Kitabı oku: «Made in China», sayfa 3

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Die Briefmarke, die Zwirn im Postamt gegenüber dem Gästehaus von einem sehr jungen Mann, fast noch einem Kind, erwirbt, zeigt das Profil des Parteivorsitzenden aus der Zeit, in der er Anfang der Vierzigerjahre über die Zukunft des Landes befindet. Auf den ersten Blick wirkt Mao auf dem Bild vielleicht eine Spur zu gut ernährt, bedenkt man, wie entbehrungsreich die Jahre waren, die gerade hinter ihm liegen, der Marsch durch die Sümpfe, das Durchkreuzen der Wüsten, das stürmische Hangeln an dünnen Seilen über steilste Schluchten – die Geschichten des »Langen Marsches« sind ja bestens bekannt. Ein wenig ungewöhnlich ist daher auch die Gesellschaft, in welcher der Parteivorsitzende sich befindet: Über ihm schwebt eine Figur, in der auch ein nicht auf Asien spezialisierter Kunstverständiger wie Zwirn fast auf den ersten Blick Guanyin, die buddhistische Göttin des Mitgefühls, erkennen kann. Umgeben wird diese Gestalt von mehreren weiblichen Wesen, die auch Mao offenbar umtanzen und deren hauchdünne Schleier, wie man früher gern sagte, ihre anmutigen Körper eher verdeutlichen, als sie zu verbergen.

Es ist ein prächtiges, ein auffälliges Postwertzeichen, und Zwirn kauft gleich ein Dutzend der Marken. Er kennt natürlich das Porto für einen Luftpostbrief und hat auch längst schon gelernt, die zwei Zeichen für sein Heimatland korrekt auf den Umschlag zu schreiben. Und nicht nur diese beiden. Für einen Anfänger sind das sehr komplizierte Zeichen. Jeden Tag lernt er ein paar neue hinzu. Es hilft ihm dabei, sein schon bei früheren Gelegenheiten erwiesenes Talent, bildliche Vorlagen verlässlich im Hirn abspeichern und dann noch Wochen später fast originalgetreu reproduzieren zu können. Zwirn selbst nennt das spöttisch seinen »ganz persönlichen Anteil am humanen Affenerbe«. Allerdings wünscht er sich an manchen Tagen und nach vielen zerknüllten Blättern im Papierkorb, die chinesische Schrift wäre von ihrer Struktur her so übersichtlich angelegt wie, sagen wir, die streng abstrakten Kunstwerke von Kasimir Malewitsch, denen früher seine Aufmerksamkeit gehörte.

Um sicherzugehen, beim Adressieren keinen Fehler gemacht zu haben, zeigt Zwirn den Umschlag einer Kollegin, Expertin für Vasen aus der späten Ming-Dynastie, mit der er sich in der vorgestrigen Nacht nach zwei Walzern über klassisches Aktzeichnen unterhalten und deren Russisch sich selbst zu vorgeschrittener Stunde noch als sehr brauchbar erwiesen hat.

»Ich würde das auf keinen Fall abschicken«, sagt die Kollegin, die den Brief kurz in die Hand genommen, gemustert und gleich wieder fallen gelassen hat. »Auf keinen Fall«, wiederholt sie, jede Silbe mit einem Taktschlag ihres ausgeprägten Kinns verstärkend. Dabei fixiert sie den Mann, in dessen Armen sie sich noch vor kurzem schmiegsam nach den Takten von Johann Strauß bewegt hat, mit einem vorwurfsvollen Blick, als sei ihr nicht der Umschlag, sondern der Anstoß erregende Inhalt eines Schreibens zur Überprüfung vorgelegt worden.

