Kitabı oku: «Made in China», sayfa 4
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Dabei geht es ihm, recht besehen, nicht schlecht, wie er selber in vielen Briefen schreibt, die er abschickt, obwohl er weiß, dass sie nie die Stadt verlassen werden. Er nennt diesen Vorgang seine »Flaschenpost«, bewahrt aber aus Vorsicht immer eine Zweitschrift. Einmal als Erinnerung an das, was er gern seinen »noch unvollendeten Lebensroman« nennt, zum anderen, weil er in seinen Schreibstil verliebt ist und sich schwertut, die eigenen literarischen Erzeugnisse einem blinden Schicksal zu überlassen.
Seine offizielle Funktion ist jetzt die eines archäologischen Beraters, das hat ihm Kommissar Wu in einem dienstlichen Schreiben mitgeteilt, das mit gleich drei feuerroten Stempeln ausgestattet war. Zwirn hat das zunächst verdutzt, weil er in seinem Studium Bezug zur Archäologie nur über die Liebschaft mit einer Kommilitonin aufweisen kann, deren Vater über ein Segelboot verfügte, das aus unerklärlichen Gründen vor etwa dreißig Jahren auf den Namen »Heinrich Schliemann«, den deutschen Entdecker von Troja, getauft worden war.
Frau Wang hat ihm aber erklärt, dass der Beruf des Archäologen in China eine Wertschätzung bedeutet, die der eines Astrophysikers in der Sowjetunion gleichkäme. Beide seien als Deuter von menschlicher und kosmischer Vergangenheit, daher auch für weitere Verläufe des Schicksals von höchster gesellschaftlicher Wichtigkeit. So stünde ihm, Zwirn, bereits ein Dienstwagen der mittleren Klasse zur Verfügung, ein Chemiker, ein Agrarexperte oder ein Botaniker könne von einem solchen Privileg nur träumen. Im Augenblick sei der Anspruch auf einen Dienstwagen allerdings nur rein formal.
»Du wirst dennoch deinen Weg machen. Im Chinesischen haben wir dafür ein Sprichwort, übersetzt heißt es: ›Wenn der Wagen erst einmal zum Berg kommt, findet er auch seinen Weg.‹«
»Dann machen wir dort ein Picknick«, antwortet Zwirn höflich, der glaubt, zwar die Absicht verstanden zu haben, doch über die rechte Deutung des Sprichworts noch nachdenken muss.
7
Frau Wang hat auf der letzten Sitzung der Museumsleitung angeboten, Zwirn im Chinesischen zu unterrichten. Diese Aufgabe ist zurzeit nicht so leicht, wie von der Konservatorin gedacht. Die Sowjetunion hat mit großen Gesten ihre »freundschaftlichen Beziehungen« zu China abgebrochen. Ein erstes Opfer dieses radikalen Schnitts ist auf chinesischer Seite der Zugang zu russisch-chinesischen Textbüchern, Grammatiken, Fibeln mit Beispielsätzen und vielen anderen pädagogischen Hilfsmitteln. Das ist bitter. Es kommt aber noch schlimmer, nämlich durch die Anordnung, alle sich bereits im Verkehr befindlichen Materialien unverzüglich an die zuständige Zentralstelle zurückzusenden.
»Geschichte ist eine Herausforderung, der wir uns jederzeit gewachsen zeigen«, ruft Kommissar Wu, als er den Mitarbeitern die neue Direktive vorträgt. »Die zuständige Zentralstelle befindet sich vorerst in meinem Büro.«
Es zeigt sich allerdings auch auf diesem Gebiet, dass staatliche Ordnungsmaßnahmen oft nur sehr grobmaschig wirken. Das Löschen von Vergangenheit, selbst wenn es zunächst ausschließlich um den Ausdruck von Gefühlen geht, trifft häufig auf verstockte Herzen in der Bevölkerung. Wer zehn Jahre lang, wenn auch nicht immer aus eigenem Antrieb, Freundschaft gepflegt hat, offiziell oder privat, muss schließlich auf die Wahrung seines Gesichtes bedacht sein.
