Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 29
Er knipste das Licht nicht an. Er haßte es, die verbogne eiserne Bettstelle zu sehn und den rohen, blasig-abgeblätterten Firnis der Kommode. Er haßte es, die Nachtfalter und Motten zu sehen, arme, geblendete Wesen, die das Licht mit staubigen Flügeln umschwärmten. Und zudem war das Licht trübe, und er haßte trübe Lichter. Er entkleidete sich im Mondlicht, das wie eine magische, überirdische Helle auf die Erde fiel. Alles Rohe und Verletzende war hinweggewischt in diesem Licht, die gemeinen und vertrauten Dinge in der Nachbarschaft hüllten sich in das Gewand des Wunderbaren. Eugen zündete eine Zigarette an, beobachtete den roten Glutpunkt im Spiegel, trat ans Geländer der Altane und sah auf den Garten hinaus. Plötzlich wurde er gewahr, daß Laura James, aus nicht ganz drei Meter Entfernung, ihn beobachtete. Sie starrten einander an in diesem elfenhaften Licht. Sie sprachen nicht, sie warteten auf ein Zeichen. Dann sprach sie: sie wisperte seinen Namen; es war nur wie die Ahnung eines Lauts. Er schwang seine Beine übers Geländer, streckte seinen langen Leib aus und machte einen Satz wie eine Katze. Er faßte die Schwelle ihres Fensterrahmens. Sie zog scharf den Atem ein, rief leise: »Nein, nein«, aber sie empfing ihn am Fenster und hielt seine Arme fest, während er sich hochzog.
Sie umarmten einander und küßten sich viele Male. Ihr süßes, gelöstes Haar fiel auf ihre Schultern; sie trug kleine, grüne Höschen. Sie standen, die kühlen, jungen Glieder festverschlungen, im Mondlicht. Die Leidenschaft, die seinen Körper straffte, war von einer religiösen Ekstase beherrscht; er wollte sie an sich halten, und gleichzeitig drängte es ihn, allein zu sein, zu fliehn, um über sie nachzudenken.
Er bückte sich, faßte sie unter den Knien und hob sie jubelnd auf seinen Armen hoch. Sie sah ihn ängstlich an, klammerte sich fester an ihn.
»Was tust Du denn?« flüsterte sie. »Bitte, tu mir nicht weh!«
»Ich werde Dir nicht weh tun, Liebe«, sagte er. »Ich werde Dich zu Bett bringen. Ja, zu Bett werde ich Dich bringen, hörst Du?«
Ihm war, als müsse er aufschreien vor Freude.
Er trug sie zu ihrem Bett. Dann kniete er neben ihr nieder, umschlang sie, preßte sie an sich.
»Guthacht, Liebste, Gutnacht! Gib mir 'nen Gutnachtkuß. Liebst Du mich?«
»Ja.« Sie küßte ihn. »Gutnacht, Liebster. Klettre nicht zum Fenster raus. Du könntest fallen.«
Aber er stieg durchs Fenster und sprang zu seiner Altane herüber. Lange Zeit lag er wach, in einem stillen Fieber. Sein Herz schlug hart an die Rippen. Allmählich kroch der warme Schlummer über ihn. Das junge Platanenlaub rauschte, ganz fern krähte ein Hahn, das Gespenst eines Hundes heulte. Er schlief.
Er erwachte, als die heiße, helle Sonne auf das zeltne Schirmdach der Schlafaltane prallte. Er haßte es, im Sonnenlicht aufzuwachen. Später einmal würde er in einem großen Raum schlafen, immer kühl und dunkel, vorm Fenster Bäume und Kletterpflanzen oder die Einbuchtung einer Bergwand. Er zog sich an, seine Kleider waren noch feucht vom Nachttau. Als er herunterkam, fand er Gant auf der Terrasse. Der Alte sah elend aus; er wippte müde in einem Schaukelstuhl, die Hand auf der Krücke des Spazierstocks, mit dem er den Stuhl in Bewegung setzte.
»Guten Morgen«, sagte Eugen. »Wie geht's?«
Gant stöhnte. Seine Augen flackerten unbehaglich.
