Kitabı oku: «Made in China», sayfa 2

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Die Museumsleitung weiß natürlich, dass Leo Zwirn nicht auf eigenen Wunsch aus Peking nach Xi’an gekommen ist. Genauso wenig, wie er damals freiwillig von Leningrad nach Peking wechselte. Sein Aufenthalt in Peking wurde, so steht es in den Akten, durch »delikate Umstände« in seiner Heimatstadt erzwungen. Über diese »Umstände« verbreitet er selbst gern Versionen und Erklärungen, die allerdings nur in Bruchstücken mit den Einträgen seiner Personalakte übereinstimmen:

»Die Bezeichnung ›Filou‹ in Bezug auf meine Person ist ein Schimpfwort, das noch aus dem Sprachschatz der bürgerlichen Reaktion stammt. Mein Lebenswandel stand stets in Einklang mit den hohen Normen der partnerschaftlichen Gleichberechtigung im Sozialismus.«

Oder:

»Es handelt sich um ein bösartiges und rein formalistisches Anschwärzen meiner Person, wenn Genosse W. behauptet, ich hätte das Restaurieren von Erzeugnissen der Sowjetkunst dazu benutzt, neue Werke für den Export in den internationalen Handel zu befördern, und dafür ›schwarze‹ Devisen verlangt und bekommen.«

Aber da nicht nur im Fall des Leo Zwirn sorgfältig geführte Aktenprotokolle aus der UdSSR und der Volksrepublik China über Schicksale wie das des Neuankömmlings bestimmen, hatte er keine andere Wahl, als sich an diesem 7. März 1960 in Xi’an einzufinden. Personalakten, ganz gleich, ob sie in Leningrad oder in Peking lagern, sind kaum einnehmbare Festungen. Ganz besonders schwer haben es die Figuren, von denen die Dokumente handeln, in diese Festungen vorzudringen. In Zwirns lederner Aktentasche befinden sich die Kopien von mehreren Dutzend Schreiben, die er teils direkt für die zuständigen Behörden verfasst, teils an Verwandte oder gute Freunde geschickt hat, von denen er hofft, sie könnten sich dort für ihn verwenden.

»Ich verwehre mich strikt gegen den Vorwurf«, heißt es in einem dieser Briefe, »ich hätte mich in der Affäre der gefälschten und ins kapitalistische Ausland verkauften Gemälde von Kasimir Malewitsch persönlich bereichert und damit als Feind und Schmarotzer der werktätigen Künstler betätigt. Der Zustand der Leinwände ließ keine Restaurierung zu und verlangte nach Neuschöpfungen der Originale. Dass diese mehrfach erstellt werden mussten, lag und liegt in der Natur der Sache. Über den weiteren Verbleib beziehungsweise Nicht-Verbleib der Objekte im Magazin unseres Museums war und ist mir nichts bekannt.«

»Nein«, beginnt ein anderer Brief, »ich weise mit allem Nachdruck die Behauptung zurück, die Tochter des stellvertretenden Kultursekretärs der Stadtverwaltung sowie die Enkelin des Generalstaatsanwalts und deren Halbschwester geschwängert zu haben. Mir sind die Genossinnen zwar vom Augenschein her bekannt, doch nur in einem streng beruflichen Zusammenhang, weil sie an meinen Zeichenkursen teilnahmen.«

Weitere Schreiben leugnen seine Teilnahme an einer spiritistischen Séance im Refektorium des Alexander-Newski-Klosters, für die er sich als Nonne verkleidet habe, und den Diebstahl eines Fahrrads in angetrunkenem Zustand.

Von seiner Personalakte in Leningrad kennt Zwirn allerdings nur jene Passagen, die ihm sein jüngerer Vetter Sascha vor anderthalb Jahren hinter der Kantine des Russischen Museums im akustischen Schutz einer lärmenden Kapelle anvertraut hat: »Immer wieder werden von Zeugen Einfallsreichtum und technisches Geschick des Leo Zwirn positiv hervorgehoben. Dazu dessen hohe Merkfähigkeit von Details und schnelles Erfassen verborgener Zusammenhänge und die erforderliche Entschlossenheit, darauf strategisch zu reagieren. Sein Lehrer, Akademiemitglied Woroschilow, hat ihn im Kollegenkreis einmal nach zwei Figuren eines Romans von Dostojewski als die gefährliche Mischung aus einem Großinquisitor und Jesus bezeichnet. Nach Einzelheiten befragt, gab Woroschilow zu Protokoll, Zwirn habe sich gleichzeitig das Vermögen attestiert, Wunder zu vollbringen und diese aus der Welt zu schaffen. Der Zeuge war bei dieser Befragung allerdings schwer alkoholisiert.«

