergan. Zufrieden lehnte sich Tom Cline hinaus und schaute. Das Sternenlicht glomm matt auf den Schienen. Er aß ein dickes, mit kaltem Braten belegtes Butterbrot; er zerriß es mit seinen großen, rußigen Fingern. Ein Geruch von Lorbeer und Hundsholz kam durch die Kühle. Die Anhängewagen klapperten auf dem Geleis. Der Weichensteller, trübe gebadet im gelben Licht seiner gefährlich am Steilhang lehnenden Hütte, stand stur am Stellblock.
Tom, nachdenklich kauend, stierte durch seine Schutzbrille lange auf den Weichensteller herab. Er hatte noch nie ein Wort mit ihm gesprochen. Dann wandte er sich ab, nahm stillschweigend die mit kaltem Kaffee halbgefüllte Flasche, die ihm sein Heizer reichte, und schwenkte sich die Gurgel mit großen Schlucken.
Das Haus Valley Street Nummer 18 ist eine rotgestrichne, gelbschleimige Holzhütte mit einer baufälligen Veranda vor der Tür. Nummer 3 warf die frischgedruckte, zu einem rechteckigen Block gefaltete Zeitung flach gegen die Tür. Das Bündel schlug wie ein Holzscheit auf, das morsche Bretterwerk knarrte. In der Stube regte sich May Corpening, sie reckte ihre kupferfarbnen Beine in der fötiden Bettwärme und murmelte etwas, als wäre sie betäubt.
Harry Tugman zündete eine Zigarette, Marke Camel, an und zog den Rauch tief in die mächtige, von Druckerschwärze gefleckte Lunge, während er zusah, wie die große Presse langsam stoppte. Seine Arme waren nackt, er hatte Muskeln wie Maschinenkolben. Er ließ sich faul in einen knarrenden Korbsessel fallen und überflog das warme scharfriechende Blatt. Tabakrauch kräuselte langsam aus seinen Naslöchern. Er warf die Zeitung weg.
»Teufel, was für ein Umbruch!« sagte er.
Ben kam die Treppe herunter, mißlaunisch, die Brauen finster gerückt, und latschte durch den Druckersaal zum Eisschrank.
»Um Gottes willen«, rief er dem Mann, der den Umbruch machte, gereizt zu, »hast Du denn nie was anderes in diesem alten Eisschrank außer Wurzelbier und Sauermilch, Mac!«
»Herrgott, was verlangst Du eigentlich?« sagte Mac.
»Na, ab und zu möchte man mal 'ne Flasche Coca Cola vorfinden. Der alte Mister Candler in Atlanta stellt dieses Gesöff nämlich immer noch her«, sagte Ben bissig.
Harry Tugman warf die Zigarette weg.
»Diese Nachricht ist hier noch nicht eingelaufen, Ben«, sagte er. »Du mußt warten, bis die Leute die Aufregung des Bürgerkriegs überstanden haben. Hopp!« rief er und sprang plötzlich auf, »gehn wir 'rüber in den ›Fettlöffel‹!«
Er ging ans Waschbecken und hielt seinen großen Kopf unter den Hahn. Erfrischend lief ihm das Wasser über den breiten Nacken, das weißblaue, übernächtig-fahle, hungrig zähe Gesicht. Er wusch sich die Hände, daß der Schaum schlabberte; seine Armmuskeln spielten wie Schlangen. Er sang in seinem dröhnenden Quartettbariton:
»Gib acht, gib acht, gib acht,
Manch tapfres Herz liegt in der Tiefe und ruht.
Gib acht, gib acht, gib acht.«
Es war vollkommen still geworden im warmen Druckersaal. Die Büros im ersten Stock schliefen, in gelbgraues Licht gebadet, wie übermüdete Männer. Die Zeitungsträger waren auf ihren Routen. Es schien, als ob der ganze Bau langsam und schwerfällig atme. Der Himmel war mattperlgrau am Horizont.