»Barmherziger Gott! Ich werde für meine Sünden gestraft.«
»Es wird bald wieder besser werden«, sagte Eugen. »Hast Du gefrühstückt?«
»Ich konnte nichts runter kriegen, der Bissen blieb mir im Hals stecken«, behauptete Gant, der mächtig gefuttert hatte. »Und wie steht's mit Deiner Hand, Sohn?« fragte er demütig.
»Ach das? Ganz in Ordnung«, sagte Eugen. »Wer hat Dir denn etwas davon gesagt?«
»Sie hat es gesagt. Sie behauptet, ich hätte Dich an der Hand verwundet«, sagte Gant bekümmert.
»Ach was! Nein!« sagte Eugen geärgert. »Nicht der Rede wert. Nur 'ne Schrunde.«
Gant lehnte sich zur Seite. Ohne aufzublicken tätschelte er die unverletzte Hand seines Sohns.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich bin ein kranker Mann. Brauchst Du Geld?«
»Nein«, sagte Eugen verlegen. »Ich hab alles, was ich brauche.«
»Komm heut mal rauf auf mein Büro, dann werd ich Dir Geld geben«, sagte Gant. »Armer Junge, ich befürchte, Du bist nicht gut gestellt.«
Statt dessen wartete Eugen, bis Laura James von ihrem morgendlichen Besuch im städtischen Schwimmbad zurückkehrte. Sie kam, den Badeanzug in der einen und verschiedne kleine Päckchen in der andren Hand. Weitere Pakete trafen ein. Sie bezahlte die schwarzen Lieferjungen und unterschrieb die Empfangsbestätigungen.
»Du mußt 'nen Haufen Geld haben, Laura«, sagte er. »Du kaufst Dir fast täglich Sachen, nicht wahr?«
»Mein Papa schlägt manchmal Krach«, gestand sie. »Aber ich kaufe so gern Kleider. Ich gebe mein ganzes Geld für Staat aus.«
»Was hast Du nun vor?«
»Nichts – was Dir paßt. Es ist so ein schöner Tag, um etwas zu unternehmen, nicht?«
»ja, ein herrlicher Tag zum Nichtstun. Möchtest Du einen großen Spaziergang machen, Laura?«
»Mit Dir! Furchtbar gern!« sagte Laura James.
»Das ist ein Gedanke, mein Mädchen! Das ist ein Gedanke!« mimte er in burlesker Begeisterung. »Wir werden allein irgendwohin pilgern, und wir werden was zu essen mitnehmen«, fügte er gelüstig hinzu.
Laura ging auf ihr Zimmer, um sich ein Paar festere Schuhe anzuziehn. Eugen ging in die Küche.
»Hast Du 'ne Schuhschachtel für mich?« fragte er Eliza.
»Wozu?« fragte sie mißtrauisch.
»Ich muß auf die Bank, und da brauch ich 'ne große Schachtel, um meine Ersparnisse zu transportieren«, bemerkte er ironisch. Dann aber sagte er freimütig: »Ich geh auf 'nen Picknick.«
»Huh? Hah? Was sagst Du da?« sagte Eliza. »Picknick? Mit wem? Mit dem Mädchen?«
»Nein, nein«, tat er wichtig, »mit Präsident Wilson, dem König von England und Deinem Freund, dem Chininkönig Doktor Doak. Wir wollen 'ne Limonade zusammen trinken, und ich hab versprochen, die Zitronen mitzubringen.«
»Ich kann es beschwören, Junge«, quengelte Eliza, »das gefällt mir gar nicht, daß Du so einfach fortläufst, wenn ich Dich brauche. Du solltest für mich auf die Bank einzahlen gehn, und die Telephonrechnung solltest Du erledigen. Die Leute werden mir den Apparat sperren, wenn ich das Geld nicht heute schicke.«
»O Mama, um Gottes willen!« rief er aus. »Du brauchst mich immer dann, wenn ich mal weggehn möchte. Laß die Leute mal warten, einen Tag noch können sie sich wirklich gedulden.«
»Ei, aber die Telephonrechnung ist ja längst fällig!« murrte sie. »Nun denn, da ist also eine.« Sie fischte eine Schuhschachtel aus dem Gerümpel, das auf dem obersten Brett eines eingebauten Küchengestells herumlag.
»Hast Du was zu essen?«
»Das werden wir besorgen«, sagte er und ging.
