Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 9
Bei solcher Gelegenheit brachte Gant mit trauriger Stimme gern den »lütten Jimmy« aufs Tapet. Das war ein kleiner Junge ohne Beine: er wohnte in der Nähe des Vergnügungsparks am Fluß: Gant hatte ihn Eugen öfter gezeigt. Gant hatte um den bedauernswerten Krüppel eine pathetische Fabel von Armut und Waisenschaft gewoben; sie wurde verzweifelte Wirklichkeit für Eugen. Als er sechs Jahre alt war, hatte ihm Gant unvorsichtigerweise einen Pony zu Weihnachten versprochen. Das Fest kam näher. Gant fing an, rührende Geschichten vom »lütten Jimmy« zu erzählen, um Eugen klar zu machen, daß er es tausendmal-tausendmal besser hätte als dieser arme Kerl. Nach einem mächtigen inneren Kampf hatte Eugen, von Gant gedrängt, in einer gekritzelten Botschaft an den Herrn Nikolaus von Elfland zugunsten des »lütten Jimmy« auf den Pony verzichtet. Eugen vergaß es nie. Selbst als er längst erwachsen war, fiel ihm die Sache wieder ein, dann freilich dachte er ohne Groll und Gehässigkeit daran, aber mit einem scharfen Schmerz über den blinden Mißbrauch, die bedenkenlose Unehrlichkeit, die blöde Meineidigkeit, den gemeinen, lähmenden Betrug.
Lukas plapperte wie ein Papagei die Reden des Alten nach, aber ernst und witzlos, ganz ohne Gants Humor und Schikane, aber mit derselben Sentimentalität. Er lebte in einer Jahrmarktbude mit plumpen bunten Symbolen; sie hießen: »Vater«, »Mutter«, »Heim«, »Familie«, »Großherzigkeit«, »Ehre«, »Selbstlosigkeit«. Sie waren aus Zucker und Zuckerdicksaft gemacht, von einem tränenden Zuckersirup übergossen.
»Wenigstens ein Junge, der was taugt«, sagten die Nachbarn.
»Entzückender Kerl«, sagten die Damen, die von seinem Gestotter, seiner Gutmütigkeit, seiner aufmerksamen Ergebenheit begeistert waren.
» Der Bursche ist dahinter her! Er wird es zu was bringen«, sagten alle Männer im Städtchen.
Und just als der Bursche, der lächelnd »dahinter her ist«, der »es« lächelnd »zu etwas bringen wird«, wollte Lukas erkannt sein. Wie Evangelien las er die Rundschreiben, die die Curtis Publishing Company an ihre Agenten sandte. Er beherzigte die Ratschläge und gewöhnte sich die Posen an, die das gute Geschäft fördern sollten, die einzige richtige Methode der »Annäherung«, die stillschweigend-überzeugende Art, die Wochenschrift aus der Tasche zu ziehen und die lebhafte, leseappetitanregende Anpreisung des Inhalts. Die Zirkulare sagten nämlich, daß »der gute Verkäufer seine Ware in- und auswendig kennt«. Lukas vermied jedoch die inwendige Kenntnis und ersetzte sie mit frechempfundenem Geschwätz. Im übrigen hielt er sich genau an Axiome wie »Der gute Verkäufer nimmt nie ein Nein zur Antwort«. »Der gute Verkäufer gibt nie einen prospektiven Käufer frei«, »Der gute Verkäufer stellt sich stets auf die Psychologie des Kunden ein.« In wörtlicher Befolgung solcher Weisheit, durch seine bodenlose Dreistigkeit unterstützt, gab Lukas eine der denkbar tollsten Schaustellungen für den Verkauf von gedruckter Ware.
Er ging neben einem arglosen Straßengänger her, nahm Gleichschritt auf, entfaltete die Zeitung und hielt sie dem »prospektiven Abnehmer« unter die Nase. Dazu ließ er mit irrsinniger Geschwindigkeit ein wüstes Redegeprassel los, das von gestotterten Clownspäßen und Schmeicheleien wimmelte.