Zu den Vorwürfen, die gegen ihn in Peking erhoben wurden, kann Zwirn sich nicht äußern, weil ihm diese noch gar nicht mitgeteilt wurden. In der sowjetischen Botschaft der chinesischen Hauptstadt hatte er nur eine Person, der er glaubte, vertrauen zu können. Das war Rita, die Stellvertreterin des Kulturattachés, die ihm ein paar Mal für seine Zeichnungen als Modell zur Verfügung stand. Ritas Ehemann arbeitete übrigens in der Konsularabteilung und unterhielt enge Beziehungen zu den chinesischen Kollegen in deren Ausländerbehörde, die auch für den Fall Leo Zwirn zuständig war. Doch gerade zu diesem Zeitpunkt stürmten die politischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik und der UdSSR auf einen gefährlichen Höhepunkt zu, um nicht zu sagen auf einen vorläufig endgültigen Bruch.

»Die werden uns Russen hier bald alle rauswerfen, Ritotschka«, ruft Ritas Mann eines Abends durch die Wohnung im Botschaftsgebäude. Er sortiert gerade Aktenbestände und trennt das Dienstliche vom Privaten. Der Name »Ritotschka« ist eine Koseform, die er nur ganz selten anwendet, doch heute bewegt ihn ein unbestimmbarer Hauch von Abschied. Seine Frau bereitet sich gerade in ihrem Schlafzimmer auf den Auftritt eines Eisenbahnerchors von Gewerkschaftern aus Kiew vor und sucht in einer Schatulle nach einem Schmuckstück, das weitläufig mit Musik oder mit Eisenbahnen, am besten mit beiden, zu tun hat. Sie hält eine Brosche an das Revers ihres Kostüms und antwortet nur: »Gut, gut, mein Täubchen, mach nur weiter, aber reg dich nicht auf, das wird sich alles klären, wir sehen uns später, ich freue mich schon.«

Später am Abend erkennt Rita, dass diese schlichte, vielleicht ein wenig nervös dahingesprochene Aufforderung »mach nur weiter« ein verhängnisvoller Fehler war. Ihr Gatte, Alexej Anatolowitsch, findet bei diesem von Rita ermutigten Akt des Weitermachens eine Reihe von Aktzeichnungen, teils in Kohle, teils in Tinte gefertigt, in denen er unschwer seine Gemahlin wiedererkennt. Den Künstler dieser Darstellungen zu identifizieren fällt Alexej Anatolowitsch ebenfalls nicht schwer.

In der Unterhaltung der Eheleute nach der Rückkehr der Gemahlin vom Konzert des Chors der Eisenbahner aus Kiew geht es, man darf das vermuten, heftig zu. Naturgemäß wird das Argument der künstlerischen Freiheit gegen jenes der ehelichen Treue ausgespielt. Andere Vorfälle werden in Erinnerung gerufen, die ebenfalls unterschiedliche Deutungen des angemessenen Verhaltens der einen oder der anderen Seite zur Disposition gestellt haben. Der russischen Literatur ist hier für viele Vorlagen zu danken. Nein, es kommt nicht zu opernhaft spektakulären Höhepunkten zwischen Rita und Alexej. Es fließt kein Blut, Hämatome werden nach innen getragen.

Dennoch wird der Liebesvorrat des Ehepaars an diesem Abend nicht weniger ausgeplündert als die vielbeschworene »Unzertrennlichkeit« in den Beziehungen zwischen der UdSSR und der Volksrepublik China infrage gestellt.

Eines, gewiss nicht das unwichtigste Opfer, ist Leo Zwirn. Konkreter gesagt: dessen Personalakte in der Verwahrung des Amtes für Öffentliche Sicherheit in Peking. Rita hatte sie, um ihn schützen zu können, angefordert – und auch ausgehändigt bekommen. Nach dem Streit mit dem Gemahl verschwindet das Dokument zusammen mit den Aktzeichnungen. Die Vernichtung von Akten und anderen Asservaten gehört schließlich zur Routinearbeit diplomatischer Vertretungen.