»An Stalin wird man doch noch festhalten dürfen«, hört man selbst im Büro des Parteisekretärs.
»Und was ist mit den anderen Russen, etwa mit Marx und Engels«, fragt der Kader, der seit jeher für politische Schulung zuständig ist, »sollen deren Bilder jetzt auch abgehängt werden?«
Zudem dürfen die praktischen Folgen dieser Maßnahme nicht unbeachtet bleiben: Lehrbücher, gerade solche mit technischen Ausdrücken, enthalten oft Hinweise, die für den Umgang mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs unverzichtbar sind. Für das Reparieren einer Pumpe sowjetischer Herkunft etwa. Oder eines Mikroskops, wie es für Archäologen unerlässlich ist. Vielleicht auch für die Instandsetzung einer Klimaanlage. Emotionale und praktische Momente greifen in diesem Fall wie Zahnräder ineinander.
Ökonomisch betrachtet sind staatliche Sanktionen bekanntlich ein zuverlässiger Anreiz für eine üppige Blüte des Schwarzmarkts und der Imitationen. Die Stadt Xi’an macht da keine Ausnahme. Bald vertreibt der kleine Laden hinter dem Bahnhof nicht nur Wodka und Kaviar. Auf ein bestimmtes Stichwort können die Kunden hier auch Lehrbücher der russischen Sprache und darüber hinaus freizügige Liebesromane erwerben, auf deren Titelseite unter einer galanten Graphik nie der Hinweis fehlt: »Eine kleine russische Erzählung«. Die Autoren dieser Werke arbeiten übrigens in einem Kollektiv, das sich jeden Samstag im Teehaus, nach zwei Runden Schnaps, eine neue Registriernummer ausdenkt, wie sie für die staatliche Zulassung von Publikationen zwingend erforderlich ist.
Frau Wang weiß von dieser Quelle für alle möglichen Formen von Literatur, benutzt sie aber nicht, denn sie fürchtet, dass auch Kommissar Wu über persönliche Beziehungen zu diesem Laden verfügt. Als materielle und als Informationsquelle. Sie beginnt also ihren Sprachunterricht mit der Übersetzung von Losungen, die überall in der Stadt auf Mauern oder Plakaten zu lesen sind: »Wir unterstützen unsere Bauern beim Einbringen einer Rekordernte in den Fünf Getreidesorten!« Zwirn muss die Losung wiederholen und dann in den Satz umwandeln: »Ich unterstütze unsere Bauern beim Einbringen einer Rekordernte in den Fünf Getreidesorten!«
Der nächste Satz wandelt das Thema nur geringfügig ab und führt in die etwas schwierigere Frageform: »Kann ich, oder kann ich nicht, dir beim Einbringen einer Rekordernte in den Fünf Getreidesorten helfen?«
Der Gast aus Leningrad zeigt sich als aufmerksamer Schüler. Sein Unterricht findet an vier Tagen der Woche statt, pünktlich nach Dienstschluss, im Untergeschoss des Museums. Zwirn, dessen Nase so ausgeprägt wie empfindsam ist, vermeint hier den Duft von Nelken und Kampfer, gleichzeitig von Sandelholz, Zimt und Vanille zu verspüren, bisweilen auch den Anflug von etwas Harzigem, auf das sich seine Nase vorerst noch keinen rechten Reim machen kann.
»Wir Kommunisten tragen nur das Banner des Sozialismus, denn es bietet unserem Körper Schutz und Hilfe!«, lautet die nächste Losung, die Frau Wang ins Sprachspiel bringt. Sie zitiert dabei einen Aufruf, der auf den vier Wandtafeln an der Kreuzung vor dem Museum prangt. In ihrer Stimme klingt leises Bedauern mit, als schäme sie sich insgeheim über das Schlichte, vielleicht sogar Doppeldeutige der Botschaft.