Sonderbar, scharf, bruchstückweise erwachte das Leben im fliederfarbenen Dunkel. Klapp-klapp-klapp hallte es gemächlich auf der Straße. Mistress Goulderbilts Milchgaul Nummer 6, eine stattliche bräune Stute, zog den kremfarbnen, glasklinkernden, mit extrasahniger, teurer Flaschenmilch vollbeladnen Molkereiwagen. Der Fahrer, der gesund nach frischem Schweiß und Milch roch, eine Haut wie Milch und Blut hatte, war ein junger Farmerbursch. Zwölf Kilometer war er von Biltburn her über die sternhellen betauten Felder und durch die Wälder zur Stadt gefahren.
Im Pisgah-Hotel, gegenüber dem Bahnhof, klinkte die letzte Tür leis ins Schloß. Miss Berenice Redmond gab dem Nachtportier acht Eindollarnoten und ging endgültig zu Bett mit dem Ersuchen, vor ein Uhr nicht gestört zu werden. Eine rangierende Lokomotive rasselte lärmend auf den Geleisen. Über die Biltburn-Straßenkreuzung ging Tom Cline, mit gleichmäßig-müdem Atem vor sich hinpfeifend. Nummer 3 hatte bereits 142 Zeitungen zugestellt, er hatte nur noch die hölzernen Stufen zur Eagle Crescent Bank zu ersteigen und dort die acht Häuser zu bedienen. Befangen blickte er über das planlose Auf und Ab des hügligen Negerviertels hinweg nach dem Bergrand im Osten. Die Sterne im perlgrauen Himmel sahen wie ertrunken aus. Nicht mehr viel Zeit übrig, dachte Nummer 3. Er hatte ein fahles Gesicht, Hängebacken mit dichtem, blondem Bartflaum, ein langes, volles, fliehendes Kinn. Er leckte sich die volle aufgesprungne Unterlippe der Länge nach ab.
Ein Siebensitzer-Hudson, vier Zylinder, Modell 1910, schoß mit lautem Motorgeknatter vom Bürgersteig vor dem Bahnhof los, schlingerte über den ebnen Platz am Fuß der South End Avenue – wo Neger zu pennen und Feuerwehrleute zu üben pflegten – und sauste mit 80-km-Geschwindigkeit auf die Stadt zu. Der Bahnhof erwachte; in den leeren Schuppen hallte es, helle Hammerschläge auf Waggonräder, metallisches Absatzklappern auf den Fliesen. Verschlafen, mit träg-sehnsüchtigen Bewegungen goß ein Negerweib Wasser auf die Fliesen des Wartesaals und zog den Fußboden dann mit einem grauen Putzlumpen auf.
Es war 5 Uhr 30. Ben hatte das Haus um 3 Uhr 25 verlassen. In 40 Minuten würde Gant aufwachen, sich ankleiden, sein Morgenfeuer schüren.
»Ben«, sagte Harry Tugman, als sie aus dem Zeitungsbau heraustraten, »wenn Jimmy Dean mir nochmal in den Druckersaal kommt und Scherereien macht, dann kann er sich jemand anders suchen, der ihm sein Lauseblättchen druckt. Teufel noch eins! Ich krieg jeden Tag 'ne Stelle an 'ner großen Zeitung.«
»Ist er heut nacht heruntergekommen?« fragte Ben.
»Ja … und schnell wieder raufgegangen«, sagte Harry Tugman.
»Ich sagte ihm, er solle sein Schwänzchen nach oben tragen.«
»Was hat er gewollt?« erkundigte sich Ben.
»Er sagte: › bin Chefredakteur, ich!‹ – ›Und wenn Sie des Präsidenten Schneuzfetzen sind‹, sagte ich, ›dann ist es mir genau so sauwurscht. Wenn Ihnen was dran liegt, daß heut 'ne Zeitung gedruckt wird, dann scheren Sie sich aus dem Druckersaal!‹ Und glaub mir, da hat er sich schleunigst verzogen.«
In der kühlen, perlblauen Dunkelheit bogen die beiden ums Postamt an der Ecke und steuerten schräg über die. Straße auf den .»Uneeda Lunch Nr. 3« zu. Dieses Restaurant, genannt »der Fettlöffel«, war ein kleines Bohnenpeißel, vier Meter Straßenfront, zwischen einen Optikerladen und einen griechischen Schuhputzersalon eingeklemmt.