6

Da das schwere Gepäck von Zwirn mit der Eisenbahn nach Xi’an befördert wird, dauert es mehrere Tage, bis die Ladung, beschriftet mit kyrillischen Buchstaben und chinesischen Zeichen, vor dem Gästehaus an der alten Stadtmauer angeliefert wird.

Um dieselbe Frist verzögert sich der Einsatz der Mitarbeiter des Amtes für Öffentliche Sicherheit, die das Gepäck des russischen Gastes nach politisch relevanten Auffälligkeiten untersuchen werden. Nein, das ist kein Misstrauen, nur der Anstoß, sich das Neue und das Fremde der eigenen Aufgabe dienstbar zu machen.

Leo Zwirn befindet sich an diesem Tag auf einer Konferenz, zu der sein Direktor, Professor Wen, geladen hat. Zwirn soll den Kollegen aus der gesamten Provinz vorgestellt werden, damit, wie es in Punkt 1 des Rundschreibens heißt, »fachlicher Austausch im allerherzlichsten Geist der sozialistischen Solidarität« vollzogen werden kann. Der Parteikommissar hat für das Treffen die Stadt Yan’an bestimmt, die gut dreihundert Kilometer nördlich von Xi’an liegt, eine Entfernung, für die ein Kleinbus kaum sieben oder acht Stunden benötigt. Es kann allerdings zu einem Problem werden, wenn der Bus sich auf dieser Reise über teilweise schadhafte Landstraßen eine Beschädigung zuzieht, die dann vielleicht erst in einer Woche behoben werden könnte.

Yan’an ist dennoch eine gute Wahl, weil sich der Name der Stadt unauslöschlich mit der Geschichte des Siegeszuges der von Mao geführten Kommunistischen Armee verbindet. In Yan’an hat Mao vor nicht einmal zwanzig Jahren seine radikalen Ansichten über die Aufgabe der Kultur und deren Bedeutung niedergelegt, wenn sie ein hilfreiches Werkzeug im Klassenkampf sein will – und der Himmel habe Gnade mit denen, die eine andere Vorstellung von Kulturarbeit haben.

Yan’an, das ist der zweite Grund für die Wahl, verfügt auf Grund der historischen Bedeutung dieses Ortes über Gästehäuser und – was noch wichtiger ist – über Köche, die früher in den bedeutendsten Hotels von Shanghai oder Peking ihre Kunst lernten. Selbst in Xi’an, immerhin einer Provinzhauptstadt, bekommen Gäste nicht jeden Tag so raffinierte Nudelspeisen serviert wie in der Kantine des Revolutionsmuseums, ganz zu schweigen von der scharf gewürzten Kamelhufsuppe, die auch als Heilmittel bei Kniebeschwerden in gutem Ruf steht.

Parteikommissar Wu schickt seinen Stellvertreter auf die Dienstreise, denn er will persönlich die Durchsuchung von Zwirns Gepäck leiten. Auch die Kuratorin Frau Wang muss zurückbleiben. Sie gilt seit ihrer Arbeit an der Wiederherstellung eines Farbdrucks, der Lenin bei der Ankunft auf dem Finnischen Bahnhof in St. Petersburg zeigt, als Kennerin der russischen Kultur und hat einmal beiläufig behauptet, das Geheimnis eines jeden russischen Mannes könne man aus dem Inhalt seines Koffers erschließen. Das habe sie bei einem berühmten russischen Schriftsteller gelesen. Ihr Vorgesetzter hält das seitdem für einen sachdienlichen Hinweis.

Naturgemäß verabschiedet der Parteikommissar die kleine Delegation am Morgen der Abreise persönlich. In seiner kurzen Abschiedsrede setzt er gleichzeitig einen Akzent auf sein Bedauern, in den nächsten Tagen einer »wichtigen Verantwortung« nachgehen zu müssen, wie auf die Hoffnung, »Genosse Zwirn« werde auf dem Weg nach Yan’an Gelegenheit finden, das Grab des legendären »Gelben Kaisers« in Augenschein zu nehmen.