Zwirn spürt ihren inneren Widerstand und befolgt mit einer neuen Variante die Aufforderung, diese Vorgabe in das bekannte Frage- und Antwortspiel umzusetzen. Bei seinem letzten Besuch im Laden hinter dem Bahnhof hat er sich nicht nur mit Wodka und Kaviar versorgt, in seiner Aktentasche landeten auch zwei druckfrische Kopien der populären »Einführung in russisch-chinesische Konversation, Teil I und Teil II«, besorgt von der Abteilung für Fremdsprachen der Sowjetischen Akademie der Geisteswissenschaften. Nach kurzem Nachdenken sagt Zwirn also:
»Wir Kommunisten tragen große Sorge um den Körper und dessen Bedeckung mit Bannern. Wir lieben schöne Körper und schöne Banner.«
Frau Wang nickt überrascht, doch es ist ein aufmunternd skeptisches Nicken mit der freundlichen Aufforderung um eine genauere Bestimmung dieser Aussage. Sie neigt den Kopf leicht zur Seite, so als lauschte sie einer fremden, doch keineswegs irritierenden Melodie.
»Beim Einbringen der Rekordernte der Fünf Getreidesorten im Herbst werde ich besonderes Gewicht auf die Bekleidung deines Körpers mit Bannern legen«, schlägt Zwirn als sprachliche Verbesserung vor.
Das geht jetzt zu schnell, merkt der Russe, schon bevor er zu Ende gesprochen hat. So tändelt man nur mit Zufallsbekanntschaften beim Eislaufen über zugefrorenen Kanälen in Leningrad. Gleichzeitig nimmt er wahr, dass seine Lehrerin am obersten Knopf ihrer schwarzblauen Uniform nestelt.
»Das Banner des Sozialismus schützt die Proletarier weltweit vor dem Begehren der bürgerlichen Klasse, sie sich unterwürfig zu machen«, versucht er es erneut.
»Nein, es geht nicht in erster Linie um Bekleidungsmaterialien, es geht um das Banner des Sozialismus«, korrigiert ihn Frau Wang, ihre zuvor sanfte Stimme jetzt wieder stärker dem Gebaren einer Lehrerin anpassend. Doch wäre das Licht hier im Untergeschoss des Museums nur um ein Weniges heller, hätte man auf ihren Wangen ein zartes Rosa entdecken können. Ein schüchterner Farbton, vielleicht wie die Innenfläche des Blattes eines gerade erblühten Lotus.
»Die Bekleidung des Körpers ist ein entscheidendes Element für den Triumph des Sozialismus weltweit!«, versucht es Leo Zwirn jetzt zum dritten Mal und wirft Frau Wang einen Blick zu, in dem sich die Bereitschaft zu lernen unzweideutig mit einer Lust auf Eroberung mischt.
Wie gesagt, die Beleuchtung im kleinen Arbeitsatelier ist um diese Zeit aus Kostengründen eingeschränkt, umso deutlicher nimmt Zwirn Gerüche auf. Der Zusammenhang ist naturgemäß völlig eingebildet, doch seitdem Frau Wang den Knopf ihrer Uniformjacke geöffnet hat, strömt der so schwache wie lockende Geruch von Zimt und Vanille allein aus dem Oberteil der Uniform seiner Lehrerin. Behauptet jedenfalls die Nase von Leo Zwirn.
»Lass uns das Thema wechseln«, sagt Frau Wang, »welche politischen Losungen, welche Plakate sind dir seit deiner Ankunft in den Straßen unserer Stadt noch aufgefallen?«
Im Nachbarraum klingelt das Diensttelefon, Frau Wang erhebt sich und schreitet zum Apparat.
Zwirn lehnt sich zurück und lässt verschiedene Straßenszenen durch die Erinnerung ziehen. Manche Bilder sind grau, andere bereits verschwommen oder nur noch in kleinen Details erhalten: der Straßenmusiker vor dem Kino etwa, der auf seiner zweisaitigen Kniegeige schräg, aber erkennbar eine Melodie aus der Oper »Pique Dame« spielt, die Obstverkäuferin, die für ihre Kunden ein Schälmesser bereithält, das mit einer langen Kette an der Ladenkasse hängt, die beiden jungen Mädchen, die mit ihren Füßen einen Ball in der Luft tanzen lassen, in dem eine schmutzige Feder steckt.
