Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 33

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»Warum sprichst Du nicht mit Mama darüber?« sagte sie gereizt. »Auf mich hört sie ja nicht. Sag ihr genau das! Du hast ja gehört, wie sie es dem alten, armen Papa unter die Nase gerieben hat, nicht wahr? Glaubst Du, der Alte – krank wie er ist – wäre dran schuld? Eugen ist ja gar kein Gant, er schlägt in ihre Familie. Er ist ein Querkopf, wie alle Pentlands. Wir, wir sind die Gants«, erklärte sie mit bitterm Nachdruck.

Eugen tat vielfache Buße für seinen Fehltritt. Die Nachwehen gingen ihm entsetzlich auf die Nerven. Er zählte die Stunden bis zu seiner Abreise, beherrschte sich, war wie ein Stier unterm Joch, schwieg still.

Er wandte sich an Ben. Und das hätte er nicht tun sollen. Ben, tief unzufrieden mit sich selbst, verschlossen, verbissen, gepeinigt, zur Verzweiflung getrieben und von Selbsthaß aufgerieben, tadelte ihn bitter und scharf. Es war unerträglich. Eugen kam sich verraten und betrogen vor, so anmaßend, aufsässig und vorwurfsvoll begegnete ihm Ben.

Drei Tage vor seiner Abreise abends im Empfangszimmer kam es zum Ausbruch. Ben hatte ihm fast eine Stunde lang in wildem Monoton Vorhaltungen gemacht, offenbar in der Absicht, ihn zum Angriff zu reizen. Eugen, kochend vor Wut, hatte an sich gehalten und ihn angehört.

»…und stell Dich nicht so hin, Du kleiner Gauner, und stier mich an. Ich sag Dir alles zu Deinem Besten, damit kein Zuchthausvogel aus Dir wird.«

»Dir fehlt es einfach an Erkenntlichkeit«, sagte Lukas. »Du merkst nicht, was alles für Dich getan wird. Für Dich wird jedes Opfer gebracht, und Du siehst es nicht einmal ein. Die Universität hat Dich ruiniert.«

Eugen wandte sich langsam an Ben.

»Jetzt ist's genug, Ben«, erklärte er mit äußerster Beherrschtheit. »Was der Lukas da quatscht, ist mir schnuppe, aber von Dir hab ich jetzt genug gehört.«

Darauf hatte Ben gewartet. Sie waren alle furchtbar aufeinander geladen.

»Spiel Dich nicht so auf, Du Tropf, oder ich schlag Dir den Schädel in Stücke!«

Fauchend wie eine Katze fiel Eugen über Ben her. Er packte ihn, hob ihn hoch und legte ihn glatt zu Boden, als wäre er ein Kind. Ben war so schwach und zerbrechlich, daß sich Eugen augenblicklich seiner körperlichen Überlegenheit schämte. Seine Wut war schon halb verflogen, als Lukas, aufgeregt quietschend, ihn hinterrücks anfiel. Lukas strangulierte Eugen am Hals und schlug mit der andern Hand tölpisch auf ihn ein.

»Pack ihn b-b-bei den B-b-beinen, B-b-ben!« stotterte Lukas.

Eine wüste Rauferei entwickelte sich. Der Radau umfallender Stühle und Feuergeräte brachte Eliza sofort an die Tür.

»Barmherzigkeit!« schrie sie, »sie bringen ihn um!«

Eugen fauchte und schlug um sich wie ein Irrsinniger. Obgleich er überwältigt wurde, hielt er sich gut, oder in der stolzen Sprache des alten Südens ausgedrückt: Er unterlag, wurde aber nicht geschlagen.

Dann, als es vorbei war, und er wieder sprechen konnte, sagte er ruhig, das Beben in seiner Stimme bemeisternd:

»Es tut mir leid, Ben, daß ich Dich angefallen habe. Du«, – er wandte sich an den aufgeregten Seemann, – »hast Dich hinterrücks über mich hergemacht wie ein Feigling. Aber trotzdem – was vorgefallen ist, tut mir leid. Auch mein Benehmen am Weihnachtsabend tut mir leid; ich habe es deutlich und oft genug gesagt, aber Ihr konntet die Sache nicht ruhen lassen. Und Du, Ben, hast alles getan, um mich mit Deinen Reden zum Äußersten zu bringen. Ich hätte es nicht«, – keuchte er – »nein, ich hätte es nie für möglich gehalten, daß Du mich so im Stich lassen könntest. Daß die andern mich hassen, das weiß ich …«

»Dich hassen!« schrie Lukas aufgeregt. »Um Go-go-gottes willen, Du bist nicht bei Trost! Wir geben uns alle Mühe zu Deinem Besten, wir wollen Dir helfen, weiter nichts. Warum sollten wir Dich hassen?«