»Der Erste Gelbe Kaiser«, wiederholt der Politische Kommissar, als er aus Zwirns Gesichtszügen nur blankes Unverständnis zu lesen glaubt. »Das ist etwa genau fünftausend Jahre her. Der Wichtigste unserer Vorfahren. Er kam aus dem Firmament, exakt aus dem Sternbild des Löwen«, fügt er erklärend hinzu, als Zwirns Augenbrauen noch immer fragend in die Höhe zeigen. »Das funktionierte wie euer Sputnik vor fünf Jahren. Sozialistische Kulturarbeit muss immer das Produktive im Alten für das Neue finden.«

Leo Zwirn nickt, als ihm sein Übersetzer die Worte erläutert. Er habe verstanden, antwortet er, und sein eigener Vorname sei ja Leo, was genau »Löwe« bedeute, daher kenne er sich in solchen Missionen schon seit seiner Geburt aus. Aber Scherze sind im Inventar der Ausdrucksweisen des Kommissars nicht vorgesehen, sie stimmen diesen nur misstrauisch. Also erklärt er noch einmal streng: »Der Erste Gelbe Kaiser hat die Medizin erfunden und den Kompass, den Kalender, die Mathematik und vieles mehr«, ruft er, »Melonen und das Schießpulver. Und das Bauen von Mauern.« An dieser Stelle hält der Redner kurz inne, als sei eine wichtige Information noch nicht erteilt. »Er hat China 100 Jahre regiert, vielleicht auch 118 Jahre, lebte aber viel länger, und sein Grabstein steht direkt am Weg nach Yan’an«, schließt er, »einen Besuch dort wird man nie im Leben vergessen.«

Darauf ballt der Kommissar seine hochgereckte linke Faust und bläst in eine Trillerpfeife, gleichzeitig zur Bestätigung seiner Worte und um dem Fahrer das Zeichen für die Abfahrt zu geben.

7

Die Durchsuchung der Gepäckstücke des Gastes aus der Sowjetunion beginnt nur wenige Stunden, nachdem der kleine Bus der Delegation das nördliche Stadttor durchquert hat. Der Politische Kommissar, er heißt mit Nachnamen zwar einfach Wu, hört es aber nicht ungern, wenn er »der Stählerne Wu« genannt wird, denn auch Stalin gehört zu seinen Helden, der Stählerne Wu also hat für die Aktion eine eigene Mannschaft aufgestellt. Zu ihr gehören neben der Restauratorin Frau Wang zwei zivile Angehörige des Amtes für Öffentliche Sicherheit, deren Namen vorschriftsgemäß alle sechs Monate wechseln, sowie eine ältere Genossin, die für die Erstellung des Protokolls zuständig ist. Auch das Protokoll ist, wie selbstverständlich die gesamte Operation, der striktesten Geheimhaltung unterworfen.

Zu dieser Maßnahme gehört auch, dass diese Genossin im weiteren Verlauf der Bestandsaufnahme nur unter dem Namen »Protokoll« oder »Merker« aufgeführt wird. Die Bezeichnungen »Merker« und »Protokoll« sollte nach älteren Vorschriften die neutrale Position der Schriftführer betonen. Im Zuge der revolutionären Umgestaltung gilt Neutralität aber als ein Feind des Klassenkampfes, und so hält »Merker« am Abend dieses Tages in ihrem Protokoll fest:

1. (Allgemein.) Die ersten Funde ergeben kein eindeutiges Bild, weil noch zwei weitere Gepäckstücke geöffnet werden müssen, deren Zugang aber nicht ohne erhebliche Beschädigung ihrer Sperrvorrichtungen erfolgen kann. Diese Sicherung deutet auf konspiratives Verhalten.

2. Die Garderobe besteht aus sechs Anzügen ausländischer Webart, zwölf Oberhemden einer Seide- und Baumwollmischung, vier Paar Schuhen und der üblichen Leibwäsche. Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer bürgerlichen, vielleicht auch halbfeudalen Ausstattung. Besonders auffällig auch die mehrfach gestreiften Socken.

3. Der in einer Hutschachtel mitgeführte Vogelkäfig wurde auf dem Gebiet der Volksrepublik hergestellt, stammt aber aus der Zeit vor der Befreiung. Eine Untersuchung der Gitterstäbe als mögliches Material für eine Funkanlage wurde eingeleitet.