Aber eine politische Losung? Doch, jetzt erinnert sich Zwirn an ein Plakat zur Geburtenpolitik, das ihm an der Wand rechts neben dem Obstladen aufgefallen ist. Es zeigt zwei überaus gut genährte Babys, gekleidet jeweils in ein prachtvolles blaues und ein strahlend rotes Gewand, ihre Köpfe sind geschoren bis auf eine pechschwarze Glückslocke, die wie ein kleiner Rüssel vom prallen Hinterkopf in den Himmel weist.
Zwirn hat das Bild fasziniert, einmal, weil es künstlerisch so platt und eindeutig ist und keinem konventionellen Gebot der Ästhetik folgt, zum anderen, weil es ihn an einen seiner künstlerischen Helden erinnert, nämlich an die Arbeiten des New Yorker Malers Jasper Johns. Die fünf, sehr opulent in Gold glänzenden und in Halbrelief ausgestalteten Schriftzeichen unter dem Bild der Babys hatte Zwirn sich in sein Notizbuch kopiert und noch am selben Abend dort auch die Übersetzung »Viel Zeugen ist eine gute Sache!« eingetragen.
›Der Spruch ist, recht besehen, genauso befriedigend und überzeugend wie das Bild des Amerikaners‹, dachte Zwirn und fügte diesen Gedanken seiner Flaschenpost nach Leningrad hinzu. Diesmal wieder in einem Brief an seinen Vetter Sascha, der ihn als Erster auf die Arbeiten des Amerikaners und ihre Bedeutung als Ikone der modernen Kunst aufmerksam gemacht hat.
»Also, welche Losung ist dir aufgefallen?« Frau Wang schaut ihren Schützling weiterhin mit freundlich aufgeschlossener Erwartung an. ›Ihre Stimme‹, denkt Zwirn, ›hat jetzt wieder die Anmutung von warmem Lehm auf einer Töpferschale, der eine tänzerische Gestalt annimmt.‹
»Viel Zeugen ist eine gute Sache«, ruft der Russe, aus dem kleinen Dämmern seiner Erinnerung hochschreckend. Vielleicht war dieses Dämmern ja eine Art Wachtraum, das Zusammenwirken des Geruchs von Vanille und Zimt mit dem geöffneten Knopf einer Uniformjacke.
Frau Wang hat diesen Knopf mittlerweile wieder geschlossen.
»Bevölkerungspolitik ist ein Thema, das wir in einer späteren Sitzung erörtern werden«, sagt sie in einem Ton, der nur scheinbar wieder zu alter Strenge zurückgefunden hat.
GROSSE ERWARTUNGEN
1
Drei Jahre später besuchen die vier Frauen nach wie vor mit ihren Schützlingen den Park vor dem Museum. Die Älteste hütet jetzt den Sohn von Frau Wang, der vor mehr als zwei Jahren zur Welt gekommen ist. Die Restauratorin, darüber reden gerade die Vier, ist gleich nach der Entbindung von ihrem Posten entlassen und nach Yan’an versetzt worden, weil sie sich beharrlich weigert, den Namen des Kindsvaters zu nennen.
»Man wird es bald an seinem Gesicht herausfinden, das kann nicht mehr lange dauern.«
»Die Augen, das Kinn und der Mund. Besonders aber die Augen, die sprechen am deutlichsten.«
»Ich achte auch immer auf den Gang. Sobald der kleine Scheißer läuft, macht er den Gang des Vaters nach.«
»Wie kommt man nur auf den Namen ›Panda‹ für ein Kind?«
»Ein Bär ist tapfer und stark.«
»Aber nicht der Panda. Der ist faul und frisst die ganze Zeit.«
»Ist heute eigentlich schon wieder Demonstration?«
Seit mehreren Wochen versammeln sich im Park Schüler, Studenten, auch Lehrlinge beiderlei Geschlechts, die mit Trommeln, Fahnen und Spruchbändern hierher marschiert sind, um gegen Missstände zu protestieren. Es gibt offenbar viele Missstände. Keine der vier Frauen versteht die Losungen. Sie können die Schriftzeichen zwar lesen, doch was »Revisionismus« ist und warum schlimm, hat ihnen niemand erklärt, und wie eine »schwarze Linie« rückständig sein kann, erst recht nicht.