So jedenfalls kommt es Zwirn vor, der sich mit einem Schlag gleichzeitig schuldig und bloßgestellt fühlt. In seinem Kopf zieht jetzt noch einmal Zeile für Zeile seines Schreibens an den Vetter in Leuchtschrift vorbei. Diese Leuchtschrift blinkt immer dann besonders grell, wenn die Wörter »anarchisch« oder »Anarchismus« auftauchen. Weder in der Volksrepublik China noch in der Sowjetunion wecken diese Ausdrücke bei wohl- oder übelmeinenden Lesern eine positive Gedankenkette. Zwirn hat da bereits äußerst unangenehme Erfahrungen gemacht, damals, als ihm die Begründung für die Verschickung nach Peking eröffnet wurde. Plötzlich erinnert ihn seine Nase an den Gestank von Arrestzellen in Leningrad, in denen er bereits mehrfach zwei oder drei Nächte verbringen musste.

»Mein Brief ist privat und enthält keinerlei politische Provokation. Ich will nur meinem Vetter und meinen Freunden ein kleines Lebenszeichen senden. Wie es hier aussieht, was wir essen, welche Kunstwerke wir schätzen. Glaubst du etwa, ich treibe hier Spionage?«

Die Kollegin bleibt für einen Moment stumm und blickt auf ihre ausgestreckten Handflächen, die sie wie zum Empfang oder Überreichen einer Gabe nebeneinander geöffnet hält. Dann streicht sie über ihren Rock, als müsse sie diesen tief über die Knie verlängern.

»Niemand redet hier von Spionage, aber du bist Ausländer und kennst nicht die Regeln, die bei uns gelten.«

»Soll ich dir den Brief vorlesen? Oder willst du ihn selber lesen?«

Die Kollegin faltet jetzt die Hände und sagt gelassen: »Das ist nicht nötig.«

»Aber ich bestehe darauf«, ruft Zwirn. »Du wirst sehen, ich behandle alles hier mit großem Respekt. Auch das Denkmal eures Urkaisers. Auch den Postverkehr. Auch über eure Frauen schreibe ich nichts Respektloses. Ich habe auch niemanden denunziert. Das ist auch ganz und gar nicht meine Art. Ganz im Gegenteil. Oder …«, an dieser Stelle überkommt den Russen ein böser Verdacht, »oder heißt das, ihr habt den Brief bereits gelesen, während ich nicht in meinem Zimmer war?«

»Es geht nicht um den Inhalt des Briefes«, sagt die Kollegin, »der Inhalt geht mich überhaupt nichts an, ich arbeite nicht für die in diesem Fall zuständigen Organe, das ist überhaupt nicht meine Verantwortung.«

»Und worum geht es?«

»Es geht mir nur um den Briefumschlag.«

»Den Umschlag?«

»Genau gesagt geht es um die Briefmarken, die du gekauft und darauf geklebt hast.«

»Das verstehe ich so wenig wie der Goldfisch das Klavierspiel, selbst wenn er auf dem Flügel schwimmt.« Zwirn ist immer noch erregt, doch die Spannung lässt fühlbar nach. ›Zu wenig Porto‹, denkt er, ›das wird ja wohl kein Verbrechen sein. Verwunderlich nur, dass die Kollegin ihre Erklärung nicht mit einem Lächeln einleitet.‹

»Es gibt seit einigen Jahren keine Briefmarken, die den Vorsitzenden Mao abbilden. Das hat politische Gründe und folgt strengen Regeln. Was du also eingekauft hast, sind schlicht Fälschungen. Entweder Fälschungen für Geld oder Fälschungen zur Verfolgung bösartiger politischer Ziele.«

»Also Ramsch?«

»Viel schlimmer! Wenn du den Brief mit diesen Marken in den Postkasten eingesteckt hättest, wäre er nie in deiner Heimat angekommen, das ist noch das Geringste. Aber in kürzester Zeit hätten dich die Genossen vom Amt für Öffentliche Sicherheit ausfindig gemacht und dich beschuldigt, regierungsfeindliche Briefmarken in Umlauf gebracht zu haben. Daraus wäre für uns alle großer Schaden entstanden, wir sind ja deine Kollegen und tragen für dich Verantwortung.«