»Jawoll der Herr, jawoll der Herr!! Die Saturday Evening Post, letzte Nummer! Fünf Cent, nur ein Nickel! Auflage zwei Mi-mi-mi-millionen, der Herr! 86 Seiten voll Di-di-di-dichtung und Wahrheit, ganz zu schweigen vom Anzeigenteil. We-we-wenn Sie n-n-nicht lesen können, dann sind für Sie die B-b-bilder allein schon das Geld wert. Auf Seite 13 haben wir diesmal einen feinen Artikel von Isaac F. Markusson, dem berühmten Reiseschriftsteller. Auf Seite vie-vie-vierzig eine Kurzgeschichte von Irvin S. Cobb, dem größten l-l-l-l-l-l-lebenden Humoristen. Eine rassige Geschichte aus dem Leben der Preisboxer von Jack L-l-london. Wenn Sie das alles als Buch kauften, dann würde es Sie gut und gern a-a-a-a-anderthalb Do-do-do-dollar kosten!«
Lukas ging nicht von den Fersen, er gellte, grinste, tanzte, versuchte seinen Mann in die Ecke zu treiben, benahm sich wie ein schweifwedelnd-zudringlicher Hund. Es gab einen Auflauf. Die Leute schmunzelten. Mit zitternder Hand rückte der »prospektive Abnehmer« den Nickel heraus, der ihn von der Belästigung loskaufte.
Außer den Gelegenheitsopfern seiner Tüchtigkeit hatte Lukas noch viele Abnehmer unter den Einwohnern des Städtchens.
Prall vor Begrüßungsfreude, glorreich vor Glattzüngigkeit kam er stramm und strahlend den Bürgersteig entlang gependelt … Er verlieh den bekannten Mitbürgern in seiner vollen, stammelnden Tenorstimme neue Titel:
»Wie geht's, Herr Captain? Wie steht's, Herr Major? Hier gibt's Lesefutter für 'ne ganze Woche! Frisch von der Presse! Und was machen die werten Angehörigen, Herr Colonel?«
»Na, hm. Und wie geht's Dir, Sohn?«
»Ausgezeichnet, Herr General! Könnte nicht besser sein mit dem Be-be-finden. Glatt und glitschig wie 'ner Hand auf 'nem jungen Hundebauch!«
Die Mitbürger, Spießer aus den Südstaaten mit roten Genießergesichtern, lachten ihr volles prustendes Lachen. Sie kauften, weil er sie amüsiert hatte.
Er, der erdhafteste in der Familie, war voll von heftig-deftiger Vulgarität, hatte eine triebhaft-üppige, rabelais'sche Saftigkeit, äußerte sich spontan in gargantuanischen Bildern. Trotz Elizas Zeter und Mordio pißte er allnächtlich ins Bett. Das war gewissermaßen der letzte, abschließende Pinselstrich zum Bildnis seiner stotternden, pfeifenden, patzigen, sprudelnden, komischen Personalität. Er war Lukas der Einzige, Lukas der Unvergleichliche. Er war, trotz seiner zappelig-geschwätzigen Nervosität, ein gewinnender, liebenswerter Kerl. Der bodenlose Brunnen des Gefühls war tatsächlich in ihm. Er begehrte überschwengliches Lob für seine Guttaten, aber seine Menschenliebe und seine Zärtlichkeit waren tief und echt.
Jeden Donnerstag nachmittag versammelten sich die Zeitungsbuben grinsend in Gants staubigem Schuppen. Lukas, der Agent, hielt eine belehrende Ansprache, ehe er die Knirpse zu ihrer Pflicht entließ:
»Na, habt Ihr, Euch überlegt was Ihr den Leuten erzählen wollt? Ihr könnt Euch doch nicht auf die Ärsche setzen und warten, bis der Kunde zu Euch kommt!« Er wandte sich an einen kleinen, erschreckten Buben. »Wie machst Du Dich ran an den Mann? Na, los! los! Gott verda-da-da-dammt, stell Dich nicht so blöd hin und g-g-glotz mich an!« Idiotisch ausgelassen lachte er auf. »Jetzt guckt Euch mal den Trottel an, Ihr Buben!«
Gant stand in einiger Entfernung mit Jannadeau und beobachtete schmunzelnd den Vorfall.
»Schon wieder gut, mein Christoph Columbus!« wandte sich Lukas nun gutmütig an den Buben. »Also was sagst Du den Leuten, mein Lieber?«
Der Junge räusperte sich verlegen. Er mimte matt: »Saturday Evening Post gefällig, Mister?«
»Owei, owei!« Lukas erklärte zartfühlend. »Glaubst Du wirklich, daß Du so eine Zeitung verkaufst? Ei, wo hast Du denn Deinen Verstand? Ramme Deinen Mann an! Klemme Dich auf! Häng Dich bei ihm ein! Und nimm nie ein Nein zur Antwort! Vor allen Di-di-dingen frage nicht, ob 'ne Zeitung gefällig ist! Tauch vor Deinem Mann auf und sag: ›Hier der Herr, noch warm, von der Presse!!‹ Jesus Christus!« gellte er plötzlich und blinzelte kopfwackelnd nach der Turmuhr auf dem Amtsgericht. »Wir sollten schon 'ne Stunde unterwegs sein. Vorwärts los! Drückt Euch nicht rum! Hier sind die Zeitungen. Wieviel kriegst Du, kleines Jiddchen?«
Er hatte mehrere Juden eingestellt; sie verehrten ihn, und er liebte ihre warme, füllige, humorige Art.