4. Genossin Wang wird das tragbare Grammophon mit den zwölf Schallplatten auf deren Inhalt überprüfen. Sie verantwortet auch die Auswertung der Bücherkiste, die zwanzig Bücher in russischer Sprache enthält, die revisionistisches oder konterrevolutionäres Material enthalten können.

5. Ein Beutel mit Reiseutensilien wie Rasiermesser und Rasierpinsel enthält auch sieben Lippenstifte ausländischer Produktion, nach Einschätzung der Genossin Wang vermutlich französischer Herkunft.

6. In der Innentasche des größeren Lederkoffers steckt das aufklappbare Bild einer jungen Frau in goldgelber Kopfhaube, das von Genossin Wang als »Klapp-Ikone« bezeichnet und dessen Bedeutung noch von ihr ausgewertet wird.

7. Kommissar Wu hat in einem zweiten (kleineren) Lederkoffer ausländische Medikamente sichergestellt, deren Inhalte zwecks toxikologischer Bedenklichkeit an die zuständigen Organe der städtischen Gesundheitsbehörde weitergeleitet werden.

»Das Protokoll«, eine fast fünfzigjährige Frau, die noch als Kind am legendären »Langen Marsch« und am Bürgerkrieg teilgenommen hat, heißt übrigens auch Wu, also wie der Kommissar, ist aber nicht mit ihm verwandt. In China gibt es nun einmal nur die »alten hundert Familiennamen«. Aus vielerlei Gründen hegt sie gegen ihren Namensvetter eine nicht nach außen gekehrte Abneigung. Der Stählerne Wu, das ist nur eines ihrer Motive, hat nie am »Langen Marsch« teilgenommen und sich trotzdem schnell und windig in der Partei nach vorn gearbeitet. Ein Ehrgeizling, der, wie das Sprichwort ihrer Heimat sagt, »den Rücken nicht nur beim Scheißen krümmt«.

›Ihm fehlt praktisch alles‹, denkt sie, ›besonders aber die Erfahrung persönlichen Leids: der Schmerz, einmal oder mehrfach selbst Opfer, nackte, hilflose Kreatur geworden zu sein, die Scham, selbst einmal aus blindem oder aufgeputschtem Hass einen wehrlosen Gegner niedergestochen zu haben, das Gefühl der Ohnmacht, den Wundfiebrigen nicht einmal einen Schluck Wasser reichen zu können.‹ Frau Wu hat als Gegenwehr für ihre eigenen Gefühle ein detailliertes Gedächtnisprotokoll angelegt, das sie laufend verfeinert. Wenn sie während der täglichen Arbeit oder nachts nach einem bösen Traum eine Erinnerung überfällt, bekommt sie einen so kurzen wie heftigen Schluckauf. Sie greift dann sofort nach einem kleinen Schreibblock, notiert in hastig hingeworfenen Zeichen zwei, drei Stichworte, die sie später in ihre Aufzeichnungen einarbeitet und nimmt, um nicht aufzufallen, einen Schluck aus dem Teebecher. Fast immer ist dann auch der Schluckauf vorbei.

Ihre Kollegen haben dafür keine Erklärung, halten diese kleinen Anfälle mittlerweile aber für ein natürliches Gebrechen einer Frau ihres Alters und ihrer Generation. Die jüngeren schieben ihr ein Papiertaschentuch zu. »Geht schon. Nur ganz langsam trinken! Achtmal bringt Glück!«

Frau Wu nennt in einem ihrer Gespräche mit der Restauratorin Frau Wang, der einzigen Person übrigens, der sie sich, wenn auch nicht häufig, anvertraut, noch einen weiteren Grund für ihre Abneigung gegen ihren Namensvetter, den Stählernen Wu. Nein, sie ist nie persönlich von ihm als Frau bedrängt worden. Warum auch? Sie, mit ihrem dürren Körper, dazu noch in ihrem Alter, wo sie doch weder die Verlockung sinnlicher Reize, geschweige denn das Versprechen auf politische Aufstiegschancen anzubieten hat.