Drinnen saß Dr. Hugo McGuire auf einem hohen Barstuhl, einen Teller brauner, nierenförmiger Bohnen vor sich, die er geduldig eine nach der andern mit der Gabel anspießte. Ein scharfer Geruch von Whisky hing um ihn. In den feisten, gewandten Metzgerhänden hielt er unbeholfen die Gabel. Sein Gesicht mit dem schweren Unterkiefer hatte große braune Bartstoppelflecken. Er drehte sich auf dem Barstuhl um und stierte eulenhaft, als die beiden eintraten. Schließlich gelang es ihm, den schwanken Blickstrahl seiner geröteten Stielaugen auf Ben zu richten.
»Hallo, mein Junge«, bellte er gutmütig. »Was kann ich für Dich tun?«
»Um Gottes willen«, sagte Ben geringschätzig lachend mit einem Kopfschnick zu Harry Tugman, »nun hör Dir das an, bitte!«
Sie hatten kaum am unteren Ende Platz genommen, als der Leichenbestatter Horse Hines in der Tür erschien. Obschon Horse Hines beileibe kein magerer Mann war, sah er dennoch wie ein Skelett in schwarzem Gehrock aus. Wie ein Pferdemaul klaffte in dem weißen, steifen Gesicht ein langer, grobschlitziger Mund; sein starres, geschäftlich-verbindendes Lächeln entblößte große, gelbe Pferdezähne.
»Gentlemen, Gentlemen«, sagte er ohne ersichtlichen Grund und rieb sich die langen Hände, als wäre Frostwetter. Das Fleisch an seinen Fingern rasselte hohl, als klängen alte Knochen aneinander.
Dr. Coker, Tuberkulosespezialist, genannt der »Lungenhai«, der mit unablässigem, sardonischem Interesse McGuires Bohnenjagd verfolgt hatte, nahm nun die lange Zigarre aus dem satanischen Gesicht, hielt sie zwischen den fleckigen Fingern und tippte seinen Zechkumpan auf die Schulter.
»Komm, Hugo, gehn wir!« sagte er ruhig. Er deutete feixend auf den Leichenbestatter. »Es macht 'nen üblen Eindruck, wenn wir mit dem da zusammen gesehn werden.«
»'Morgen, Ben«, sagte Horse Hines und setzte sich weiter unten an die Schankbar. »Zu Hause alles in Ordnung?« erkundigte er sich leis.
Ben warf ihm einen düstern Seitenblick zu, wandte sich mit einem schnellen, bittern Lippenflackern zum Barkellner.
»Herr Doktor«, fragte Harry Tugman mit dem servilen Respekt des Laien vor dem Medizinmann, »was verlangen Sie eigentlich für 'ne Operation?«
»Operation? Was?« bellte McGuire zurück. Es war ihm gerade geglückt, eine Bohne aufzuspießen.
»Blinddarm rausnehmen«, sagte Harry Tugman, denn ihm fiel sonst nichts ein.
»300 Dollar, wenn's in den Bauch 'reingeht«, sagte McGuire. Er verschluckte sich und hustete.
»Gib acht, Hugo«, warnte Coker mit seinem gelben Teufelsgrinsen, »sonst ersäufst Du in Deinen eignen Absonderungen wie die alte Lady Sladen.«
»Was?« rief Harry Tugman. »Ist Mistress Sladen gestorben?« Er dachte eifersüchtig an die versäumte Reportage.
»Ja, gestern abend spät«, antwortete Coker.
»Guter Gott, tut mir leid«, sagte Harry Tugman erleichtert.
»Ich habe gerade die alte Dame aufgebahrt«, berichtete Horse Hines zartfühlend. »Ein Haufen Haut und Knochen!« Er seufzte mitleidig. Seine hartgesottenen Augen wurden feucht.
Ben wandte ihm das Gesicht zu. Er sah aus, als sei ihm speiübel.
»Joe«, sagte Horse Hines zum Kellner, »gib mir 'nen Kumpen von der Einbalsamierungsflüssigkeit da!« Er deutete mit dem langen Pferdekinn auf die Kaffeeurne.
»Um Gottes willen!« murmelte Ben angewidert. Dann platzte er heraus. »Verdammt, waschen Sie sich eigentlich die Hände, ehe Sie herkommen?«
Ben war zwanzig; niemand dachte daran, daß er so jung war.
»Möchtest Du nicht ein Stück kalten Schweinebraten, mein Junge?« fragte Coker mit seinem gelben Teufelsgrinsen.