»Zwanzig.«
»Zwanzig!?« gellte Lukas. »Bummelant! Hier sind f-f-fünfzig. G-g-g-geh! Die wirst Du glatt los bis heut abend …«
Gant trat in die Werkstatt. »Jaja, Papa«, sagte Lukas zu ihm und deutete auf die Juden. »Das sieht aus wie die Flucht aus Ägypten, nicht wahr?«
»Los jetzt!« befahl er dann. Er hieb einem kleinen Jungen, der sich nach seinem Zeitungsstoß auf dem Boden gebückt hatte, auf den Allerwertesten.
»Streck mir den Arsch nicht in die Fresse!«
Die Buben quietschten.
»Also ran an den Mann! Laßt mir keinen auskommen!«
Aufgeregt lachend, schickte er die Jungen auf die Straße.
In diese Beschäftigungsart, in diese Ausbeutungsmethode wurde Eugen nun eingeweiht. Er haßte die Arbeit mit einem unüberwindlichen, Haß. Am widerlichsten war ihm dies, daß er sich den Leuten zur Belästigung machen mußte, um seine Ware loszuschlagen. Er kam sich erniedrigt vor. Aber er führte die Sache durch, eine seltsame, leidenschaftliche, lockenköpfige Kreatur, die eilfertig hinter erstaunten Passanten herwetzte und aus einem verdunkelten, lebenshungrigen Träumergesicht einen Hurrikan von Worten hervorstieß. Die Leute, von der merkwürdigen Beredsamkeit des Jungen fasziniert, kauften.
Manchmal nahm ihn ein schmerbäuchiger Richter, ein Bankier oder ein Anwalt mit in sein Heim, hieß ihn sich dort vor der Familie produzieren und entließ ihn mit einem Geschenk von 25 Cent. »Was meinst Du dazu? Ein geborener Redner, nicht?«
Wenn er seine ersten Verkäufe in der Stadt getätigt hatte, machte er die Runde ums Weichbild und klopfte die Sanatorien für Lungenkranke in den Wäldern der umliegenden Hügel ab. Dort verkaufte er leicht und schnell, »wie warme Bemmchen« pflegte Lukas zu sagen, – an bleiche unrasierte Juden mit sensitiven Gesichtern, an Ärzte und Krankenschwestern, an Schwerkranke, die ihre verrotteten Lungen in Becher spuckten, an nett aussehende junge Damen, die nur von Zeit zu Zeit ein wenig husteten und, wenn sie ihm das Geld gaben, die heiße weiche Hand einen Augenblick auf seiner ruhen ließen.
In einer Heilstätte im Bergwald lockten ihn eines Tags zwei junge New Yorker Juden in ein Krankenzimmer, sperrten die Tür ab und warfen ihn aufs Bett. Einer zückte ein Taschenmesser und erklärte, er würde den Jungen nun kastrieren. Jahre später fiel es Eugen bei, daß diese beiden, von der entsetzlichen Langeweile des Hospitallebens zu diesem Streich getriebenen Jünglinge den Überfall sicher tagelang geplant und sich schon im voraus wollüstig an seinem Entsetzen geweidet hatten. Allerdings, sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Eugen schrie wie ein Wahnsinniger, wehrte sich wie ein Tiger; die beiden waren viel zu schwach, ihn niederzuhalten. Eine Krankenschwester befreite ihn. Die beiden Schwindsüchtigen blieben zitternd vor Erschöpfung und angstverwirrt im Zimmer. Eugen erbrach; die Berührung mit den Körpern der Kranken war ihm widerlich und die ausgestandne Furcht zu viel für seinen Magen.
Aber die vielen netten Nickel- und Silberstücke klimperten angenehm in der Tasche. Er stand erschöpft auf müden Beinen vor der blanken Sodafontäne und barg sein Gesicht in eisgekühlten Tränken. Manchmal, wenn auch mit sehr schlechtem Gewissen, stahl er sich auf eine Stunde der Verzauberung und goldner Vergessenheit in die Bibliothek. Der wachsame Lukas entdeckte ihn und trieb ihn hinaus.
»Wach auf, sag ich Dir, Du lebst nicht im Märchenland. Los! Sei dahinter her!«
Eugens Gesicht taugte nicht zur Maske. Es war wie ein dunkler Tümpel, auf dessen stillem Spiegel jede Regung sichtbar wird. Daß er sich der Arbeit schämte und sie haßte, war, obschon er es zu verbergen suchte, offenbar. Er wurde des »falschen Stolzes« geziehen, ihm wurde vorgehalten, er habe »Furcht, ein wenig ehrliche Arbeit zu schaffen«, er wurde daran gemahnt, daß ihn seine großherzigen Eltern mit reichen Segnungen überhäuften.