Sie gingen den Hügel hinunter und traten in den kleinen Kramladen an der Woodson Street, unterhalb von Gants Haus. Sie kauften Salzkeks, Weißmehlhartback, Erdnußbutter, Johannisbeergelee, Pickels in Flaschen und eine große Scheibe fetten, gelben Käse. Der alte Jude murmelte etwas in seinen Rabbinerbart; es klang wie ein Zauber gegen den Dybbuk. Eugen paßte auf, daß der Alte mit seinen schmutzigen Händen die Speisen nicht anrührte.
Auf ihrem Weg bergan verweilten sie ein paar Minuten in Gants Haus. Helene und Ben waren im Speisezimmer. Ben frühstückte gerade. Stirnrunzelnd trank er seinen Kaffee. Wie gewöhnlich verschmähte er Speck und Eier; er wandte sich fast angeekelt davon ab. Helene bestand darauf, belegte Brote und hartgesottne Eier zum Picknickvorrat beizusteuern. Die beiden Frauen gingen in die Küche. Engen setzte sich zu Ben und trank eine Tasse Kaffee.
»O-o mein Gott!« sagte Ben, verdrossen gähnend. Er zündete eine Zigarette an. »Wie geht's dem Alten heut morgen?«
»Er ist soweit in Ordnung, scheint mir. Er konnte zum Frühstück nicht essen, behauptet er.«
»Hat er was zu den Kostgängern gesagt?«
»Ja. Er nannte sie verdammte Schufte, Bankerte aus dem Gebirg oder so was.«
Ben kicherte leis.
»Hat er Dich an der Hand verletzt? Zeig mal!«
»Nein. Nichts zu sehn. Nur 'ne Schrunde«, sagte Eugen und hob das verbundne Handgelenk.
»Er hat Dich nicht geschlagen, oder doch?« fragte Ben streng.
»Nein, natürlich nicht. Er war halt besoffen. Und heut früh tat es ihm leid.«
»Ja«, sagte Ben, »es tut ihm immer leid, nachher, wenn er die ganze Hölle heraufbeschworen hat.«
Er rauchte tiefe Lungenzüge mit einer Hingabe, als wäre der Tabakrauch ein mächtiges, betäubendes Rauschgift für ihn.
»Wie ist's Dir eigentlich diesmal auf der Universität ergangen?« fragte er alsbald.
»Mit dem Arbeiten gut. Bei den Abschlußprüfungen hab ich tadellos abgeschnitten«, sagte Eugen. Es fiel ihm schwer zu antworten. »Oder meinst Du das andre? Nun, in diesem Frühjahr ging es besser als am Anfang.«
»Du meinst als letzten Herbst?«
Eugen nickte.
»Was war eigentlich los?« fragte Ben, die Braue finster gerückt. »Haben Dich die anderen aufgezogen?«
»Ja«, gestand Eugen kleinlaut.
»Warum?« fragte Ben wild. »Dachten sie, Du wärst nicht gut genug für sie? Haben sie Dich von oben herab behandelt? Oder was war's?«
»Nein«, sagte Eugen. Er war über und über errötet. »Das hatte gar nichts damit zu tun. Ich glaub, ich sehe komisch aus. Verstehst Du? Mir scheint, daß ich ihnen komisch vorkomme.«
»Was soll denn das?« sagte Ben aufgebracht. »Du siehst doch anständig aus, wenn Du nicht gerade wie ein Stromer herumläufst. In Gottes Namen!« rief er ärgerlich, »wann hast Du Dir das letzte Mal die Haare schneiden lassen? Bildest Du Dir vielleicht ein, Du wärst der Wilde Mann aus Borneo?«
»Ich kann Friseure nicht ausstehn!« sagte Eugen wütend. »Deswegen! Widerlich, wenn sie einem mit ihren dreckigen Fingern um den Mund rumfahren! Wen geht's denn was an, wenn ich mir das Haar nicht schneiden lasse?«
»Ein Mann wird nach seinem Äußeren beurteilt«, erklärte Ben einsichtsvoll. »Ich habe vor kurzem in der Saturday Evening Post einen Artikel von einem führenden Businessman gelesen. Er sagte, daß er einem Kerl immer erst aufs Schuhwerk guckt, eh er ihn einstellt.«
Bens Stimme wurde seicht und flach; er sprach diese bewundernswürdigen Meinungen ernst und zögernd und ohne rechte Überzeugung aus, ganz so wie er las. Eugen krampfte sich das Herz zusammen, als sein stolzer Kondor das schale Gerede gerissener Millionäre nachplapperte, als wäre er ein gelehriger Papagei in einer Jahrmarktsbude. Ben ließ nun eine Predigt vom Stapel, darüber, wie es ein junger Mann vorwärts bringen könne. Es lag etwas Rührendes in seiner Bemühung. Es war, als suche er mit wunden, geblendeten Augen hinter all dem eine Lösung auf ein Rätsel, die er nicht finden könne. Der Geist eines Fremdlings, eines Einsamen suchte da Annäherungswege und Zugänge zum Leben, zum Erfolg, zur Geselligkeit, zur Stellung. Es war, als säße in Groß-New-York ein lombardischer Einwanderer und versuchte, die Neue Welt zu enträtseln, indem er den Weltalmanach Buchstaben um Buchstaben entzifferte. Es war, als versuche ein Holzfäller, der mitten im Winter in seiner Hütte eingesperrt sitzt, die Symptome und Heilmittel gegen eine furchtbare, dunkle Krankheit, die ihn angefallen hat, in einem Handbuch für Hauskuren zu finden.