»Ja, Du haßt mich!« sagte Eugen, »und Du schämst Dich, es einzugestehn. Ich weiß nicht, warum Du mich haßt, aber es ist Tatsache. Du hast Angst, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen.« Er wandte sich wieder anklagend an Ben: »Mit Dir, Ben, ist es ganz anders. Wir sind immer wie Brüder zueinander gestanden, und nun hast Du Dich auf die Gegenseite geschlagen.«

»Ach was!« knurrte Ben und wandte sich nervös ab. »Du bist verrückt. Ich weiß überhaupt nicht, wovon Du sprichst.« Er zündete eine Zigarette an, das Zündholz flackerte in seiner zitternden Hand.

»Kinder, Kinder!« sagte Eliza kummervoll. »Wir müssen versuchen, einander zu lieben. Es kann das letzte Mal sein, daß wir alle beisammen sind.« Sie fing an zu weinen. »Ich hab so ein schweres Leben gehabt, nichts wie Kampf ums Dasein und Plackerei, und ich verdiene wirklich ein bißchen Glück und Frieden.«

Die alte, bittre Scham voreinander befiel sie. Sie konnten sich nicht in die Augen sehn. Und die ungeheure, rätselhafte und schmerzliche Verwirrung, die an ihrem Leben riß, machte sie bedrückt und still.

»Kein Mensch, Eugen«, begann Lukas ruhig, »hat sich gegen Dich gestellt. Wir wollen Dir einfach helfen, damit was Rechtes aus Dir wird. Die letzte Möglichkeit steht bei Dir. Wenn der Alkohol die Macht über Dich bekommt, die er über uns andre bekommen hat, dann bist Du verloren.«

Eugen war sehr erschöpft. Seine Stimme klang matt und leise. Er sprach aus stumpfer Verzweiflung. Was er sagte, hatte eine unbestreitbare Endgültigkeit.

»Und wie willst Du es verhindern, Lukas, daß der Alkohol die Macht über mich bekommt? Etwa dadurch, daß Du mich hinterrücks anfällst und mich strangulierst? Das sieht ganz so aus, wie all Deine andren Versuche, mich zu verstehn.«

»Aha!« sagte Lukas ironisch, »Du glaubst also, wir verstünden Dich nicht, was?«

Eugen antwortete ganz still:

»Nein, Ihr versteht mich nicht, das weiß ich. Du weißt überhaupt nichts von mir. Und ich weiß nichts von Dir, nichts von den andern. Ich habe siebzehn Jahre unter Euch gelebt, und ich bin ein Fremdling. Hast Du in all diesen Jahren auch nur einmal wie ein Bruder zum Bruder mit mir geredet? Hast Du mir je etwas von Deinem eignen Leben gesagt? Hast Du je versucht, mein Freund oder mein Kamerad zu sein?«

»Ich weiß nicht, was Du verlangst«, antwortete Lukas. »Ich habe einfach mein Bestes getan. Und was hätte ich Dir von meinem eignen Leben erzählen können; was willst Du denn wissen?«

»Also aha!« sagte Eugen langsam. »Du bist sechs Jahre älter als ich, Du bist aufs Polytechnikum gegangen, Du hast in Großstädten gearbeitet, und jetzt bist Du bei der Kriegsmarine eingetreten und wirst ausgebildet. Warum eigentlich benimmst Du Dich immer, als wärst Du Gott, der Allmächtige?« fuhr er mit wachsender Erbitterung fort. »Ich weiß doch, wie es Matrosen treiben. Sie saufen, nicht wahr? Und sie gehn mit Weibern, nicht wahr?«

»So spricht man nicht in Gegenwart seiner Mutter«, sagte Lukas streng.

»Sohn, Sohn!« sagte die bekümmerte Eliza, »es gefällt mir nicht, daß Du so sprichst.«

»Nun, dann werde ich anders sprechen«, erklärte Eugen. »Ich hatte den Einwand erwartet. Wir hören nicht gern, was wir bereits wissen. Und wir nennen die Dinge nicht gern beim Namen, obschon wir willig genug sind, einander mit bösen Namen zu belegen. Wir nennen Gemeinheit Edelmut, und Haß nennen wir Ehre. Die Methode, Dich zum Helden zu machen, besteht darin, daß Du mich als Schuft anprangerst Natürlich gestehst Du das nicht ein, aber es ist trotzdem so. Also, Lukas, reden wir nicht von den Weibern, den weißen und den schwarzen, die Du kennst oder nicht kennst, denn das verschafft Dir Unbehagen. Statt dessen darfst Du fortfahren, Gott den Allmächtigen zu spielen, und ich werde Deine Ratschläge anhören wie ein kleiner Bub im Kindergottesdienst. Aber offengestanden, ich ziehe es vor, die zehn Gebote zu lesen, wo alles viel kürzer und besser steht.«