»Ich habe die Marken ganz normal in einem Postamt gekauft, direkt auf der anderen Straßenseite, gegenüber unserem Gästehaus.«

»Und wer kann das bezeugen? Warst du allein?«

»Der Verkäufer natürlich, ein junger Kerl, für mich fast noch ein Kind. Ich habe ihn gar nicht besonders beachtet. Ich habe ihm nur den Umschlag gezeigt und die Adresse, da hat er genickt und mir die Marken über den Tresen geschoben.«

Zwirn ruft sich den Vorgang in Erinnerung. Ja, er ist allein in dem Amt gewesen, der Verkäufer trug keine Postuniform, nur ein weißes Unterhemd und gepunktete Hosen, als sei er gerade aus dem Bett gekommen. Doch diese Hosen waren auch nichts Auffälliges. In China, hat er gelernt, trägt man offenbar häufig dieselben Hosen zur Tages- wie zur Nachtzeit. Frauen wie Männer. Gerade wenn die Temperaturen angestiegen sind und nicht mehr zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang unterscheiden wollen.

»Kannst du sein Gesicht beschreiben oder seine Körpergröße?«, fragt die Kollegin, deren Stimme jetzt weniger besorgt, vielmehr schnurrend klingt, so wie bei jenem letzten Langsamen Walzer, als sie gegen Ende sagte: »Vielleicht später, bei einem anderen Mal, mein Täubchen.«

Das russische Wort »Täubchen« hatte ihn so heftig getroffen wie ein plötzlicher Zahnschmerz. Zwirn ist bei seiner Muttersprache sehr empfindlich, er mag als Mann nicht »Täubchen« genannt werden, das verletzt seinen Stolz. »Täubchen« nannte ihn zum letzten Mal eine längst verstorbene Großtante, die für Kinder noch Gewänder aus der »guten Zeit« aufbewahrte. Diese Kleider sahen alle aus wie Mädchenkleider, waren es vielleicht sogar, und Zwirn erinnert sich mit Schrecken an eine braunstichige Photographie, die ihn mit langen, bis auf die Schultern herabfallenden Locken zeigt.

»Nein«, antwortet Zwirn grummelig, ohne auf den Grund seiner plötzlichen Verstimmung einzugehen, »ich kann mich beim besten Willen nur an Einzelheiten erinnern, deren Fehlen, also deren Abwesenheit mir aufgefallen ist. Also die fehlende Uniform des jungen Mannes, die ich schon erwähnte. Was mir im Nachhinein auch noch merkwürdig vorkommt, ist, dass er nicht nach Knoblauch gerochen hat. Jeder riecht in dieser Stadt nach Knoblauch, Junge wie Alte, Frauen wie Männer, aber dieser Verkäufer roch eben ausdrücklich nicht nach Knoblauch. Das fällt mir aber erst jetzt ein. Und dann noch ein Drittes: Der kleine Kerl war oder ist bei all seiner Unscheinbarkeit von einer umwerfenden Höflichkeit. Vorbildliches Benehmen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Höflichkeit?«, fragt die Kollegin, die mit einem energischen Griff der rechten Hand einen Stift und ein quadratisches Notizheft aus der linken Brusttasche ihrer Bluse gezogen hat. »Was genau soll das heißen? Kleinbürgerliche Manieren? Ein Duckmäuser?« Ihre hellrote Zunge gleitet zweimal flink über die Spitze des Schreibgerätes. Ihre Knie hält sie unter dem Rock eng gegeneinandergepresst. Zwirn ist kurz irritiert, einmal, weil das Hervorziehen des Notizheftes gleich zwei Knöpfe der Bluse geöffnet hat, zum anderen, weil der Einband des Heftes einen Schwarm von Goldfischen zeigt, der ihn zu bitteren Rückschlüssen auf den Geschmack der Besitzerin zwingt. Am meisten verstört ihn jedoch, dass dieses Gespräch merklich eine andere Richtung zu nehmen scheint. Vertraulich, ja, fürsorglich hat es begonnen, jetzt durchweht ein wahrnehmbarer Hauch von Schwefel das Geschehen. Für eine Unterhaltung unter Kollegen verwenden die Beteiligten nur in besonderen Fällen schriftliche Notizen.