Ben fauchte im Rachen, er preßte die Hand auf den Magen.
»Was hast Du denn, Ben?« lachte Harry Tugman und schlug ihm auf den Rücken.
Ben kletterte vom Stuhl, nahm seinen Kaffeekumpen und den Teller mit dem braunen Stück Mince-Pie und setzte sich auf die andere Seite von Harry Tugman. Alle lachten. Mit finsterem Seitenblick musterte Ben den Doktor McGuire.
»Bei Gott, Tug«, sagte er zu Harry Tugman, »da sitzen wir wahrhaftig mitten unter ihnen.«
»Nun hör Dir mal den Kerl an!« sägte McGuire zu Coker.
»Nicht aus der Art geschlagen, was? Ich war bei seiner Geburt zugezogen, ich hab ihn durch den Typhus gebracht, hab seinem Alten über siebenhundert Räusche weggeholfen und bin für meine Mühen auf achtzehn verschiedne Weisen Sohn-einer-Hündin geschimpft worden. Aber wenn nur eins in der Familie 'n bißchen Bauchweh hat«, fügte er stolz hinzu, »dann sollst Du mal sehn, wie sie zu mir gelaufen kommen. Stimmt's, Ben?« fragte er mit einem Kopfschnicken.
»Ach, nun hör Dir das an, bitte«, lachte Ben gereizt und barg sein spitzes Gesicht in seinem Kaffeekumpen. In seiner Bitterkeit war Leben, Duft, Zärtlichkeit, Schönes; die Männer blickten ihn mit gutmütig-betrunknen Augen an, sahen seine graue, entrüstete Miene, das einsame, dämonische Flackern seines Lächelns.
»Ja, und noch was«, fing McGuire wieder an, »wenn sie je was zu schneiden haben in der Familie, dann kannst Du sicher sein, daß sie mich dann holen.« Er drehte sich gewichtig auf seinem Barstuhl um. »Stimmt's, Ben?« fragte er.
»Wenn Sie an mir was zu schneiden haben«, bemerkte Ben, »dann werd' ich verdammt Sorge trägen, daß Sie gerade auf den Beinen stehn können, eh Sie mir mit dem Messer zu Leib rücken.«
»Komm jetzt, Hugo«, sagte Coker und faßte McGuire unter den Achseln. »Hör endlich auf, diese verfluchten Bohnen auf dem Teller rumzujagen. Krabble oder meinetwegen falle von diesem Stuhl runter!«
McGuire, in Säuferträumen verloren, starrte sinnlos auf den Bohnenteller und seufzte.
»Verdammt noch mal, Hugo, komm jetzt!« sagte Coker und stand auf. »In fünfundvierzig Minuten mußt Du operieren.«
»Wer ist das Opfer?« fragte Ben. »Ich möcht' Blumen schicken.«
»… wir alle? über kurz oder lang«, brummelte McGuire dumpf mit gedunsenen Lippen. »… Heute rot, morgen tot. Macht nichts … nein, macht ganz und gar nichts.«
»Um Himmels willen!« wandte sich Ben gereizt an Coker, »wollen Sie ihn wirklich in diesem Zustand operieren lassen? Warum schießen Sie die Patienten nicht lieber tot?«
Coker pflückte die Zigarre aus dem langen, feixenden malariagelben Gesicht.
»Ach was! Junge, der wird ja gerade erst warm!«
Mattschillerndes Licht schwamm am Saum der fliederfarbnen Nacht. Die Grenzen von Hell und Dunkel schwankten. Der Morgen ergoß sich schnell wie eine perlgraue Flut über Felder und Hänge.
Am Rand des Bürgersteigs hielt nun Dr. Tefferson Spaugh in seinem Buick-Sportmodell und stieg aus. Er zog die Handschuhe aus und staubte sich damit die Seidenaufschläge seines Smokings ab. Sein Gesicht, whiskygerötet, mit den hochsitzenden Backenknochen, war eigentlich hübsch. Sein Mund war gradlippig, grausam, sinnlich. Eine ererbte Aura von Schweiß und Maisfeld hing duftlos aber telepathisch um ihn. Er war ein akademisch zurechtgebügelter, mit Kluballüren aufgeputzter Gebirgsfarmer. Vier Jahre auf der Universität von Pennsylvanien verändern einen Menschen.