»Besonders schlimm wird es mit meinem Schluckauf, wenn Wu sich eine hübsche Kandidatin für die Parteihochschule aufknöpft. Das weckt ganz schreckliche Erinnerungen.«

»Aufknöpft?«

»Verzeih, ich meine natürlich ›vorknöpft‹. Ich muss ja immer dabei sein, wenn diese Prüfungen stattfinden. So ist die Vorschrift der Partei. Und er hat die Angewohnheit, nach einer schwierigen Frage seine Finger spielerisch tastend über die Knöpfe seines Hosenschlitzes tanzen zu lassen. Als würde er Mücken jagen. Wenn er länger auf die Antwort warten muss, werden diese Bewegungen immer heftiger.«

»Ekelhaft!«

»Er tut einfach, als wäre er allein mit dieser Kandidatin im Raum, als gäbe es mich gar nicht, als wäre ich nicht mehr als der Dreck einer Fliege auf der Fensterscheibe. Nie hat er mich einmal genauer angeschaut. Nicht, dass ich so etwas je gewollt hätte, aber als Genossin verdient man schließlich einen gewissen Respekt.«

»Und dann?«

»Dann ist die Befragung beendet, und er lädt die Kandidatin zu einem Essen ein. Das nennt sich ›persönlicher Erfahrungsaustausch mit jungen Kadern‹ und wird nicht protokolliert. Ich gehe dann zwar gemeinsam mit ihnen in die Kantine, er aber allein mit ihr in den abgetrennten Privatbereich im ersten Stock.«

BESUCH IN YAN’AN

1

Wie es sich versteht, gehört auch der kleine Saal, in dem sich an diesem Abend die Delegation aus Xi’an mit den Kollegen aus Yan’an zum Abendessen eingefunden hat, zur »Abteilung für Privilegierte«, liegt mithin in einem abgelegenen, höheren Flügel des Gebäudes. Hier werden die abgenagten Hühnerknöchel, Fischköpfe, Gräten und Entenfüße, die ausgesaugten Krebsschwänze und auch die Zigarettenkippen in halbstündiger Regelmäßigkeit vom Steinboden zusammengekehrt. Hier gleiten die Getränke aus größeren, schmuckvolleren Behältern in Gläser, die umstandslos nachgefüllt werden. Hier spielt im Hintergrund ein leierndes Grammophon rumpelnde Tanzweisen, und die Kellnerinnen tragen dunkelrote, hochgeschlitzte Röcke aus Samt oder einem Samtimitat, deren Saum gut zwei Handbreit über dem Knie endet.

Leo Zwirn empfindet an diesem Abend nach langer Zeit ein Gefühl von, nein, nicht von Heimat, doch, wie er einen Tag später in einem Brief an seinen Vetter festhält, »von einem anarchischen Zuhause. Jedenfalls einem vorläufigen Zuhause, in dem viele Regeln gelten und sofort wieder aufgehoben werden, wenn sich das Machtgefüge auch nur geringfügig ändert. Alles so wohltuend unaufgeräumt. Die Regeln laufen durcheinander wie Hühner in einem Hof, über dem mehrere Habichte kreisen. Als sogenannter Experte bin ich teils Habicht, teils Huhn. Aber was genau meine Aufgabe ist, hat man mir noch nicht mitgeteilt. Der Direktor des Museums will, dass ich als sowjetischer Fachmann seine Position stütze, der Parteikommissar, so habe ich nach dem gestrigen Abendessen den Eindruck, will mich am liebsten loswerden, hat aber wohl die Weisung aus Peking, an mir festzuhalten. Gut, das haben mir die Kollegen so erzählt, als deren Augäpfelchen nach acht Lagen Hirseschnaps schon längst tizianrot umrandet und ihre Gürtelschnallen längst keine Fesseln mehr waren.«

Zwirn überlegt kurz, ob das Bild der Gürtelschnalle als Fessel des Leibes nicht zu gewollt literarisch klingt, schlimmer noch: nach einem schludrig geschriebenen Roman. Dabei fällt ihm ein, dass sein Füllfederhalter bald leer sein wird. Das Gästehaus hat ihn ausreichend mit Tinte versorgt, sogar ein Extrafläschchen auf das Nachtschränkchen neben dem Bett gestellt. ›Warum eigentlich auf das Nachtschränkchen?‹, fragt er sich jetzt, ›Glauben die hier etwa, ich wache nachts auf und suche als erstes nach einem kleinen Tintenfass?‹ Er wirft einen Blick über seine linke Schulter und sieht, dass auf dem braunen Schränkchen eine nur noch zur Hälfte gefüllte Schnapsflasche steht. Im Schein der Nachttischlampe, die Zwirn seit seiner Ankunft vergeblich auszuknipsen versucht, schimmert ihr Inhalt wie milchig gebrochenes Wasser. Über dem Boden der Flasche schwimmt ein graugrünlich gepanzertes Tier, vielleicht eine kleine Echse, den Kopf zum Betrachter gerichtet. Der Russe klopft dem Tier einen kurzen Gruß ans Glas, plötzlich erlischt das Licht.