»Höflichkeit ist in sozialistischen Ämtern oder Kaufhäusern so außergewöhnlich abwesend, dass ihr Erscheinen auffällt wie sonst nur ein Ladendiebstahl«, fährt Zwirn fort, der beschlossen hat, das kleine Heft der Kollegin einfach nicht zu beachten. »Gut, es kommt natürlich auch zu Ladendiebstählen, die nicht bemerkt werden, wie das ja auch bei einem Anfall von Höflichkeit passieren kann, aber das ist selten. Ich will damit auch nur sagen: Man müsste einmal an einer Theorie der auffälligen Abwesenheit arbeiten. Gerade in der Kunstgeschichte ist man doch mehr damit beschäftigt, das schreiend Vorhandene zu erfassen als das schreiend Fehlende.«

»Interessant«, sagt die Kollegin, ohne aufzublicken, züngelt noch einmal kurz über die Spitze ihres Stiftes und schreibt dann schnell weiter. Eine chinesische Zigarettenlänge später klappt sie das Büchlein zusammen, lässt es zurück in die Tasche der Bluse gleiten und schließt gelassen auch wieder deren zwei Knöpfe.

»Man müsste also, behauptest du, zur vollständigen Erfassung einer Person, eines Vorfalls oder eines Objektes eine spezielle Liste von auffälligen und unauffälligen Abwesenheiten anlegen«, fasst sie jetzt ihre Gedanken und das für eine höhere Instanz später zu verschriftlichende Ergebnis ihrer Unterhaltung zusammen, »für mich ist das wirklich interessant.«

Zwirn hat seit langem eine fast körperliche Abwehr entwickelt, sobald das in jeder Sprache dieser Welt dümmliche Wort »interessant« fällt. Das gilt auch jetzt, wo es aus dem Munde einer weiblichen Person kommt, die gerade mit einem Stift und der Knopfleiste ihrer Bluse gespielt hat. Andererseits ist Zwirns Geschlechtsleben seit dem unglücklichen Ausgang seiner Affäre mit Ritotschka in Peking auf Träume und wild neu zusammengefügte Wunschbilder angewiesen.

Daher lässt er sich nicht einmal von dem Wort »interessant« davon abhalten, sich mit der Kollegin zum Abendessen zu verabreden. Der Abend beginnt, wie es sich gehört, in der Abteilung der Kantine, die für privilegierte Gäste reserviert ist. Heute Abend sind sie dort allein, sieht man einmal von der Bedienung ab, die sie nur unauffällig beobachtet.

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Am nächsten Morgen taucht das Wort »interessant« gleich mehrfach wieder auf, diesmal im Bericht der Kollegin aus dem Bereich der Ming-Forschung, die übrigens in russischer Umschrift mit Vornamen Lili heißt.

Es könnte »interessant« sein, schreibt Lili in einem ersten Bericht an die zuständige Stelle ihrer Organisation, sogar »sehr interessant«, dem Hinweis des »ausländischen Gastes« nachzugehen, dass auch eine Systematik des »Nicht-Vorkommens« von erheblicher Bedeutung für das Erkennen einer allgemeinen oder einer besonderen Gefährdungslage wäre. So könne sie jetzt ein annähernd exaktes Bild, praktisch ein Negativ und ein Positiv, des Kollegen aus der Sowjetunion anfertigen. Eben nicht nur, um ein paar Beispiele zu nennen, über die Gerichte bei Tisch, die er bevorzugte, sondern genauso über solche, bei deren Aufnahme er ausgesprochenen Ekel gezeigt habe, wie etwa der sehr speziell zubereiteten sauren Kamelhufsuppe. Oder bei der Auswahl der Getränke, da sei die süße Limonade stets unberührt geblieben. Interessant sei auch der Wortgebrauch des Ausländers, also die Ausdrücke, die er benutzt – oder eben auf keinen Fall verwendet. Mehr dazu finde sich in ihrem nächsten Bericht mit wörtlichen Übersetzungen aus der Fremdsprache.