»Sohn«, sagte Eliza mit der Miene der Altbetrübten, die ihre Hoffnungen gescheitert sieht, »Sohn«, sagte sie, »wir sollen versuchen, miteinander auszukommen.«

»Nein«, sagte Eugen. »Allein. Wir sollen versuchen allein auszukommen. Allein zu stehn. Allein. Allein. Ich habe hier siebzehn Jahre Lehrzeit durchgemacht, aber nun geht sie zu Ende. Ich weiß nun, daß ich fliehen werde. Ich weiß, daß ich keines großen Verbrechens schuldig bin, und ich habe keine Angst mehr vor Dir.«

»Aber Junge!« sagte Eliza, »wir haben alles für Dich getan, was in unsrer Macht stand. Welches Verbrechen sollen wir Dir denn zur Last gelegt haben?«

»Daß ich Eure Luft atme, Euer Essen esse, unter Eurem Dach wohne, daß ich Dein Leben und Dem Blut in meinen Adern habe, und daß ich Eure Opfer und Eure Entbehrungen annehme und für das alles nicht dankbar bin.«

»Wir sollten uns für alles erkenntlich zeigen«, erklärte Lukas einsichtsvoll. »Mancher junge Kerl gäbe ein Auge dafür, wenn ihm die Gelegenheit geboten würde, die Dir geboten wird.»

»Mir ist nichts geboten worden«, erklärte Eugen heiser vor Leidenschaft. »Nichts! Ich will nicht länger wie ein Gebeugter in diesem Haus herumlaufen. Die Gelegenheiten, die mir zuteil geworden sind, habe ich mir selbst geschaffen. Allein, ganz ohne Euch, ja, sogar gegen Euren Widerstand. Ihr habt mich auf die Universität geschickt, als Euch einfach nichts anders übrig blieb, denn die Leute hier im Städtchen hätten es für eine himmelschreiende Schande gehalten, wenn Ihr es nicht getan hättet. Ihr habt mich geschickt, nachdem mich die Leonards drei Jahre lang wie Marktschreier gepriesen hatten, und dann noch habt Ihr mich ein Jahr zu früh geschickt – ehe ich sechzehn Jahr alt war –, und zwar mit einer Schachtel belegter Brote, zwei Anzügen und der Anweisung, ein braver Bub zu sein.«

»Einiges Geld hast Du auch gekriegt«, sagte Lukas. »Vergiß das nicht.«

»Wenn es mir entfallen wäre, dann wäre ich wahrhaftig der einzige in der Familie, der es je vergessen hätte«, antwortete Eugen. »Denn das Geld steckt ja hinter allem, nicht wahr? Mein Verbrechen neulich abends war nicht, daß ich betrunken war, sondern daß ich betrunken war, ohne eignes Geld dafür zu haben. Falls ich von eigenem Geld studierte und nichts taugte, dann würdet Ihr nicht aufzumucken wagen – nachdem ich aber von Euerm Geld auf die Universität geh und was leiste, müßt Ihr mir dauernd Euere Güte und meine Nichtswürdigkeit vorhalten.«

»Aber Sohn«, versuchte Eliza diplomatisch einzulenken, »kein Mensch hat doch ein Wort über Deine Leistungen auf der Universität gesagt. Wir sind sehr stolz auf Dich!«

»Stolz braucht Ihr nicht zu sein«, sagte er mürrisch. »Ich hab 'ne Menge Zeit vertrödelt und einiges Geld vergeudet. Aber ich hab was dafür gehabt, und zwar mehr als die meisten dafür haben. Ich habe für meinen Lohn soviel Arbeit geleistet, als Ihr verdient. Ich habe Euch einen anständigen Gegenwert für Euer Geld geliefert. Ich danke Euch für nichts.«

»Was war das? Was war das?« fragte Eliza scharf.

»Ich sagte, daß ich Euch für nichts danke, aber ich nehme es zurück.«

»Das klingt besser«, sagte Lukas.