Die vier Frauen stören sich anfangs nicht sonderlich an dem Gejohle und den dumpfen Trommelschlägen. Den Babys scheint das Getöse zu gefallen, immerhin wiegen sie ihre Köpfe dazu im Takt und klopfen mit den kleinen Fäusten auf ihre rotgefärbten Wolldeckchen. Doch als plötzlich zwei junge Mädchen mit langen Stöcken auf den scheckigen braunen Schirm von Herrn Bao, dem Märchenerzähler, einschlagen, springt die älteste der Frauen auf und schreitet ein. Sie hat in dem stämmigeren der Mädchen einen ihrer früheren Schützlinge erkannt. Das kann noch keine dreizehn Jahre her sein. Wie hieß sie noch? Richtig, Danlan, die »Flammende Orchidee«.
»Rotzlöffel! Lass sofort den Stock fallen und entschuldige dich bei Onkel Bao. Noch ein Mucks, und ich zieh dir die Hosen runter, dann gibt es Dresche. Du bist ja noch nicht einmal abgestillt.«
Als Flammende Orchidee die vertraute Stimme hört, lässt sie überrascht den Stock fallen, dreht sich dann um, stemmt aber die Hände in die Taille und ruft trotzig: »Onkel Bao zeigt Bilder, die gegen die Revolution sind. Onkel Bao ist ein schlimmer Revisionist!«
»Dir wasch ich die Zunge mit Schlamm ab. Onkel Bao kann Bilder zeigen, wie er es will. Du wirst ihm Respekt zeigen, dich auf der Stelle entschuldigen und den Schaden wiedergutmachen.«
Das Mädchen verbeugt sich, doch es hält dabei weiter seine Fäuste gegen die Hüften gestemmt.
2
Auch im Inneren des Museums geht es heute heftig zu. Zwar ist die alte Drohung, das Haus ganz zu schließen, noch immer nicht vollstreckt worden, doch die Warnschüsse fallen immer dichter. Und auch hier geht es um Missstände. Würde man Frau Wu, »den Merker«, fragen, die wieder das Protokoll führt, dauert der Streit bereits seit mehreren Wochen, nur vielleicht nicht ganz so laut, wie es an diesem Tag der Fall ist.
Begonnen hat alles an einem Montag, als der Namensvetter von Frau Wu, der Politische Kommissar, den Museumsleiter, Herrn Wen, mit einem schwerwiegenden Vorwurf konfrontierte. Der Streit begann, noch bevor die ersten Teebecher auf dem Tisch des Konferenzraums zum zweiten Mal mit heißem Wasser gefüllt wurden.
»Im alles entscheidenden Streit zwischen den zwei Linien, der roten Linie des Kampfes um die Aufklärung des Volkes und der schwarzen Linie der Bewahrung des reaktionären Alten, liegt dieses Museum weit zurück. Es liegt in unserem Kampf noch hinter dem Nachschub. Gewaltig hinter dem Nachschub. Viele Etappen dahinter.«
Der Kommissar legt eine kurze Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen, und wartet, bis die Teebecher nachgefüllt sind und seine Zuhörer aufgehört haben, verlegen aus gesenkten Köpfen auf die hochgeschwemmten Teeblätter zu blasen.
»Unser Haus bewegt sich langsamer als eine Schildkröte«, setzt er mit noch lauterer Stimme hinzu, »ja, eine feige, eine zögerliche Schildkröte, die sich nicht zwischen zwei Linien entscheiden kann. Als wären es Salatblätter und nicht die Lebenslinien der Revolution. Aber wir brauchen kein Zögern, wir brauchen entscheidende Fortschritte im Aufbau des Sozialismus. Ganz konkret in der Arbeit dieses Museums. Unsere Mittel sind begrenzt, aber wo bleiben, nur ein Beispiel, revolutionäre Zeichnungen von den Massen für die Massen? Was gibt es zu diesem Punkt von der Leitung des Hauses für Stellungnahmen?« Mit ausgestrecktem Zeigefinger weist Wu auf den Museumsleiter.