Er steckte die Handschuhe achtlos in die Rocktasche, trat ein. McGuire, schwerfällig wie ein Bär vom Barstuhl schlüpfend, glotzte ihn stier an. Dann machte er eine herausfordernde, runde Gebärde mit seinen feisten Händen.
»Na, da schaut Euch das an«, sagte er. »Weiß einer, was das ist?«
»Es ist Percy«, sagte Coker. »Du kennst doch Percy van der Gould, nicht wahr?«
»Ich hab die ganze Nacht bei den Hilliards durchgetanzt«, erklärte Spaugh elegant. »Verflucht, meine neuen Lackpumps haben mir die Füße ruiniert!« Er setzte sich auf einen Barstuhl und stellte stutzerhaft seine großen Bauernfüße, die unanständig breit und eckig in den Tanzschuhen wirkten, zur Schau.
McGuire wandte sich ungläubig an Coker: »Was hat er getan?«
»Er hat die ganze Nacht bei den Hilliards getanzt«, erklärte Coker in affektiert-ironischem Ton.
McGuire hielt sich keusch die Hand vor das bartstoppelige Gesicht.
»Drück mich aus, ich bin ein Träubchen!« rief er. »Bei den Hilliards hättest Du getanzt, Du verdammter Gebirgsbankert?! Bind uns doch keinen Bären auf! Du bist auf einem Poon-Tang-Picknick im Negerviertel gewesen!«
Gelächter aus Bullenaugen dröhnte ins perlmutterne Frühlicht.
»Lackpumps!« sagte McGuire. »Drücken ihn an den Füßen. Bei Gott, Coker, als er vor zehn Jahren zum erstenmal in die Stadt kam, da wußte er nicht, was Klosettpapier ist. Man mußte ihn zu Boden schmeißen, um ihm Schuh anzuziehen.«
Ben lachte dünn zu seinem Engel auf.
»Paar Scheiben gebutterten Toast, nicht zu braun, bitte«, bestellte Spaugh delikat beim Barkellner.
»Schweinskutteln mit Sorghum, wolltest Du sagen, Bastard! Oder Pökelfleisch mit Polenta! Wie Du's in Deiner Jugend gefressen hast«, rief McGuire.
»Wir sind zu roh für so 'nen feinen Herrn«, bemerkte Coker. »Nachdem er sich in den beßren Familien besoffen hat, ist er ein sehr begehrter Gesellschafter geworden. Sein Ruf ist so groß, daß er zur offiziellen Hebamme für alle schwangren Jungfrauen befördert wurde.«
»Ja«, sagte McGuire, »er ist der Freund aller Jungfrauen. Er hilft ihnen aus der Klemme. Er hilft ihnen nicht nur raus, er hilft ihnen auch wieder rein.«
»Ist doch wohl nichts dabei, oder doch?« fragte Spaugh, »solang die Sache unter uns bleibt, was?«
Gelächter schaukelte in den zärtlichen Tag.
»Der Ton hier wird mir zu rauh«, sagte Horse Hines neckisch und stand auf.
»Schütteln Sie wenigstens Coker die Hand, eh Sie weggehn, Horse«, mahnte McGuire. »Er ist der beste Geschäftsfreund, den Sie haben. Sie sollten ihm Prozente zahlen.«
Das Licht, das nun eindrang, war weich und unirdisch wie das Licht, das den Meeresboden bei Santa Catalina füllt, wo die großen Fische schwimmen.
Plattfüßig, von Nierenschmerzen den Rücken gebeugt, den Uniformrock offen, kam der patrouillierende Schutzmann Leslie Roberts durch das submarine Perlenleuchten geschlapst. Er blieb stehen und blickte, den Gummiknüttel leise auf dem Rücken dengelnd, mit seinem hohlen, leberkranken Gesicht durch die offne Tür.
»Da kommt Dein Patient«, sagte Coker zu McGuire, »der hartleibige Hüter der Ordnung.«
Laut, mit großer Herzlichkeit, grüßten alle:
»Wie geht's, Les?«
»So leidlich, leidlich«, sagte der Polizist trübselig wie sein tierabhängender Schnurrbart. Er schlapste knieschnacklig weiter, den Rinnstein entlang.