»Am Morgen nach dem Abendessen haben wir gemeinsam Pingpong gespielt«, hält sie in einem weiteren Absatz fest. »Zwirn spielt nicht zur körperlichen Ertüchtigung, er spielt, um zu gewinnen. Beim Zählen der eigenen Punkte entwickelt er zu seinem Vorteil neue Zahlenfolgen, durch die sich der Stand des Gegners automatisch verringert.«

Zu seinen positiven Merkmalen, so steht es in ihrem Bericht, müsse die Fähigkeit des Fremden gezählt werden, auch mit unbekannten Herausforderungen fertig zu werden. Eine von unserer Partei abweichende politische Festlegung sei auch bei Themen nicht erkennbar, in denen es zwischen den Standpunkten der sowjetischen und der eigenen Führung zu Differenzen gekommen sei. »Der kluge Fisch bewegt sich mit dem Wasser«, habe er als die gültige und wahrhaftige Deutung der Lehren des Großen Vorsitzenden bezeichnet.

In Fragen der bildenden Kunst habe sich der Russe ausdrücklich zum sozialistischen Realismus bekannt, weil dieser von jeher das Ausdrucksmittel der Arbeiterklasse sei. Kunst bedeute ja seit ihrer Entstehung die Unterscheidung zwischen »wahr« und »falsch«.

Im letzten Absatz kommt Lili auch noch auf die Kleidungsstücke des Leo Zwirn zu sprechen, genauer: auf jene, die er sofort und solche, die er überhaupt nicht abstreift. Hier sind ihr die graugestreiften Socken der zu observierenden Person aufgefallen, doch nach kurzem Nachdenken schüttelt sie heftig den Kopf, sodass ihr langer, seidenschwarzer Zopf leicht ins Pendeln kommt. Sie greift zur Schere, schneidet die Passage aus dem Bericht und verbrennt den Papierstreifen sorgfältig mit der Glut ihrer Zigarette im Aschenbecher. Zwar dürfen auch winzige Details wie etwa graugestreifte Socken, das hat Lili in der Schulung gelernt, nicht unterschlagen werden. Dennoch: Als Berichterstatterin darf man sich als aufmerksam und verantwortlich, aber keineswegs als übereifrig zu erkennen geben. Das gilt auch für das Private.

4

Kommissar Wu, der Stählerne Wu, hat den Bericht von Lili dreimal sorgfältig gelesen und verpasst dem Dokument den obligaten Stempelabdruck, bevor er es dem Gesamtdossier über Zwirn hinzufügt. In einer Pappschachtel liegen bereits das Protokoll der Untersuchung von Zwirns Gepäck und seit gestern die schriftliche Analyse zu den toxikologischen Befunden über die Medikamente aus dem kleinen Lederkoffer.

Diese Befunde erfüllen den Kommissar immer noch mit einem Gefühl der Befriedigung, wie er es sonst nur kennt, wenn er einen Täter nicht nur überführt, sondern ihn auch noch zu einem gerichtsverwendbaren Geständnis gebracht hat.

Die Genossen vom Städtischen Gesundheitsamt haben nur zwei Tage gebraucht, um die Substanzen in den nicht näher etikettierten braunen und grauen Fläschchen zu identifizieren. In die Sprache des Laien übersetzt handele es sich um Extrakte von Morcheln, insbesondere von Stink- und Spitzmorcheln, vom Glänzenden Lackporling und dem Dunkelrandigen Düngerling, zusammengefasst: von Pilzen, denen allen der Ruf anhängt, entweder die männliche Zeugungskraft oder die weibliche Lust zu stärken. Das Labor habe die Fläschchen nach der Analyse mit Ersatzstoffen nachgefüllt, wieder verschraubt und in den Lederkoffer zurückgepackt, ohne Spuren zu hinterlassen.