Zwirn findet ein weiteres Tintenfass in der Schublade, füllt nach und gießt sich einen Schluck aus der Flasche mit der Echse in sein Zahnputzglas. Seine Handschrift, registriert er zwei Absätze weiter, nachdem er seinen Brief an den Vetter fortgesetzt hat, zeigt kaum Abweichungen von ihrem vertrauten Erscheinungsbild.

»Es wird hier übrigens angenehm ausgiebig getrunken und das in einer Abfolge, die so schwer zu berechnen ist wie ein nicht gezinktes Kartenspiel. Der Spielregel: süße Limonade sticht Hirseschnaps, Hirseschnaps muss mit schwerem Rotwein bedient werden, schwerer Rotwein fordert kubanischen Rum, habe ich mich gestern nur mit großer Anstrengung beugen können. Alles in allem aber eine glückliche Erscheinungsform des Anarchismus.«

Zwirn überlegt gerade, ob man in einem Brief die politisch brisanten Wörter »anarchisch« oder »Anarchismus« mit der ihm eigenen Leichtfertigkeit verwenden soll, da tritt, nein hüpft, gleichzeitig mit oder besser vor seinem Anklopfen, der Hausmeister ins Zimmer. Seine linke Hand ist zu einer Art proletarischem Gruß erhoben, in der rechten trägt er eine Glühbirne, die er in die Nachttischlampe einschraubt.

»Strom«, sagt der Hausmeister, ein Wort, das Zwirn aus seinem chinesischen Lehrbuch noch nicht kennt. Dann leuchtet es wieder unter dem Schirm, und der Hausmeister hüpft grußlos davon. Zwirn beschließt, erst später über diesen Vorfall nachzudenken, und beugt sich wieder über seinen Brief.

»Deswegen musst du auch verzeihen, mein lieber Sascha, wenn mein Brief etwas torkelt. Ich bringe ihn auch nur deswegen zum Abschluss, weil hier der Postverkehr nach Auskunft meiner Kollegen noch so verlässlich funktioniert wie im Zarenreich. Das hängt damit zusammen, dass Yan’an durch seine Geschichte mit Mao in der Revolution den Status einer Heldenstadt genießt, Briefe von hier werden von Habichten und nicht von Hühnern weiterbefördert. So etwas Ähnliches wollte ich vorhin mit dem Bild vom Hühnerhof andeuten, da war ich aber beim Schreiben noch nicht so nüchtern wie jetzt, wo mir bald schon wieder die Tinte ausgeht.

Trotzdem eine wichtige Bemerkung vor der Schlussumarmung, lieber Vetter: Alle Welt erzählt mir, dass die Beziehungen zwischen unserer UdSSR und der Volksrepublik vor dem Ende stehen, wenn sie nicht bereits das Ende hinter sich haben. Ehrlich gesagt, ich habe hier keine noch so kleinen Schnipsel von Informationen, wahrscheinlich, weil mir meine Papiere abhandengekommen sind. Kannst du mir Verlorenem da weiterhelfen? Ein chinesischer Kollege, der in Xi’an nach historischen Knochen oder Helmen aus Bronze oder was weiß ich forscht, hat mir gestern anvertraut, dass es hinter dem dortigen Bahnhof einen kleinen Laden gibt, in den nach wie vor bester Beluga und erstklassiger Wodka aus Weißrussland geliefert werden. Ich betrachte das als Zeichen der Hoffnung und bitte dich, in diesem Sinne auch Freunde zu trösten, die mich vielleicht vermissen mögen. Sag ihnen, ich sei verzweifelt und bereit, meine wildesten Phantasien auszuleben. Wie stets wünsche ich euch fremde Welten und tiefe Klänge…«

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