»Hat Dir der Alte Geld genug geschickt?« fragte Ben. »Konntest Du Dich neben den andern halten? Du weißt, er kann sich's leisten. Er braucht weiß Gott nicht zu knausern. Sieh zu, daß er mit den Dollars rausrückt!«
»Ich hatte genug zum Auskommen«, sagte Eugen.
»Jetzt ist die Zeit, jetzt brauchst Du Geld! Nicht später!« erklärte Ben. »Sieh ja zu, daß er für Deine Ausbildung aufkommt. Wir leben im Zeitalter der Spezialisation. Überall werden Leute gebraucht, die eine Universität absolviert haben.«
»Ja«, sagte Eugen. Gehorsam, gleichgültig. Die stereotypen Weisheiten prallten an ihm ab. Das sprachlose, das andere Ich sah.
»Also, es kommt für Dich darauf an, daß Dir eine gute Ausbildung zuteil wird. Alle großen Männer – Ford, Edison, Rockefeller – gleichgültig, ob sie selber studiert haben oder nicht, sagen, daß es einem im Leben hilft.«
»Warum bist Du nicht selber gegangen?« fragte Eugen neugierig.
»Ich hatte niemanden, der mich drauf aufmerksam machte«, erklärte Ben. »Außerdem hätte mir der Alte kein Geld gegeben. Und jetzt ist's zu spät.«
Er schwieg eine Weile, rauchte.
»Weißt Du eigentlich, daß ich einen Kursus für Reklametechnik nehme?« fragte er grinsend.
»Nein. Wo denn?«
»Durch die Korrespondenzhochschule«, sagte Ben. »Jede Woche kriege ich meine Aufgabe. Ich weiß nicht«, – gestand er merkwürdig lachend, so als ob er sich schäme, davon zu berichten, »aber ich muß ziemlich begabt sein. Ich kriege jedesmal glänzende Zensuren, achtundneunzig oder hundert Punkte. Ich krieg ein Diplom, wenn ich den Kurs beende.«
Dem jüngeren Bruder wurde es schwarz vor den Augen. Er wußte nicht warum. Etwas schnürte ihm die Kehle zu. Er senkte den Kopf und suchte in seinen Taschen nach Zigaretten. Schließlich bemerkte er:
»Ich freu mich drüber, Ben. Hoffentlich beendest Du den Kurs.«
»Weißt Du«, erklärte Ben ernsthaft, »aus dieser Korrespondenzhochschule sind ein paar glänzende Geschäftsleute hervorgegangen. Ich kann Dir mal schwarz auf weiß Bestätigungen zeigen. Tatsächlich, Männer, die mit nichts anfingen und nun große Gehälter als Reklamechefs beziehn.«
»Hoffentlich glückt's Dir auch«, sagte Eugen.