›Es handelt sich also‹, denkt Kommissar Wu, ›recht beurteilt, um ein kleines, doch gut knatterndes Feuerwerk von vier Glücksfällen. Wir haben hier erstens einen ausländischen, somit international erfahrenen Experten, der nach Auskunft der Genossin Lili in Kunstfragen so ungewöhnlich vielfältig zu verwenden ist wie bei der Fahndung nach politisch Verdächtigen. Was, nebenbei bemerkt, polizeitaktisch wohl ertragreich miteinander zusammenhängt. Wir verfügen zweitens über deutliche Hinweise, dass der Lebenswandel dieser Person durch ein ihn ständig gefährdendes Triebleben leicht zu überwachen ist. Wir haben es drittens, das gefällt mir ganz besonders, mit einem Ausländer zu tun, der in keiner offiziellen Meldeliste geführt wird, außer eben der unseren. Ein Mann ohne Zugehörigkeit. Woher er, viertens, seine männlichen Lock- und Kraftstoffe bezieht, wird er mir auch noch verraten. Ein Mann, ganz zu unseren Diensten, zu Diensten unseres Volkes.‹

›Aber auch zu den meinen‹, beschließt Kommissar Wu, der sich so gern wie häufig im zwanglosen Gespräch nach dem Ende einer politischen Konferenz als »Lenzwunder« bezeichnet und dafür auch persönliche Statistiken ins Feld führt. Jetzt entzündet er zufrieden eine Zigarette der Marke »Langes Leben«, von der er zur Sicherheit stets zwei Packungen in der Uniformtasche bewahrt. Aus halbgeschlossenen Lippen pufft er ein ovales Rauchzeichen hoch zu den Gipsköpfen von Marx, Engels, Lenin und Stalin auf dem Regal mit den Klassikern. ›Vier Glücksbringer‹, denkt er. ›Genau vier. Alles Ausländer.‹ Ein grauer Kringel verharrt in einem trägen Flügelschlag eine Weile über der hohen Stirn von Lenin. Den verehrt die Mutter des Kommissars als Einzigen der Gruppe, weil sie beim Anblick des Kopfes an eine Erscheinung, wenn nicht gar an die Wiedergeburt des Buddhas erinnert wird. Keine Ahnung, woher plötzlich der Gedanke an die Mutter kommt. Wu überlegt seit langem, ob er die kleine Gipsstatue des russischen Revolutionärs nicht bald einmal entfernen soll. Auf einem Hausaltar hat sie jedenfalls nichts zu suchen. Die Zeiten ändern sich rasch, und die korrekte Bewertung historischer Figuren nach den Leitlinien der Herrschenden ist in China stets ein heikles Unterfangen gewesen. Daran hat der Sozialismus wenig geändert. Nein, recht besehen überhaupt nichts. Man muss ständig auf der Hut sein. Auch deswegen soll Zwirn sich hier zunächst einmal wohlfühlen wie ein kleiner Goldkarpfen im Teich. Man darf es ihm nur nicht zu deutlich zeigen.

5

Als wäre das Bild des kleinen Goldkarpfens auf magischen Wellen weitergeschwommen, taucht es ein paar Stunden später bei einer kleinen Feier auf, die Frau Wang, die Restauratorin des Museums in Xi’an, zum Einzug des russischen Gastes in seine neue Wohnung ausgerichtet hat. Auch Frau Wang kennt die Quelle für Kaviar und Wodka im Laden hinter dem Bahnhof und hat dort schon am Morgen üppig eingekauft. Frau Wu, »der Merker« aus dem Parteibüro, weiß, dass man den Teig für Blini fast genauso zubereitet wie jenen für gebratene chinesische Maultaschen. Auf diesem Gebiet ist sie sogar eine anerkannte Spezialistin und darüber hin aus von beschämender Großzügigkeit, bedenkt man, dass Sesamöl zu dieser Zeit streng rationiert, zudem nur über Sondermarken an verdiente Mitglieder der Partei abgegeben wird.