»Ja, ich habe für sehr vieles zu danken«, sagte Eugen. »Ich sage Dank für jedes schmutzige Gelüst und jeden dreckigen Hunger, der ins verseuchte Blut meiner edlen Vorfahren kroch. Ich sage Dank für alle skrofulösen Zeichen, die mich je befallen können. Ich sage Dank für die Liebe und die Barmherzigkeit, die mich am Tage vor meiner Geburt überm Waschzuber knetete. Ich sage Dank für die Bauernschlampe, die meine Pflegerin war und den schmutzigen Verband über meinem Nabel schwären ließ. Ich sage Dank für jeden Puff und Fluch, den ich in meiner Kindheit von Euch empfing, für jede muffige Zelle, die mir als Schlafkammer angewiesen wurde, für die zehn Millionen Stunden Grausamkeit und Gleichgültigkeit und für die dreißig Minuten billiger Ratschläge.«

»Unnatürlicher!« zischte Eliza. »Unnatürlicher Sohn! Du wirst bestraft werden, so wahr ein Gott im Himmel ist.«

»Oh, dort ist einer, sicher ist einer dort«, rief Eugen. »Denn ich bin ja schon gestraft worden. Bei Gott! Ich werde den Rest meiner Tage brauchen, um mein Herz wiederzufinden, um die Wunden auszuheilen und die Narben zu verschmerzen, die mir zugefügt wurden, als ich ein Kind war. Das erste, was ich tat, als ich aus der Wiege kam, war, daß ich nach der Tür krabbelte, und alles was ich seitdem getan habe, war ein Versuch zu entfliehn. Und nun schließlich bin ich von Euch allen frei, auch wenn Ihr mich noch ein paar Jahre festhalten könnt, und sofern ich nicht frei bin, so bin ich doch wenigstens in meinen eignen Kerker gesperrt. Aber ich werde es schaffen, daß Schönheit und Ordnung in mein wirres Leben kommt. Ich werde einen Weg ins Draußen finden, selbst wenn es mich zwanzig Jahre kostet – und zwar allein.«

»Allein?« fragte Eliza mit dem alten Argwohn. »Wohin willst Du denn gehn?«

»Ach!« sagte er. »Du hast nicht aufgepaßt, nicht wahr? Ich bin schon gegangen.«

XXXIII

Während der paar Ferientage, die noch blieben, hielt sich Eugen fast ganz dem Haus fern, erschien nur für kurze, brummige Mahlzeiten und spät abends zum Schlafengehn. Er wartete auf seine Abreise wie ein Sträfling auf seine Entlassung. Die gefühlsseligen Vorspiegelungen – nasse Bahnsteigaugen und plötzliche, hektische Wärmeausstrahlungen beim Schrillen der Lokomotivsirene – rührten ihn diesmal nicht. Er hatte herausgefunden, daß die Tränendrüsen nicht viel anders als die Schweißdrüsen der Haut auf gewisse Reizungen reagieren und schon beim bloßen Anblick eines Eisenbahnzugs leicht zu einer salzigen Absonderung bewegt werden können. So hatte er die etwas kühle Haltung eines Weltmanns, der beim Antritt einer kleinen Wochenendreise gelassen unter der lautlärmenden Menge auf ein Fährboot wartet

Er machte jenes Wort wahr, mit dem er seine Lage als Student erklärt hatte: als die eines Angestellten, der für den ausgeworfnen Lohn die entsprechende Gegenleistung bietet. Diese Auffassung bestimmte und bestätigte sein Verhalten und schützte ihn einigermaßen vor seiner eignen Sentimentalität. In jenem Frühjahr tat er sein Erstaunlichstes und beteiligte sich an allen möglichen studentischen Veranstaltungen und Unternehmungen, jede Auszeichnung teilte er gewissenhaft seiner Familie mit. Mehr als einmal kam sein Name in die Altamonter Zeitungen. Gant hob die Ausschnitte auf; stolz las er sie vor, sooft sich eine Gelegenheit bot.

Eugen bekam zwei kurze, unbeholfne Briefe von Ben, der nun in jener Tabakstadt, 150 Kilometer von Pulpit Hill entfernt, seine Stelle angetreten hatte. Zu Ostern fuhr Eugen hin zu Besuch; er wohnte bei Ben auf der Bude. Das nie irrende Geschick hatte den Stillen wiederum in die offnen Arme einer grauhaarigen Witwe geführt. Sie war noch nicht fünfzig, ein hübsches, albernes Weibsbild. Wie mit einem angebeteten Kind trieb sie allerlei Kurzweil und Schabernack mit Ben. Sie nannte ihn gahlernd ihren »alten Lockenkopf«, worauf er sein gewohntes: »Ach Du mein Gott! Nun hör Dir das an, bitte!« zu seinem Schöpfer emporzuschicken pflegte. Sie war in eine närrisch-kindische Verspieltheit zurückgefallen; manchmal ging sie ganz plötzlich auf den »alten Lockenkopf« los, gickste ihn mit steifen Fingern in die Rippen, schlüpfte hurtig hinweg und rief triumphierend aus: »Hah! Diesmal hab ich Dich aber erwischt!« In jener Stadt roch es stets und ständig nach rohem Tabak. Es stach einem beißend-beizig in die Nase. Den Fremden, der von der Bahn kam, warf es fast um. Die Ortsbürger aber sagten: »Nein, nein, es riecht überhaupt nicht.« Und nach einem Tag merkte der Fremde nichts mehr davon.