»Na siehst Du«, sagte Ben grinsend, »Du bist nicht der einzige Hochschüler in der Familie.« Er schwieg und rauchte. Dann sagte er plötzlich grimmig ernst: »Du bist die letzte Hoffnung, Eugen. Wir anderen werden es nie zu was bringen. Sieh zu, daß Du die Universität absolvierst, und wenn Du das Geld stehlen mußt. Trag Deinen Kopf hoch! Laß Dich nicht unterkriegen! Du taugst mehr als diese lächerlichen Knirpse von Studenten, die hier in den Ferien rumlaufen.« Aufgeregt sprang er auf. »Laß Dich nicht von diesen Kerlen auslachen! Nimm das erste verdammte Ding, das Dir zur Hand kommt, und schmeiß es ihnen in die Fresse. Verstanden?!« In seiner Wut ergriff er das Tranchiermesser, das auf dem Tisch lag, und schwang es durch die Luft.
»Ja«, sagte Eugen verlegen. »Jetzt geht's schon. Am Anfang hab ich eben nicht Bescheid gewußt.«
»Du bist hoffentlich verständig genug, die alten Säue allein zu lassen«, sagte Ben streng. Eugen antwortete nicht. »Man kann sich nicht mit Huren abgeben und zu was taugen, verstehst Du? Und außerdem kann man sich alle möglichen Krankheiten dabei holen.« Er schwieg. Dann sagte er ganz ruhig. »Das Mädchen da sieht immer sehr nett aus. Aber um Gottes willen, richte Dich anständig und sauber her! Frauen, weißt Du, merken so was. Saubere Fingernägel, gebügelte Anzüge. Hast Du Geld?«
»Alles, was ich brauche«, sagte Eugen mit einem nervösen Blick nach der Tür. »Laß doch, um Himmels willen, laß doch!«
»Steck das ein, kleiner Schafskopf«, sagte Ben ärgerlich und drückte ihm einen Geldschein in die Hand. »Geld kann man immer brauchen. Heb es auf, bis Du's nötig hast.«
Aber die Berge waren herrlich! Nach Westen zu aufgebaut, eine natürliche Festung. Planvoll. Drunten lag die Stadt auf dem Plateau, ein unsinnig hingebreitetes, gespreiztes Wirrsal von Baulichkeiten. Planlos. Da war nichts, was der Zeit widerstehen konnte. Nichts. Keine Idee dahinter. Ach, dachte Eugen, die siebte Schicht von oben war das Troja, wo Helene lebte; drum grub Schliemann es aus.
Sie stiegen weiter bergan, gingen über den Bergsattel. Sie blickten zurück auf die weiße Straße, die sich in Korkzieherkurven an der Hügelflanke hochwand. Der Wald fing an.
Der Tag war wie Gold und Saphire. Über das Land flog ein huschiges Blitzen und Blinken, es war, wie wenn die Sonne auf grüner, bewegter See blitzt und blinkt. Ein warmer Sommerwind blies. Er klang in den Blumen, sang im Gras. Er jagte dahin, und die Erde stöhnte unter ihm wie Demeter, die weise und liebende, die hochbrüstige, mächtige, schwangre Göttin stöhnt. Ein Hund bellte im Tal, im Wind zerschellte der Laut. Kuhglocken läuteten. Im dichten Wald, der nun unter ihnen lag, flöteten und zwitscherten die Vögel. Ein Specht hämmerte am Stamm einer vom Blitz zerspellten Kastanie. Der blaue Golf des Himmels war überweht mit lichten, bauschigen Wolken, einer Flotte schneller Galeeren, die ihren fliehenden Schatten auf die Berge warfen.
Eugen war blind vor Liebe und Verlangen. Der Becher seines Herzens war voll des Wunders und schäumte über. Es überfiel ihn und machte ihn schwach. Er griff nach Lauras kühler Hand. Sie standen zusammen, Bein an Bein, als wären sie einander ins Fleisch genietet.
Sie gingen nun ein Stück bergab, auf das kleine nächste Tälchen zu. Der Wald war wie eine hochgewölbte, grüne Kirche. Die Vogellaute fielen wie Pflaumen. Ein großer Falter mit blausamtnen, gold- und scharlachgestreiften Flügeln schwebte durch die Sonnenkringel und taumelte schließlich auf einen blühenden Hundsholzbusch. Rechts und links von dem schmalen Abkürzungspfad, aus dem dichten Unterholz kamen schnell wie Kugelschatten die kleinen, hurtigen Geräusche von flitzenden Vögeln. Eine Ringelnatter, grüner als nasses Moos, nicht länger als ein Schuhband und nicht dicker als der kleine Finger einer Frau, schoß über den Pfad, die kleinen Augen hellrot vor Entsetzen, die winzige, gespaltne Zunge vorgeschnellt wie ein elektrischer Funke. Laura schrie auf. Eugen griff nach einem Stein, von einer jähen Lust gepackt, das kleine Geschöpf zu vernichten. Die alte Schlangenfurcht überkam sie, wie etwas Schönes, Furchtbares, Übernatürliches. Die Natter verschwand im Gebüsch. Eugen ließ beschämt den Stein fallen. »Sie tun Dir nichts«, sagte er.