Der Geruch des erhitzten Sesamöls, der aus der Küche im Untergeschoss des Museums steigt, dringt auch zu den vier alten Frauen, die sich heute erst für den späteren Nachmittag im Park verabredet haben und jetzt auf ihrer Bank sitzen.

»Allererste Qualität, so etwas gab es bei uns schon seit langem nicht mehr.«

»Sie kochen für den jungen Gast aus der Sowjetunion. Der kommt heute Abend zurück.«

»Habt ihr auch schon gehört, dass er blaugestreifte Strümpfe trägt, die bis über das Knie reichen?«

»Ich bleibe trotzdem dabei: Der Kerl wird uns Glück bringen.«

Auch wenn der Gast nichts von diesen Gesprächen erfährt, wird der kleine Empfang zu einem berührenden Erfolg. Leo Zwirn isst und trinkt sich schnell in heitere Ausgelassenheit. Er legt auf seinem Grammophon Walzer von Glinka und Chatschaturjan auf, alle zu den Themen »Zauber« oder »Freundschaft«, und erzählt das »Abenteuer eines dummen Deutschen«, entnommen einer Erzählung seines Landsmanns Nikolai Leskow. Diese Erzählung handelt, das weiß nur Frau Wang, von einem Fremden, der sich bei seinen Gastgebern in Petersburg aus Gefallsucht oder aus Hunger durch den hemmungslosen Verzehr von Blini beliebt machen will. Dass dieser Held allerdings am letzten Blini erstickt, kann Zwirn nicht zu Ende erzählen, weil Frau Wu, »den Merker«, gerade in diesem Moment ein Anfall ihres rätselhaften Schluckaufs ereilt. Hier kann vielleicht das Wort »Hunger« ein Auslöser gewesen sein. Doch da den Umstehenden die Körpersprache der Frau Wu genauso vertraut wie unbegreiflich ist, wird sie schnell hinter einen Wandschirm geführt und dort mit einem milden Tee versorgt.

Zwirn verbeugt sich kurz vor dem Schirm, hebt dann erneut das Glas und bietet seinen Kollegen und selbstverständlich sehr galant auch den Kolleginnen die Verbrüderung an.

»Nennt mich einfach Leo«, ruft er, spricht aber im Gefühl des Glücks den Vornamen auf Englisch aus, schon um zu zeigen, dass Fremdsprachen, ganz gleich welcher Herkunft, nicht zwischen ihm und den neuen Freunden stehen werden. Da seine Aussprache aber nicht perfekt ist, vernehmen seine Zuhörer: »Liu«, wie in Liu Tolstoi.

Darauf trinken die Versammelten. Zwirn wirft spielerisch sein geleertes Glas aus dem offenen Fenster. Diesem Beispiel folgt zwar nur der Museumsdirektor, der achtet aber darauf, dass er den Wurf in genau dergleichen schwungvollen Bewegung ausführt, wie sie der russische Gast vollzogen hat.

»Wie er seinen Namen Leo aussprach, klang es in unseren Ohren wie ›Li yü‹«, notiert später »der Merker«, »also wie ›Karpfen‹, und da er mit seiner hohen Nase, der fliehenden Stirn und den vorquellenden Augen auch so aussieht wie ein Goldfisch, haben wir ihn unter uns gleich ›Karpfen‹ genannt. Frau Wang hat dann noch den Namen ›junger Goldfisch‹ vorgeschlagen und dabei hell gelacht. Frau Wang wirkt irgendwie anders.«

Leo Zwirn ist in Xi’an angekommen. Die Rückkehr nach Leningrad bleibt ein Traum.

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