In seiner Verzweiflung wandte er sich an Ben. Manchmal trafen sich die Brüder in der Stadt. Eugen war heiß von der Hetze, müd, schmutzig; die gefüllte Segeltuchtasche zog ihm die Schulter schief. Ben sah ihn finster an, schalt ihn wegen seines ungekämmten Haares, nahm ihn in einen Lunch-room und gab ihm was zu essen: rahmige Milch, einen dampfenden Teller geschmelzter Bohnen, dicken zweischichtigen Apfelkuchen.
Ben und Eugen waren von Natur Aristokraten. Eugen fing gerade an, seinen sozialen Status oder besser: seinen nicht vorhandnen sozialen Status zu empfinden. Ben empfand ihn seit Jahren. Das Empfinden hätte sich bei beiden recht einfach im Wunsch nach eleganter Damengesellschaft äußern können: keiner aber wagte, dies zuzugeben. Eugen brachte es nicht einmal fertig, sein soziales Minderwertigkeitsgefühl offen einzugestehen. Die Behauptung, daß der Umgang mit Leuten von Welt und Lebensart dem Verkehr mit den spießigen Nachbarn vorzuziehen sei, wäre im Hause Gant als falscher Stolz und als undemokratisch gebrandmarkt worden. Man hätte ihn – »Mister Vanderbilt« oder »Prince of Wales« genannt.
Ben jedoch ließ sich durch kein Geschwätz einschüchtern. Er durchschaute die Heuchelei. Sein Hohn war bitter. Hinter seinen grauen Augen war etwas Sonderbares. Unbestechliches, Unzweideutiges; das machte ihnen angst. Außerdem hatte er jene Form der Freiheit errungen, die sie unbedingt anerkannten, nämlich wirtschaftliche Unabhängigkeit. Auf demokratische Prätensionen antwortete er mit einem fast lautlosen, verächtlichen Lachen, schnickte den Kopf seitwärts in die Höhe und sprach zu dem dunkeln, satirischen Engel, dem er all seinen Spott anvertraute:
»Um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte!«
Eines Tages stand er gerade rauchend vorm Kaminfeuer, als Eugen dreckig und speckig, die schwere Zeitungstasche umgehängt, sich auf die Straße trollen wollte.
»Geh mal her, kleiner Drecksack!« befahl er. »Wann hast Du eigentlich Deine Pfoten das letztemal gewaschen?« Finster blickte er den Kleinen an, hob die Hand, als ob er ihm eine auswischen wollte, endete aber damit, daß er statt dessen mit seinen geschickten knochigen Fingern Eugens Halsbinde zurechtknüpfte.
»Um Gottes willen, Mama«, brach er plötzlich gereizt los, »kannst Du ihm nicht mal ein sauberes Hemd geben? Alle vier oder fünf Wochen sollte er doch wenigstens eins haben!«
»Was soll das heißen?« Elizas Kopf schnellte komisch vom Stopfkorb auf. »Er hat erst vorigen Dienstag eins gekriegt.«
»Kleiner Lump!« knurrte er und sah Eugen an. Sein Blick war wild vor Schmerz. »Mama! Um Gottes willen, warum schickst Du ihn nicht zum Barbier, daß er ihm diese lausigen Locken abschneidet? Ich zahl's gern, wenn's Dir zu teuer ist!«
Sie war verletzt, schürzte die Lippe und stopfte verbissen weiter. Eugen sah Ben dumpf-dankbar an und ging. Ben blieb vorm Feuer stehen und rauchte lange Lungenzüge.
»Was hast Du eigentlich mit Deinem Jüngsten vor, Mama?« fragte er nach einer Weile mit harter, ruhiger Stimme.
»Was soll das heißen?!«
»Hältst Du's wirklich für richtig, wenn er unterm Gassengesindel verkommt?«
»Was soll das heißen?! Ich versteh überhaupt nicht, was Du damit sagen willst«, behauptete sie ungeduldig, »Es ist keine Schande, wenn ein Junge ein wenig ehrliche Arbeit leistet, kein Mensch glaubt das.«
Ben wandte sich an seinen dunklen Engel: »Um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte!«
Eliza schürzte die Lippe.
Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Eliza:
»Hochmut kommt vor dem Fall.«
»Ich kann nicht einsehn, wieso das uns was ausmacht. Tiefer fallen können wir ja nicht.«
»Ich halte mich für so gut wie andre Leute«, behauptete sie mit Würde. »Ich trage meinen Kopf hoch vor jedermann, mit dem ich zusammenkomme.«
»Ach Du mein Gott!« sagte er zu seinem Engel. Und dann zu Eliza: »Du kommst eben mit niemand zusammen. Ich bemerke nicht, daß Deine feinen Herren Brüder und ihre Frauen mit Dir verkehren.«
Das tat weh, denn es war wahr. Sie schürzte schnell die Lippe.
»Nein, Mama«, sagte er nach einer Pause. »Du und der Alte, Ihr habt Euch einen Dreck drum geschert, was wir Kinder taten, solang Ihr 'nen Nickel dabei sparen konntet.«
»Was soll das heißen?! Ich versteh überhaupt nicht, was Du damit sagen willst«, antwortete sie. »Du tust, als ob wir reiche Leute wären! Aber armen Teufeln bleibt halt nichts andres übrig, als sich nach der Decke zu strecken.«
»Ach Du mein Gott!« Ben lachte bitter. »Du und der Alte, Ihr tut so, als ob Ihr betteln gehn müßtet, dabei habt Ihr 'nen ganzen Strumpf voll Geld.«
»Was soll das heißen?!« fragte sie geärgert.
»Nein«, sagte er nach einer Weile launisch. Er liebte es, Feststellungen mit einem Nein zu beginnen. »In dieser Stadt leben Leute, die haben nicht den fünften Teil von dem, was Ihr habt. Und sie leben doppelt so anständig wie wir. Wir andern Kinder haben ja nie was gehabt von Euch, aber ich seh nicht gern mit an, daß aus dem Kleinen ein Stromer wird.«
Eine lange Stille trat ein. Eliza, dem Weinen nah, schürzte die Lippe, schwieg, stopfte.
»Ich hätte nie gedacht«, sagte sie dann gekränkt, »daß einer meiner Söhne je so zu mir sprechen würde. Hüte Dich!« – sie drohte mit dem Finger – »der Tag der Abrechnung kommt. Du kannst Dich drauf verlassen. Dann wird es Dir dreimal zurückgezahlt werden, daß Du so unnatürlich« – hier sank ihre Stimme zu tränenersticktem Gewisper – »so unnatürlich an mir gehandelt hast.« Sie flennte.
»Ach Du mein Gott!« Ben reckte sein bittres, hageres, graues, knolliges Gesicht zu dem dunklen lauschenden Engel. »Nun hör Dir das an, bitte!«
XI
Eliza sah Altamont nicht als lebendiges, plastisch-perspektivisches Bild; sie sah es als Muster auf einem ungeheuern Blaupausplan. Sie kannte die Geschichte jedes nennenswerten Grundstücks; sie wußte wer es von wem für wieviel gekauft hatte; sie wußte, wem es 1891 gehörte, sie wußte, ob und für wieviel es nun auf dem Markt zu haben war. Sie kannte die Verkehrsstatistik, sie wußte, an welcher Ecke die meisten Leute täglich oder stündlich vorübergingen. Sie spürte die Wachstumsschmerzen der jahraus, jahrein größer werdenden Stadt. Sie wußte die Richtung der zukünftigen Ausdehnung richtig einzuschätzen. Sie verstand sich auf Entfernungen. Sie erkannte auf den ersten Blick, wo die Zufahrt zu einem wichtigen Knotenpunkt einen dummen Umweg machte, zog im Geist eine gerade Linie quer durch Grundstücke, Gärten und Häuser und erklärte:
»Hier wird eines Tages der Durchbruch kommen.«
Ihr Verständnis für den Handel mit Immobilien war klar und roh; es betraf das Praktische und verstrickte sich nie in Technikalitäten und Probleme. Es war außerordentlich wegen seiner Unmittelbarkeit. Ihr Instinkt war: dort zu kaufen, wo die Leute hinziehen würden, und zwar, solange die Lose billig waren; Sackgassen zu meiden; die Finger von allen abseitigen Spekulationen zu lassen; ihr Geld in Objekte zu stecken, die in der Richtung der Hauptverkehrsadern lagen.
So kam es, daß sie Dixieland erwog. Es lag fünf Minuten vom Stadtplatz an einer leicht abschüssigen Straße, an der kleine Einfamilienheime des Mittelstands und ein paar Boardinghouses standen.