Sie gingen weiter, traten aus dem Wald, trafen oberhalb des lieblichen Bergtals auf die Straße. Dieses Bergtal erweiterte sich gegen Süden in ein reiches Eden aus Feld- und Weideland. Kleine Häuser lagen verstreut in der Wanne. Grüne Wiesen leuchteten, von Wasser durchglänzt. Weizensaat wellte rhythmisch im Wind. Hüfthoch stand der junge Mais mit den hellen, aneinander raschelnden Halmen. Die Schornsteine von Pap Reinharts Vaterhaus lugten aus einer dunklen Plantagengruppe hervor. Die fetten Kühe der Molkereifarm grasten langsam auf den weiten Triften. Und weiter unten im Baum- und Buschversteck lagen die üppigen Äcker von Judge Webster Tayloes Gut Lunns Cove. Die Straße war mit einer weißen Staubdecke dicht belegt, sie wand sich auf die Talsenke, kreuzte einen Bach. Ins Bachbett waren große, weiße Wackersteine gelegt; von Stein zu Stein setzend sprangen sie hinüber. Ein junger Bursch fuhr vorbei, die Milchkannen schepperten auf seinem Wagen. Er grüßte mit einer langsamen Armgebärde, ein freundliches Grinsen im sonnverbrannten Gesicht. Eine Frau auf einem Acker richtete sich auf und starrte, die Augen mit der Hand beschattend, zu ihnen herüber. In einer Wiese mähte ein Mann mit blinkender Sense das hohe Gras, wie ein zorniger Gott, der seine Feinde fällt.
Sie gingen ein Stück am Rand der Talmulde entlang, bogen von der Straße ab, stiegen wieder bergan, gingen durch pfadloses, offnes Gelände, durch starkriechendes Ampferkraut und stachliges Klettengestrüpp, kamen zu einer Wiese am Waldrand, bachdurchflossen, goldgelb besprengt von duftendem Löwenzahn.
»Laß uns hier rasten!« schlug Eugen vor.
Sie lagen nebeneinander im hohen Gras. Sie lagen auf dem Rücken und blickten durch lichtgrünes Gezweig in den südmeerblauen Himmel mit den treibenden Wolkenflotten. Der nahe Bach rauschte wie die Stille. Die Stadt lag jenseits des Bergs in einer andern, unvorstellbaren, völlig vergeßnen Welt.
»Wie spät ist's?« fragte Eugen. Denn sie waren dorthin gekommen, wo es keine Zeit mehr gibt. Laura sah auf ihre Armbanduhr. Ihr wunderbares Handgelenk.
»Ei!« rief sie überrascht aus, »erst halb eins!«
»Was frag ich nach der Uhr«, sagte er heiser, faßte ihre schöne Hand und küßte sie. Ihre langen, kühlen Finger umschlossen seine Hand. Sie zog sein Gesicht an ihren Mund.
Sie lagen umschlungen auf dem paradiesischen Zauberteppich. Ihre grauen Augen waren tiefer und klarer als ein klarer Teich, er küßte die Sommersprossen ihrer zarten Haut, er starrte verehrungsvoll auf ihre kecke Stupsnase. Er beobachtete das Spiel des Lichts, der tanzenden Sonnenkringel und des widerspiegelnden Scheins der Bachkaskade auf ihrem Gesicht. Die ganze zaubrische Welt – Blumen und Feld und Himmel und Wald und Berg und die süßen Laute und die Augenglücke und die Düfte der Erde – sie wuchs in ihn hinein, wurde eine einzige Stimme in seinem Herzen, eine Sprache in seinem Hirn, harmonisch, strahlend und ganz – ein einziger, leidenschaftlicher, lyrischer Laut.