Am Ostermorgen stand Eugen in der blauen Tagesfrühe auf und zog mit Scharen andrer Pilger auf den Mährischen Friedhof.

»Du solltest wirklich hingehn«, hatte Ben gemeint. »Es ist ein altberühmter Brauch, aus allen Ecken und Enden kommen Leute, um sich das Schauspiel anzusehn.« Ben selber aber blieb zu Haus.

Von der Blechmusik mehrerer Kapellen geleitet, rückte man auf dem fremdartigen Begräbnisort ein. Alle Grabsteine lagen flach auf den Gräbern, ein Zeichen dafür, sagte man, daß der Tod alle Unterschiede ausgliche. Aber als die Hörner, Posaunen und Trompeten losschmetterten, drängte sich Eugen die alte Phantasie von den leichenzehrenden Gespenstern auf: die weißen, ernsten Grabplatten erschienen ihm wie die Tischtücher, auf denen die Guhlen speisen; er kam sich vor, als nähme er an einem obszönen Gastmahl teil. Der Frühling war wiedergekommen; auf der Erde lag hellfunkelndes Wassergesprüh, die Toten waren dabei, als Blumen und Blüten wiederzukehren. Ben ging durch die Straßen der Tabakstadt und sah wie eine Asphodele aus; – seltsam, ein Gespenst an diesem Ort zu finden! –; seine alte Seele schlich verdrossen an den billigen Backsteinbauten und den frischgetünchten Fassaden vorüber.

Der Stadtplatz lag hoch; in der Mitte stand das Amtsgericht; Autos waren in dichten Reihen geparkt; junge Männer lungerten in den Drogerien.

Wie wirklich das alles ist, dachte Eugen, ganz wie etwas, das wir immer kannten und nicht mehr anzusehn brauchen. Die Stadt würde dem Thomas von Aquino nicht seltsam vorgekommen sein, … wohl aber der Thomas von Aquino der Stadt.

Ben schlich einher, grüßte die Kaufleute mit ernsthaft gerunzelter Stirn, unterhielt sich mit ihnen über die Ladentheken: – ein Phantom, das unter praktischen Rundschädeln mit stiller, eintöniger Stimme um Anzeigen warb.

»Das ist mein kleiner Bruder, Mister Fulton!«

»Hallo, Sohn! Donnerkiesel, Ben, dahinten bei Euch im Gebirg scheinen aber die Langen zu wachsen. Na also, junger Mann, wenn Sie so sind wie der Ben da, dann werden wir hier Ihnen nicht auf die Hühneraugen treten. Wir halten mordsmäßig viel von ihm.«

Das kommt mir vor, als hielte man mordsmäßig viel von Baidur droben in Connecticut, dachte Eugen.

Ben lag im Bett, die Ellenbogen aufgestützt, rauchte.

»Ich bin erst drei Monate hier«, sagte er, »aber ich kenne schon all die führenden Geschäftsleute. Ich bin gern gesehen.« Er streifte den Bruder mit einem schnellen Blick, grinste; sein seltnes Eingeständnis hatte den Reiz der Schüchternheit. Aber seine Augen brannten wild vor Einsamkeit und Verzweiflung. Sehnte er sich ins Gebirg? Hatte er – Heimweh? Er rauchte.

»Da siehst Du's. Die Menschen denken gut von einem, sobald man von seinen Angehörigen weg ist. Zu Haus hat man keine Gelegenheit, Eugen. Sie machen einem das Leben unmöglich. Um Gottes willen, geh fort von zu Haus, wenn Du irgend kannst … Was ist denn los mit Dir, warum stierst Du mich so an?« fragte er scharf, als er merkte, daß Eugen ihn unverwandt anstarrte. Einen Augenblick später fuhr er fort: »Sie verderben einem alles.« Und dann unvermittelt: »Kannst Du das Mädchen denn nicht vergessen?«

»Nein«, sagte Eugen. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie hat mich den ganzen Frühling heimgesucht.«

Er verrenkte den Hals mit einem wilden Schrei.

Mit dem Frühling nahm das Gesumm vom Krieg zu. Die älteren Studenten verschwanden und rückten stillschweigend ein; die jüngeren warteten gespannt auf den Tag. Ihnen brachte der Krieg keine Sorgen; er war ein Festzug, der sie – sie spürten es –, augenblicklich ins Licht des Ruhms heben konnte. Das Land floß von Milch und Honig. Sonderbare Gerüchte liefen um von einem Eldorado im Norden, im Industriegebiet an der Küste Virginiens. Ein paar von den Studenten hatten im letzten Jahre in den Sommermonaten dort gearbeitet. Sie erzählten von fürstlichen Löhnen; ein ungelernter Arbeiter konnte am Tag zwölf Dollar verdienen; man würde als Zimmermann eingestellt, wenn man mit Hammer, Säge und Reißwinkel ankam; niemand frage einen was.