Leo Zwirn lässt sich das ihm noch unbekannte Wort »Schildkröte« übersetzen. Links neben ihm sitzt zu diesem Zweck die Kollegin aus Yan’an, an deren russischem Sprachgebrauch er damals das Adjektiv »interessant« so störend fand und die ihren Arbeitsplatz jetzt mit Frau Wang getauscht hat. Beim Wispern nimmt er wieder den Geruch ihres Körpers auf, und damit kommt auch der Name zurück: Lili. Genau, die Geschichte mit dem aus der Bluse genestelten Notizbuch und dem jungen Mann, der gefälschte Briefmarken mit dem Porträt von Mao verkaufte.
»Und dem Pingpong sowie einem romantischen Zitat von Puschkin«, sagt Lili, die gelernt hat, Gedanken zu lesen, »die Zeile der Tatjana hieß übrigens: ›So stoßen sie mich nicht zurück.‹«
Heute liegt Lilis Notizbuch bereits aufgeschlagen vor ihr neben dem Teebecher, es wird die Antwort von Museumsleiter Wen festhalten, auf die seine fünf Zuhörer mit großer Spannung warten.
Professor Wen weiß auch ohne Zeigefinger, dass die drei Wörter »Leitung des Hauses« direkt auf ihn und seine Stellung zielen. Er weiß, dass Wu schon seit langem anstrebt, die Posten des Politischen Kommissars und des Museumsleiters in seiner Person zu vereinen. Bislang ist es Professor Wen aber noch immer gelungen, den Widersacher als fachlich ungeeignet auf Distanz zu halten.
Für die heutige Konferenz hat sich der Professor fast stutzerhaft in einen grauen Anzug gekleidet, wie ihn der große Revolutionär und Gründer der chinesischen Republik von 1911 trug, das modische Vorbild für das Gewand seines Nachfolgers Mao. Auch die Frisur des Museumsleiters erinnert bis ins markante Detail des hohen linken Scheitels an die heroische Gestalt, ganz zu schweigen von dem kleinen Schnauzbart, pfeffer- und-salz-farben, den alle historischen Aufnahmen zeigen.
Gut, bei genauerer Betrachtung lässt die Behaarung unter der Nase ein wenig an Fülle vermissen. Für den schärferen Blick ist sie erkennbar das Produkt von Bemühungen, deren Anfang erst wenige Wochen zurückliegt. Ihr Resultat führt der Professor auf das glückliche Zusammenwirken von geraspelten Nashornscheibchen und einer den Haarwuchs dunkelnden Wurzeltinktur zurück. Doch wie bei jeder Täuschung spielt eine entscheidende Rolle, ob der Täuschende an seinen Erfolg glaubt.
»Ich bin dem Genossen Wu sehr dankbar«, beginnt der Museumsleiter und legt bewusst viel Dehnung in seine Silben, um der knarzenden Sprechart des Politischen Kommissars die Fülle eines akademischen Wohllauts entgegenzusetzen, »äußerst dankbar sogar, für sein Erwähnen gerade der Schildkröte.« Er steht auf und hebt seinen Teebecher, als bringe er einen Toast auf dieses Tier aus.