»Liebste, Süßeste, entsinnst Du Dich noch an gestern nacht?« fragte er zärtlich, als ob er Kindheitserinnerungen auskramte.
»Ja«, sagte sie und umhalste ihn, »glaubst Du, ich könnte es vergessen?«
»Weißt Du noch, worum ich Dich bat?« forschte er inständig weiter.
»Ach, was können wir nur tun? Was können wir nur tun?« stöhnte sie leis. Sie wandte ihr Gesicht ab, schlug einen Arm vor die Augen.
»Was ist?! Was ist los, Liebe?«
»Eugen, mein Lieber, Du bist ja nur ein Kind! Und ich bin eine erwachsne Frau.«
»Du bist erst einundzwanzig«, sagte er. »Das sind fünf Jahre Unterschied. Das ist nichts.«
»Ach«, sagte sie. »Du weißt nicht, wovon Du sprichst. Es ist ein Riesenunterschied.«
»Wenn ich zwanzig bin, wirst Du fünfundzwanzig sein; wenn ich sechsundzwanzig bin, wirst Du einunddreißig sein; wenn ich achtundvierzig bin, wirst Du dreiundfünfzig sein. Was macht das? Nichts! Nicht das geringste!« sagte er verächtlich.
»Alles in der Welt!« sagte sie. »Alles! Wenn ich sechzehn wäre und Du einundzwanzig, dann machte es nichts. Aber Du bist ein Junge, und ich bin eine Frau. Wenn Du ein junger Mann sein wirst, werde ich 'ne alte Jungfer sein; wenn Du alt wirst, werde ich am Sterben sein. Wie kannst Du wissen, was Du in fünf Jahren treiben wirst? Du hast gerade auf der Universität angefangen. Du hast keine Pläne. Du weißt noch nicht, was Du mit Deinem Leben anfangen willst.«
»Ja, ja, das weiß ich sehr wohl!« gellte er wütend. »Ich werde Jurist und geh in die Politik. Vielleicht …« fügte er mit düstrem Vergnügen hinzu, »wird es Dich dann gereuen, wenn ich mir einen Namen gemacht habe!« Bitter-freudig sah er seine einsame Berühmtheit voraus. Gouverneurspalast. Vierzig Zimmer. Allein. Allein.
»Also Du wirst Jurist werden, schön«, sagte Laura. »Und Du wirst die ganze Welt bereisen. Und ich soll dasitzen und auf Dich warten, und heiraten soll ich auch nie. Armer kleiner Junge!« Sie lachte leis. »Du weißt ja gar nicht, was Du vorhast.«
Er sah sie an, Verzweiflung und Elend im Gesicht. Die Sonne hatte ihren Glanz verloren.
»Und Dir ist es gleich!« würgte er hervor. »Und Dir ist es gleich!« Er wandte sein Gesicht weg. Sie sollte nicht sehn, daß Tränen in seinen Augen standen.
»Ach Du Lieber, Du Liebster! Mir ist es gar nicht gleich. Mir macht es ungeheuer viel aus. Aber das Leben ist anders, als Du denkst. Nicht so romanhaft. Was Du Dir da vorstellst, klingt wie eine schöne Geschichte. Siehst Du denn nicht, daß ich eine erwachsene Frau bin? In meinem Alter, mein Lieber, denken die Mädchen meistens ans Heiraten. Was war, wenn ich auch dran dächte?«
»Heiraten!« Das Wort fuhr ihm aus dem Mund, aus dem gähnenden, klaftertiefen Abgrund seines Entsetzens, als hätte sie das Abscheulichste beim Namen genannt, das Unaussprechlichste vorgeschlagen. Dann faßte er sich. Da sie das Ungeheure erwähnt hatte, nahm er es ohne weiteres als eine Tatsache hin. Er war so.
»So! Das ist's!« tobte er zornig. »Du willst heiraten! Aha! Du hast Kerle, was? Du gehst mit ihnen aus, was? Und Du weißt das die ganze Zeit und hältst mich zum Narren!«
Nackt, Brust an Brust rang er mit dem Schrecken. Er geißelte sich. Er erfuhr in diesem Augenblick, daß die ganze, gräßliche, fratzenhafte Grausamkeit des Lebens nicht im Entlegnen und Phantastischen, sondern im Einfachen, alltäglich Möglichen liegt … im Entsetzen der Liebe, des Verluste, des Heiratens, den neunzig Sekunden Verrat im Dunklen.