Krieg heißt für junge Männer nicht Tod; er heißt Leben. Nie war die Erde so bunt wie in diesem Jahr. Der Krieg schien Erzgruben zu erschließen, von denen die Nation zuvor nichts geahnt hatte; Reichtum und Macht entfalteten sich maßlos, richteten sich unerhört auf. Und dieser imperiale Wohlstand, diese Schaustellung der Macht durch Menschen und Geld wandelte Eugen auf irgendeine Weise an wie lyrische Musik: Reichtum, Liebe und Ruhm machten ein symphonisches Geräusch; das Zeitalter der Mythen und Mirakel schien wiedergekommen; alles war möglich.

Er fuhr heim am Ende des Studienjahrs, gespannt wie eine Bogensehne. Er verkündete, daß er nach Virginien gehen wolle. Sie erhoben Einspruch, aber nicht laut genug, um ihn zurückzuhalten. Elizas Gedanken waren vollauf mit Bodenspekulationen und dem Sommerbetrieb der Pension beschäftigt. Gant starrte in die Finsternis. Helene lachte und schalt ihn; dann verstummte sie plötzlich und petzte sich geistesabwesend am Kinn:

»Kannst Du denn nicht ohne sie auskommen? Mich kannst Du nämlich nicht beschummeln, nein, Lieberchen, das bringst Du nicht fertig. Ich weiß ganz genau, warum es Dich dorthin zieht«, erklärte sie spaßend. »Sie ist 'ne verheiratete Frau jetzt, hat womöglich schon ein Baby; Du hast kein Recht, ihr nachzulaufen.«

Dann erklärte sie unvermittelt:

»Also laßt ihn ziehn, wenn er durchaus will! Mir kommt der Plan albern vor, er wird es schon selber herausfinden.«

Sein Vater gab ihm 25 Dollar. Das reichte für die Fahrkarte nach Norfolk und ließ ihm noch ein bißchen Geld übrig.

»Hör auf mich!« sagte Gant. »Du wirst in einer Woche wiederkommen. Diese Reise ist ein törichtes Abenteuer ins Blaue, weiter nichts.«

Eugen fuhr.

Er fuhr die ganze Nacht hindurch. Ihr entgegen. Er lag, die Arme aufgestützt, im Pullmanbett und starrte wie verhext auf die mondhelle, weite, romantische Landschaft mit ihren träumenden Wäldern hinaus.

Früh am Morgen kam er nach Richmond; er mußte umsteigen; hatte Zeit zwischen den Zügen. Er verließ den Bahnhof, ging den Hügel hinauf und sah das schöne, alte State House im jungen, reinen Frühlicht liegen. Er trank Kaffee in einem kleinen Restaurant in der Broad Street, zusammen mit jungen Männern, die an ihre Arbeit gingen. Der kurze, gelegentliche Kontakt mit ihrem Leben, gerade nun, nachdem er einsam und großartig durch die Nacht angekommen war, bezauberte ihn. Der Reiz des Alltäglich-Zufälligen erschloß sich. Die kleinen, tickenden Laute der erwachenden Stadt hörten sich seltsam an nach dem Geräusch des Schienendonners. Die Menschenstimmen an diesem fremden Ort schienen so seltsam vertraut. Die Stadt hatte eine magische Unwirklichkeit für ihn; sie hatte kein Dasein, außer dem, das er ihr verlieh; er fragte sich, wie sie bestanden habe, ehe er ankam, wie sie nach seiner Weiterreise bestehn würde. Er sah alle Menschen an, er verzehrte sie mit seinen Augen, die noch von den weiten Mondlichtmatten der Nacht, der kühlen, grünen Offenheit der Morgenlandschaft erfüllt waren. Die Menschen erschienen ihm wie merkwürdige Wesen in den Schaukäfigen zoologischer Gärten; er starrte sie an, um Spuren ihrer Stadt an ihnen zu entdecken, um an ihren Gliedern und Gesichtern den Ausdruck des besondren, eignen Kosmos zu erkennen. Und der große Hunger nach Reisen stieg in ihm auf: Oh, immer so wie jetzt in der Tagesfrühe in fremde Städte kommen, umherstreifen und unter den Leuten sitzen wie ein Unbekannter, ja, wie ein Gott in der Verbannung, eine ungeheure Schau des Erdenrunds in sich tragend.