Dixieland war ein dreistöckiger, vielgiebliger, schmutzig-gelbgestrichener, billig gebauter Holzkasten ohne klaren Grundriß. Es hatte achtzehn oder zwanzig Räume. Es hatte einen kleinen, sauberen grünen Vorgarten; an der Straße stand eine Reihe junger Ahornbäume mit tiefhängenden Kronen. Der Hintergarten reichte sechzig Meter den Berghang hinunter. Die Straßenfront war ungefähr vierzig Meter breit. Eliza richtete das Auge auf den Stadtplatz und sagte:
»Hier wird eines Tages der Durchbruch kommen.«
Das Haus war nicht unterkellert. Die Seite gegen den Hang zu und die hintere Veranda standen auf Säulen von nassem, verwitterndem Backstein. Im Winter heulte der Wind höllisch unter der Bodenverschalung. Es gab eine unzulängliche Heißluftheizung. Wenn eingeschürt wurde, strömte diese Vorrichtung eine trockne enervierende Hitze ins Erdgeschoß und puffte ein gasartiges kühles Etwas in die oberen Räume.
Der Platz stand zum Verkauf. Sein Besitzer war ein Gentleman in mittleren Jahren mit einem Pferdekopf, der Reverend Wellington Hodge. Er war unter günstigsten Auspizien als Methodistenprediger nach Altamont gekommen. Aber als er begann, neben Jehovah, dem Herrn der Heerscharen, auch John Barleycorn, dem Geist im Whisky, inbrünstig zu dienen, fing seine Trübsal an. Seine Karriere als Evangelist kam zu einem jähen Abschluß in einer Winternacht, als die Straßen unterm Schneefall verstummten. Wellington, lediglich mit seinem wollnen Unterzeug bekleidet, machte um zwei Uhr nachts einen wilden Ausbruch aus Dixieland. Ein kühner Wettlauf führte den Streiter Christi atemlos aber siegreich vors Portal des Hauptpostamts, wo er das Reich Gottes und die Austreibung aller Teufel verkündigte. Dann hatte er, von seiner Frau unterstützt, ein Boardinghouse aufgemacht, sich schlecht und recht durchgeschlagen. Nun war er verbraucht, entehrt, der Stadt Altamont müde.
Dixieland war für ihn ein Ort des Entsetzens. Er war überzeugt, daß der böse Einfluß dieses Hauses an seinem Verderb mitschuldig sei. Er war ein empfindlicher Mensch; überall, wo er sich im Hause erging, erschienen ihm Gespenster. Da war die Gesimsecke der langen Veranda, wo ein zahlender Gast sich eines schönen Tags zur Stunde des Sonnenaufgangs aufgeknüpft hatte … dort war die Ecke in der Halle, wo die schwindsüchtige Schöne mit einer Lungenblutung zusammengebrochen war … oben war die Stube, wo der Greis sich mit dem Rasiermesser die Gurgel durchschnitt. Wellington Hodge hatte Heimweh nach dem Land, wo es gute Rennpferde, windgewelltes Gras und guten Whisky gibt – nach Kentucky. Er wollte Dixieland verkaufen.
Immer gedankenvoller schürzte Eliza die Lippe, immer öfter wählte sie den Weg durch die Spring Street.
»Dieses Besitztum wird eines Tages schweres Geld einbringen«, bemerkte sie zu Gant.
Gant klagte nicht. Er muckte nicht einmal auf. Es war ihm klar geworden, daß es vergeblich ist, gegen eine unbezähmbare, eine unerbittliche Leidenschaft aufzubegehren.
»Möchtest Du's kaufen?« fragte er.
Sie schürzte die Lippe.
»Es ist ein sehr guter Kauf«, sagte sie.
»Es wird Dich im Leben nicht gereuen«, sagte Dick Gudger, der Immobilienmakler.
»Es ist ihr Haus«, sagte Gant müde. »Mache den Kaufvertrag auf ihren Namen aus.«
Sie sah ihn an.
»Ich will meine Ruh vor Häusern und Grundstücken haben«, erklärte Gant. »Man hat 'ne verdammte Last damit, und am Ende kriegt der Steuereinnehmer doch alles.«
Eliza schürzte die Lippe und nickte.
Sie kaufte Dixieland für 7500 Dollar. Sie hatte Bargeld genug für die Anzahlung von 1500 Dollar. Der Rest war in jährlichen Raten von 1500 Dollar fällig. Es war ihr klar, daß sie dieses Geld aus dem Haus herauswirtschaften müsse.
Im Frühherbst, als die Ahorne noch vollbelaubt und grün standen, als die Schwalben sich im Schornstein zum Zug sammelten, zog Eliza mit Radau und Aufregung in Dixieland ein. Die Familie war äußerst neugierig auf das Unternehmen, aber niemand machte sich eine klare Vorstellung von der Bedeutung des Vorfalls. Gant und Eliza sprachen sich nicht offen aus. Sie spürten und wußten dumpf, daß ihr gemeinsames Leben nun zu einem Abschluß käme, daß ihre Wege sich scheiden würden. Sie sprachen von Plänen, nannten Dixieland eine »gute Kapitalsanlage«, ergingen sich in Ausflüchten. Eliza kreiste bereits um ihre neue Daseinsmitte, ihr Leben wandte sich ganz der Befriedigung der Besitzleidenschaft zu.