»In der glorreichen Geschichte unserer chinesischen Kultur steht die Schildkröte bekanntlich für zweierlei: Als eines der vier klassischen Wundertiere ist sie Symbol für Verlässlichkeit und Vertrauen. So finden sich in unserer Architektur zahlreiche Beispiele für das Zusammenwirken von Schildkröten mit dem Gesamtbild eines geglückten Bauwerks. Schildkröten können, kurz gesagt, die schönsten Säulen tragen. Das ist aber nur mein erster Punkt.«
»Ich habe nicht von Kunst geredet, mir geht es um Geschwindigkeit«, unterbricht ihn der Kommissar, auf dessen Wangen feuerrote Punkte zu kleinen Spritzern auseinanderwachsen. Wu ist sehr empfindlich, wenn Professor Wen sein Fachwissen ausbreitet. »Das Museum muss dem Volk und dem Fortschritt dienen. Es darf nicht zu einem Grab werden. Das ist es, was die Massenlinie ganz konkret fordert.« Wie viele Parteikader liebt Wu den Ausdruck »ganz konkret«. Auf geheimnisvolle Weise verleiht er jedem Satz die Kraft eines scharfen Gewürzes.
Professor Wen setzt behutsam den Teebecher ab und fährt scheinbar ungerührt fort: »Auf das Wort ›Grab‹ komme ich gleich noch zu sprechen. Das hängt ja eng mit der Erscheinung der Schildkröte zusammen. Wir sollten natürlich genau unterscheiden, ob wir von männlichen oder weiblichen Schildkröten reden, ob von kosmischen Schildkröten, wie wir sie aus den frühesten literarischen Schriften kennen, etwa aus…« Wen bricht hier ab, weil er bemerkt, dass sich die roten Spritzer im Gesicht des Kommissars bereits zu einem dichten Netz verbunden haben. So nimmt er wieder Platz und nimmt einen Schluck Tee.
Doch dann beschließt er, seine Verteidigung mutig zu Ende zu bringen: »Die historischen Quellen sind uns allen hier ja hinreichend bekannt. Deswegen muss ich auch gar nicht auf das Phänomen der sogenannten ›schwarzen Schildkröten‹ und der ›Geisterschildkröten‹ eingehen. Ich bleibe bei dem wichtigen Hinweis von Kommissar Wu: ›Schildkröte und Grab‹. Um es noch einmal zu sagen: ein sehr wichtiger Hinweis. Warum? Ganz einfach. Weil viele der Helden unserer glorreichen Geschichte in Gräbern bestattet wurden, die mit einem Hügel in der Form eines Schildkrötenpanzers bedeckt sind. Das ist ein wichtiger Hinweis.«
Professor Wen zündet sich eine Zigarette an und blickt in die Runde. Hätte er nicht seine dunkel getönte Brille aufgesetzt, wäre den Zuhörern ein zufriedenes Funkeln in seinen Augen aufgefallen. Erkennbar ist nur, wie behaglich er die beiden Flügel seines Schnauzbarts tätschelt.
»Gilt dieses Projekt auch für unsere Stadt Xi’an und die nähere Umgebung? Ich bitte die Genossen höflich um Entschuldigung, ich frage das nur für mein Protokoll«, sagt »der Merker«. Aus ihrer Stimme weht schwach, doch nicht überhörbar eine leichte Brise der Ermutigung.
Damit ist Frau Wu die Einzige in der Runde.
»Ich erkenne nicht, wie das Stochern in Gräbern aus der Feudalzeit den Interessen der Arbeiter- und Bauernklasse dienen soll«, befindet der Parteikommissar.
Genossin Lili schiebt ihrem Nachbarn einen kleinen Zettel zu, der Adresse und Telefonnummer ihrer neuen Dienstwohnung mitteilt. Dann schließt sie das Notizbuch mit den Goldfischen auf dem Einband und sagt: »Die chinesische Geschichte ist die Geschichte von vielen Helden.« Das kann alles und nichts bedeuten. Genossin Lili hat gelernt, in Konflikten frühzeitig eine Position zu beziehen, für die sie später von keiner Seite zur Rechenschaft gezogen werden kann. Insgeheim hält sie hier jedoch den Kampf für längst entschieden. Professor Wen wird selbst die Schildkröte sein, die, wie das Sprichwort sagt, vor ihrer Zeit im Kochtopf landet.
Leo Zwirn schweigt. Doch in seinem Kopf formt sich ein Plan, in dem sich die Stichworte »Zeichnungen für die Massen« und »Geisterschildkröte« auf rätselhafte Weise einander annähern.
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