Der Barkellner gähnte und drehte raschelnd die Seiten einer Morgenzeitung um: das war sonderbar.

Wagen ratterten vorbei; Kaufleute ließen die zeltnen Schutzdächer vor ihren Läden herunter; er ging fort von ihnen, als ihr Tag begann.

Eine Stunde später fuhr er wieder. Hundertzwanzig Kilometer weiter lagen das Meer und Laura. Sie schlief, unwissend daß die ruhlosen Räder ihn zu ihr brachten. Er sah auf den wasserblauen Himmel mit den weißen Wölkchen, auf das Marschland mit den Föhrenwäldern hinaus. Er kam nach Newport News, bestieg das Schiff, das ihn über die Roads nach Norfolk brachte.

Das heiße Virginien kochte unter dem glutblauen Himmelsofen, Aber in den Roads schaukelten die Schiffe in der frischen Brise von Krieg und Ruhm.

Vier Tage lang blieb Eugen in der Siedehitze der Stadt Norfolk. Das Geld ging ihm aus in diesen vier Tagen, und es ängstigte ihn nicht. Seine Pulse gingen schneller, er empfand die kühne Wollust der Einsamkeit, er freute sich, wenn er an die unerwarteten Wendungen dachte, die sein Leben nun nehmen könne. Er spürte die Antennen der Welt, das Leben surrte wie eine versteckte Dynamomaschine mit der ungeheuren Aufregung von zehntausend ruhmreichen Bedrohungen. Er konnte alles tun, alles wagen, alles werden. Aus Dunkelheit, Hunger und Einsamkeit konnte er im Nu zu Macht, Ruhm und Liebe erhoben werden.

Er ging nachts am Wasser spazieren; er hörte die Uferlaute, das Anschwappen der Wellen an die verkrusteten Pierpfosten; er trank den starken, grünen Duft des Wassers und den Kabeljaugeruch tief ein. Dann sah er zu, wie die großen Schiffe beladen wurden, wie sie sich grell erleuchtet langsam hinunter ins Wasser wälzten. Und die Nacht war erfüllt vom Gekreisch und dem Rattern der großen Krane, dem plötzlichen Kettengerassel, dem Geschrei der Aufseher, dem Gerumpel der Ladekarren auf den Landungsbrücken.

Das imperiale Amerika ballte zum erstenmal seine Macht zu einem ungeheuren Wurf zusammen. Die Luft war geladen mit mörderischer Geilheit, wüster, verschwenderischer, verderblicher Ausschweifung.

Durch die heißen Straßen der Stadt trieb das Gesindel der Nation, trieben Gauner, Rohlinge, Vagabunden: – Revolverhelden aus Chicago, finstre Nigger aus Texas, verkommne Brüder aus dem Verbrecherviertel New Yorks, bleiche Juden mit weichen Händen aus den Läden der großen Stadt, Schweden aus dem Mittelwesten, Iren aus Neuengland, Gebirgler aus Tennessee und Nordkarolina, – und Huren in Rudeln und Horden, Huren aus allen Ecken und Enden des Landes, Huren, für die der Krieg die große, fette Gans war, die den ganzen Tag goldne Eier legt. Es gab kein Glauben, kein Denken an die Zukunft. Es gab nichts als das triumphante Nun. Über den Augenblick hinaus gab es kein Leben.

Junge Farmer aus Georgia kamen abends von ihrer Arbeit auf den Ladedocks, den Schiffswerften, den Camps und warfen sich in ihren Pfauenstaat: am Rinnstein standen sie, hart und braun und hager im Gesicht, mit großen, groben, schwieligen Händen, in braunen Schuhen zu 18 Dollar, Anzügen zu 80 Dollar, blau-und-rot gestreiften Seidenhemden zu 8 Dollar. Sie waren Zimmerleute, Maurer, Arbeitsaufseher, oder sie behaupteten, sie wären es, und sie verdienten 10, 12, 14, 18 Dollar am Tag.

Sie arbeiteten nicht ständig, sie gingen von Camp zu Camp, schafften einen Monat und faulenzten üppig eine Woche lang, die kurze, gekaufte Liebe der Mädchen genießend, die sie an einem Badestrand oder in einem Bordell kennen lernten.

Mordskerle von Negern, Bullen mit Gorillaarmen und Panthertatzen, verdienten 60 Dollar die Woche und gaben das Geld an einem einzigen Abend runstroter Lust für ein Mulattenmädchen aus.