Sie hätte unmöglich den Sinn ihres Unternehmens erklären oder rechtfertigen können, aber sie war überzeugt, daß derselbe blinde Drang, der sie nach St. Louis in Tod und Elend getrieben hatte, sie nun auf die rechte Bahn gewiesen habe. Sie war auf dem Geleis.
So wirr, ungenau und oberflächlich die beiden Gatten auch den Bruch ihrer Lebensgemeinschaft, die Auflösung ihres lärmerfüllten gemeinsamen Hausstands behandelten, als die Stunde der Trennung schlug, fanden sich die Elemente stillschweigend und ohne Zaudern zusammen.
Eliza nahm Eugen mit nach Dixieland. Er schlief noch nachts bei ihr im Bett. Er war das letzte Band, das sie mit ihrem schwierigen Dasein als Frau und Mutter verknüpfte. Sie handelte wie ein Schwimmer, der sich in eine dunkle, verzweifelte See hinauswagen will und der eignen Kraft und dem Schicksal nicht ganz vertrauend sich eine Sicherheitsleine anlegt.
Ohne daß viel Worte darüber verloren wurden, als wäre es von altersher so bestimmt, blieb Helene bei Gant.
Daisy sollte in Bälde heiraten. Ein hochgewachsener, glattrasierter Mann hatte sie mit leidenschaftlicher Werbung belagert. Er war Versicherungsagent von Beruf, trug Gamaschen und 15 cm hohe blendendweiße, gestärkte Stehkragen, sprach mit einer öligen, dunkel klöhnenden Stimme, räusperte sich von Zeit zu Zeit ohne Grund leise und hieß Mister McKissem, Daisy argwöhnte insgeheim, daß er wahnsinnig wäre. Sie nahm allen Mut zusammen und gab ihm einen Korb.
Der Freier, dem sie sich anverlobte, war ein junger Mann aus Süd-Carolina, der in einer ziemlich ungeklärten Geschäftsbeziehung zum Krämereigroßhandel stand. Er trug einen Scheitel in der Mitte, vom Bürzel bis in die niedre Stirn herunter, hatte eine weiche, gedehnte, liebenswürdige Stimme; seine Manieren waren herzhaft, sein Auftreten bestimmt, seine Gewohnheiten großzügig. Anläßlich seiner Besuche brachte er Gant Zigarren und den Buben große Schachteln »Assorted Candies« mit. Alle Welt hielt ihn für einen vielversprechenden jungen Mann.
Was die übrigen Kinder anbetrifft – nun, da waren nur noch Ben und Lukas, und sie schwammen sich selbst überlassen im Limbo, Steve hatte seit seinem achtzehnten Jahr meist fern der Heimat gelebt. Er brachte sich als Vagabund auf der Landstraße, als Gelegenheitsarbeiter in New Orleans, Jacksonville, Memphis durch. Dann und wann fälschte er einen kleinen Scheck auf den Namen seines Erzeugers. Nach längerer Zeit gab er dann gelegentlich Gastrollen im Schoß seiner betrübten Familie. Statt einer Anmeldung pflegten er – oder irgend ein Kamerad, der sich zu diesem Behufe den Doktortitel beilegte – heimzutelegraphieren, daß er schwer krank sei, ja, daß er im Sterben läge und in einem Sarg geschickt werden würde, falls es die Eitern nicht vorzögen, ihm noch bei Lebzeiten Reisegeld zu schicken.
So kam es, daß Eugen, noch ehe er acht Jahre alt war, unter ein andres Dach zog und für immer der lärmerfüllten, unseligen, warmen Daseinsmitte des Heims in der Woodson Street verlustig ging. Er wußte nie ganz genau, wo er von Tag zu Tag Mahlzeit und Obdach suchen solle, obschon er völlig sicher war, daß ihm beides gewährt werden würde. Er aß, wo er gerade seinen Hut an den Nagel gehängt hatte, entweder am Tisch seines Vaters oder bei Eliza in der Pension. Gelegentlich, wenn auch sehr selten, schlief er mit Lukas zusammen im alten Haus in einer abgeschrägten, weißgetünchten Hinterkammer, in der es schmökrig nach in Kisten verpackten Büchern und süß nach Garten roch. Dort standen zwei Betten; der ungewohnte Alleinbesitz einer ganzen Matratze beglückte ihn. Er sehnte die Tage herbei, wenn ihm dieses männliche Recht auf immer zuerkannt sein würde. Aber Eliza gab ihn nur selten eine Nacht frei; er war ihr wie ins Fleisch genietet.