»Du hast Kerle, was? Sie dürfen Dich anfassen. Sie streicheln Deine Beine, tasten Deine Brüste ab, sie …« Es verschlug ihm die Stimme, so sehr würgte der Schmerz.
»Nein! Aber nein! Lieber! Das hab ich doch gar nicht gesagt!« Sie richtete sich auf und faßte seine beiden Hände. »Es ist doch nichts Außergewöhnliches, daß man sich verheiratet. Die meisten Menschen tun es. Aber mein Lieber! Mach doch so kein verzweifeltes Gesicht! Nichts ist geschehn! Nichts! Nichts!«
Er umarmte sie wild. Er konnte nicht sprechen. Er begrub sein Gesicht an ihrem Hals.
»Laura! Liebste! Süße! Laß mich nicht allein! Ich bin allein gewesen, ich bin immer allein gewesen!«
»Allein sein, das willst Du doch, mein Lieber. Du wirst immer allein sein wollen. Anders könntest Du das Leben überhaupt nicht ertragen. Du würdest meiner bald müde werden. Unendlich müde. Du wirst vergessen, daß Du mich je gekannt hast. Vergessen, vergessen.«
»Vergessen!! Ich werde nie vergessen! Dazu werd ich nicht lang genug leben.«
»Und ich werd nie einen andern lieben! Und Dich nie verlassen. Und immer auf Dich warten! Ach, Du Kind, Du Kind!«
Sie umschlangen einander im Wunder dieses strahlenden Augenblicks, hier auf dieser verzauberten Insel, wo die Welt so still war. Sie glaubten alles, was sie sagten. Und wer könnte behaupten – welche Entzauberung auch immer gefolgt sein mag –, daß wir je der Verzauberung vergäßen! Daß wir auf dieser bleiernen Erde je des Apfelbaums, der Lieder und des Golds vergäßen? Fern, jenseits dieses zeitlosen Tals pfiff schrill und gespenstisch ein Zug, der nach Osten fuhr. Wie eine bunte Rauchsäule, wie das Wrack einer Wolke trieb das Leben dahin. Ihre Welt ward wieder eine einzige, singende Stimme. Sie waren jung und würden nicht sterben. Dies würde ewig dauern.
Er küßte sie auf die leuchtenden Augen. Er verwuchs mit ihrem jungen Mänadenleib, sein Herz schlug köstlich an ihre schmalen, festen Brüste. Sie war sanft und schmiegsam wie eine Weidengerte in seiner Hand. Sie war schnell wie ein Vogel, huschender noch als die tanzenden Lichter auf ihrem Gesicht. Er hielt sie fest. Ganz fest, damit sie sich nicht wieder in einen Baum verwandle oder im Wald verschwände wie Rauch.
Komm in die Berge, o meine junge Liebe. Kehre zurück. O verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück, so wie ich Dich einst kannte im zeitlosen Tal, daß wir einander wieder spüren, im Zauber des Juni gebettet. Da war ein Platz, wo alle Sonne in Deinem Haar glänzte, und oben auf den Bergen hätten wir einen Stern mit dem Finger greifen können. Wo ist jener Tag, der in einen einzigen vollen Laut zusammenschmolz? Wo ist die Musik Deines Fleisches, der Reim der Zahnreihen, die klare Sehnsucht Deiner Beine, wo sind die jungen, kleinen, festen Arme mit den schlanken Fingern, Fleisch, in das man beißen konnte wie in einen Apfel? Wo die beiden Kirschen Deiner weißen Brust? Wo all die langen Strähnen Deines feingesponnenen Mädchenhaars? Schnell taut sich der Rachen der Erde auf, schnell malmen die Zähne, die am Lieblichen zehren. Die Du für Musik gemacht warst, Du wirst keine Musik mehr hören; um Dein dunkles Haus schweigen die Winde. Gespenst, Gespenst, kehre zurück aus dieser Heirat, nicht ins Leben, sondern in den Zauber, in dem wir nie gestorben sind, in den verwunschenen Wald, in dem wir noch immer liegen im hohen Gras! Komm in die Berge, o meine junge Liebe! Kehre zurück! O Du verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!