Und stiller, nüchterner, besonnener bewegten sich in diesem Trubel die älteren, sparsameren Handwerker, die wirklichen Zimmerleute, die wirklichen Maurer, die wirklichen Mechaniker: – gerissene, protestantische Iren aus Nord-Karolina, Fischer von der Küste Virginiens, schlaue Farmer aus dem Mittelwesten. Sie waren gekommen, um zu verdienen, zu sparen, um am Krieg Geld zu machen.

Überall in diesem schwärmenden Gedräng glänzten Uniformen. Matrosen, braun, zäh und sauber, in flappendem Blau und makellosem Weiß, wimmelten auf den Straßen. Marinesoldaten, arrogant zu zweit, schritten vorüber, steif wie Ladestöcke, im Pomp der Waffenröcke, prangend die V-förmigen Dienstgradabzeichen auf den Rockärmeln, leuchtend die bunten Streifen der Hosennaht. Kommandeure, grau und grimmig, harthändige Deckoffiziere und elegante junge Seekadetten, frisch von der Universität, und etwas Blondes in Tüll an der Seite, gingen vorüber an den roten Mützenquasten französischer Matelots und an den englischen Blaujacken mit dem seekundigen, schiffschwankenden Gang.

Durch diese Menge schob Eugen; tags in Schweiß gebadet, nachts im ranzigen, scharfen Geruch seiner verschwitzten Kleider. Das verklebte Haar hing ihm in die Augen, wand sich in Spirallocken durch die Löcher seines alten, grünen Filzhuts, stand in dichten Zotteln um seinen schmutzigen Nacken. Sein Hunger nach Reisen – jener Hunger, der die Amerikaner, die eine nomadische Rasse sind, umtreibt – war halbgestillt hier im Mahlstrom des Kriegs.

Er verlor sich in der Menge. Er rechnete nicht mehr mit Tagen, und sein kleiner Geldvorrat schmolz. Aus einem billigen Hotel, das nachts vom Radau der Hurerei laut war, zog er in eine kleine knallheiße, nach Tannenholz und Dachpappe riechende Kammer in einem Lodginghouse. Nach dem Lodginghouse bezog er eine Schlafstatt im Asyl des Christlichen Vereins Junger Männer, wo er Nacht für Nacht erschien, seine fünfzig Cent Bettgebühr berappte und in einem Saal zusammen mit vierzig schnarchenden Matrosen übernachtete. Schließlich, als sein Geld alle war, pennte er, bis man ihn herausschmiß, in einem billigen Speiselokal, das die ganze Nacht offen stand; dann unter der Fähre von Portsmouth und über dem schwappenden Wasser auf den morschen Bohlen eines Landungsstegs.

Abends trieb er sich unter den Negern herum und belauschte sie bei ihren wortreichen Liebesanträgen; er ging den Matrosen nach, die Church Street hinunter, dorthin, wo es Weiber gibt. Er strich umher mit seiner jungen Raubtierlust, sein dünner Knabenkörper stank nach getrocknetem Schweiß, seine Augen brannten in der Dunkelheit.

Er hatte Hunger. Sein Geld war alle. Aber es war ein Hunger und Durst in ihm, der nicht mit Speise und Trank gestillt werden konnte. Über seinem verwirrten Hirn schwebte der Schatten von Laura James. Ihr Schatten schwebte über der Stadt, über allem Leben. Er hatte ihn hierhergelockt. Sein Herz war geschwollen vor Scham und Stolz; er wollte sie nicht aufsuchen.

Er war von der Vorstellung besessen, daß er ihr in der Menge begegnen würde. Hier würde sie die Straße entlang kommen, dort gleich um die Ecke biegen. Er würde sie nicht ansprechen. Er würde stolz und gleichgültig vorübergehn. Er würde sie nicht sehn. Aber sie sollte ihn sehn. Sie sollte ihn in irgendeinem heroischen Moment sehn, wenn er gerade in der Liebe und der Achtung, die ihm schöne Frauen darbrachten, schwelgte. Sie sollte ihn ansprechen; er würde sie nicht ansprechen. Sie würde betroffen sein, sie würde betreten sein, sie würde ihn um Liebe und Barmherzigkeit anflehn. So, unsauber, ungekämmt, in Lumpen, Hunger und Wahnsinn gekleidet, sah er sich als schön, siegreich und heldisch. Er war irre vor Besessenheit. Täglich ein Dutzend Mal bildete er sich ein. daß er Laura auf der Straße sähe. Das Herz sank ihm in die Hosen, er wußte nicht, was er tun oder sagen solle, ob er stehnbleiben oder davonlaufen solle. Stundenlang brütete er über ihrer Adresse im Telephonverzeichnis. Er saß vor dem Apparat, zitternd vor Aufregung, gebannt von dem Gedanken, daß er mittels der furchtbaren Magie dieses Instruments binnen einer halben Minute ihre Stimme hören könne.

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