Während des geschäftigen Tags vergaß sie seiner. Abends aber hing sie am Telephon, verlangte, er solle zu ihr kommen, machte Helene Vorwürfe, daß sie ihn dort zurückhalte. Eliza führte einen erbitterten heimlichen Krieg um ihn mit der Tochter. Der Betrieb in Dixieland nahm sie untertags oft restlos in Anspruch; plötzlich fiel ihr ein, daß Eugen zu keiner Mahlzeit zugegen gewesen war. Ärgerlich fordernd war sie am Fernsprecher.
»Wirklich, Mama«, antwortete Helene dann gereizt, »er ist Dein Kind, nicht meines. Aber hungrig herumlaufen lassen kann ich ihn freilich nicht.«
»Was soll das heißen? Was soll das heißen? Er ist hier weggelaufen, als das Mittagessen gerade aufgetragen wurde. Ich habe hier eine gute Mahlzeit für ihn auf dem Tisch, hm, ich sage Dir, eine gute Mahlzeit.«.
Helene legte die Hand auf die Muschel, schnitt dem Kleinen, der katzenhaft grinsend dabeistand, eine Grimasse und ahmte Elizas Pentlandsche Sprechweise nach: »Hm, wieso? Willst Du sofort gehorchen, Kind! Ja, das ist gute Suppe, sehr gute Suppe.«
Eugen bog sich vor unterdrücktem Lachen.
Dann sprach sie wieder in den Apparat: »Also, Mama, das ist ganz und gar Deine Angelegenheit. Wenn Eugen nicht da oben bleiben will, kann ich es nicht ändern.«
Wenn der Ausreißer dann in Dixieland erschien, forschte ihn Eliza aus, tadelte ihn scharf, berief seinen Stolz:
»Was soll das heißen, daß Du so ohne weiteres zu Deinem Vater ins Haus läufst. Ich wäre mir zu gut dafür.« Sie machte eine bitter gekränkte Schnute. »Helene will nicht das geringste von Dir wissen. Du fällst ihr nur zur Last. An Deiner Stelle würde ich mich schämen, sch-ä-m-e-n würde ich mich.«
Aber die Zaubermacht und die Eigenheit, der gute Männergeruch und die heimisch-eindringliche, behaglich-behäbige Gemütlichkeit, die Fülle und die Wärme von Gants baumumstandnem, rebenumranktem Haus lockten ihn immer wieder von Dixieland fort, dieser großen kalten Gruft, die ihm besonders im Winter unannehmbar war, weil Eliza mit Kohlen sehr sparte.
Gant hatte Dixieland »Die Scheuer« getauft. Morgens, nachdem er schwer gefrühstückt hatte, machte er den Umweg über die Spring Street nach seiner Werkstatt. Er komponierte nun seine Tirade unterwegs. Er schritt durch die große kalte Diele von Dixieland und erschien in der Küche, wo Eliza mit zwei oder drei Negerinnen das Frühstück für die hungrigen Pensionsgäste richtete, die zur Beschwichtigung ihrer knurrenden Mägen energisch in den Schaukelstühlen auf den Veranden auf- und abwippten. Unvermittelt ließ Gant seine Tirade los; allen Einwänden, Vorwürfen, Beschimpfungen, die er gelegentlich des Kaufs und der Übersiedlung unterdrückt hätte, ließ er nun freien Lauf.
»Weib! Du, die Du mein Haus verlassen, die Du mich zum Gegenstand des Gelächters gemacht, die Du Deine Kinder ins Elend gestoßen hast, Teuflin, die Du bist! Es gibt nichts, das Du nicht tun würdest, um mich auf meine alten Tage zu demütigen, zu erniedrigen, zu quälen. Geflohen bist Du von mir, auf daß ich allein sterbe. O Gott! Ein bittrer Tag war es für mich und meine Kinder, als Du zum erstenmal Deine heißhungrigen Augen auf diese entsetzliche, diese furchtbare, diese verruchte, diese mörderische Scheuer warfst. Es gibt keine Schändlichkeit, vor der Du zurückschreckst, wenn die Aussicht besteht, einen Nickel dabei zu verdienen. Du bist so tief gesunken, daß nicht einmal Deine leiblichen Brüder etwas mit Dir zu tun haben wollen. Weder Mensch noch Biest ist so sehr gefallen!«
Am Herd, in der Speisekammer, im Eßzimmer standen die plattfüßigen trägen Negerinnen und kicherten: