Kitabı oku: «Ahrenshooper Narrenspiel», sayfa 5

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10. Bajazzo

»Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer; Ich finde sie nimmer und nimmermehr.« Gerhard Schiffers Blick schien sich im Gefieder der Möwe zu verlieren. Eine feine Zeichnung. Naturgetreu. Hellgrauer Rücken und Flügeldecken. Schwarz die Enden der Schwingen. Mit weißen Flecken. Gelbgrün der große Schnabel. Das Farbenspiel des Auges: Schwefel. Orange. Ein roter Ring.

Sie war nicht die einzige ihrer Art im Büro von Gerhard Schiffers. Das Kontor des Buchhändlers glich einem wahren Vogelschutzgebiet. Einem Möwenparadies. Auf jeder freien Fläche, in jedem Regal, letztem Winkel saßen, standen, schwebten die räuberischen Seevögel. In Holz, Ton, Stein. Jene, die er in Melancholie betrachtete, aus Porzellan. In Glockenform.

»Ob du es mir glaubst oder nicht, Kempowski, ich habe die Frau geliebt. Auf eine ganz eigene Art. Auch wenn das mit uns nicht lange gehalten hat. Vier, fünf Wochen nur. Im Sommer. Nach der Geschichte mit Ann-Kathrin. Und Claudia manchmal schon sehr eigen war. In vielerlei Hinsicht. Ach, gib mir noch eine Zigarette!«

Kempowski öffnete sein Etui, reichte es Schiffers und gab Feuer. Er und der Inhaber der Bunten Stube kannten sich schon lange. Aus Wismar. Den Achtzigern. Hatten sich später aus den Augen verloren, bis der Fall Partikel Kempowski nach Ahrenshoop geführt hatte. Wobei sie sich erst nach dessen Abschluss wieder angenähert hatten. Obwohl Kempowski und Elisabeth nun ein Paar waren. Elisabeth Müller-Paul, die wiederum einige Jahre die Gefährtin des Buchhändlers gewesen war. Dennoch verstanden sich die Männer inzwischen bestens, waren beinahe Freunde. Kempowski hatte sich daher direkt nach Schiffers Anruf auf den Weg gemacht. Zumal sich die Nachricht vom Mord an der Inhaberin des La Plateau wie ein Lauffeuer ausgebreitet hatte. Trotz des anderen Brandherdes, der anderen Hiobsbotschaft: der Flucht Hans von Wustrows.

»War er’s? War er’s nicht? Und wer war es dann? Warum? ›Meine Ruh ist hin, mein Herz ist …‹« Schiffers stellte die kleine Glocke auf dem Schreibtisch neben das mit Cognac gefüllte Glas. »›… schwer. Ich finde sie nimmer und nimmermehr.‹ Goethe. Faust. Monolog des Gretchens. – Ach Gerhard, es tut mir so leid.«

Elisabeth Müller-Paul hatte das Kontor betreten und umarmte Schiffers.

»Lizzy, danke. Ja … setz dich doch, bitte! Hast du’s also auch schon gehört, das mit der Claudia. Nimmt mich mächtig mit. Obwohl ich sie seit Wochen nicht mehr gesehen habe … sehen wollte. Bin ihr aus dem Weg gegangen – soweit das in Ahrenshoop möglich ist. Allerdings war sie in letzter Zeit zumeist in Stralsund. Ihrem anderen Geschäft. Die Arme.«

»Aber Gerhard, das ist doch verständlich, dass einem so eine Tat ans Herz geht. Mir ja auch. Obgleich ich ja keine so enge Freundin von ihr war, um es einmal freundlich zu formulieren. Und mich zudem die Geschichte mit von Wustrow noch mehr beschäftigt. Seine Flucht … die Vorstellung, dass er womöglich zurückkommt und sich rächt.«

»Ich weiß nicht. Ich glaube das nicht. Und selbst für den Fall der Fälle stünden andere Namen ganz oben auf seiner Liste. Dörte zunächst. Richard Sonntag auch. Zimmermann natürlich. Ich vielleicht?«

»Sehr beruhigend, mein lieber Kemp. Wirklich. Vielleicht sollten wir einfach verreisen, bis sie ihn wieder haben?« Elisabeth griff nach Kempowskis Etui und wartete darauf, dass er ihr Feuer geben würde. Hustete. Gab ihm einen kleinen Kuss.

Schiffers hatte kurz den Raum verlassen.

»Urlaub? Eigentlich eine gute Idee. Da wir ja wenigstens noch das Richtfest gut über die Bühne gebracht haben, hätten wir uns das allein schon deswegen verdient. Nur nicht so bald. Ich habe noch etwas zu erledigen. Ich muss morgen nach Wismar.«

»Was hast du denn dort vor? Allerdings, Wismar ist immer eine Reise wert. Auch eine kleine. Ich komme mit.«

Kempowski zögerte mit der Antwort. Druckste herum. Bislang hatte er sich noch nicht getraut, Elisabeth von der Vorladung zu erzählen. Der Einladung zur Zeugenaussage. Das entsprechende Schriftstück hatte er rechtzeitig aus dem Briefkasten geholt und bislang nur Hakala-Holappa auf der Rückfahrt von dessen Waterloo auf der Bundesstraße eingeweiht. Für einige Zeit hatte das Thema Haberkamp beide vom Fiasko der missglückten Expedition ablenken können. Zumal der Profiler sich ihm gegenüber ebenfalls offenbart hatte, dass er auch in den Fall eingebunden wäre. Beziehungsweise war. Noch bevor sie in Born angekommen waren, hatte man Hakala-Holappa telefonisch suspendiert. Aller Aufgaben entbunden. In knappen Worten, wenigen Sätzen, kurzer Prozess. Was jener zerknirscht zur Kenntnis genommen hatte. Ein Häufchen Elend. Ein Schatten seiner selbst. Der dennoch weiterhin Kempowskis Geständnis zugehört hatte. Seinem Eingeständnis, dass er diesen Haberkamp sehr wohl kennen würde. Und mit ihm einige krumme Geschäfte gemacht hatte. Kurz nach der Wende, in den Tagen der Goldgräberstimmung. Als Deutschlands Osten zum Wilden Westen geworden war. Im Wesentlichen ging es um Versicherungsbetrug und einige Immobilien, die in Haberkamps Besitz gewechselt waren – auf moralisch höchst fragwürdige Weise. Auf der Basis von ausgenutzter Gutmütigkeit, Unerfahrenheit und ökonomischer Naivität. Wenn auch aus juristischer Sicht noch im Grauzonenbereich. Gerade so. Dennoch schämte sich Kempowski für das Geschehene. Den menschlichen Beschiss. Die Chuzpe, mit der er damals manch einen Grundstückseigentümer übers Ohr gehauen. Hatte die Geschäftsbeziehung zum Autohändler Haberkamp dann auch bald beendet und ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Selbst den Alten Schweden gemieden, wo sie damals ihre fragwürdigen Erfolge ausgiebig gefeiert hatten, um Haberkamp nicht mehr über den Weg zu laufen.

Kempowski wusste um Elisabeths hohe moralische Ansprüche. Den Wert, den sie auf Ethik legte. Die geradezu kultische Verehrung, die sie ihrer Großtante entgegenbrachte. Elfriede Paul – eine Ikone der Integrität. Und er kannte ihr Talent in der Kunst der bohrenden Frage. Sie war eine Meisterin des Nachhakens. Daher ahnte er, wie sie auf seine Jugendsünden reagieren würde. Ganz zu schweigen von der neuerlichen Beunruhigung durch einen weiteren Mordfall, in den er, ihr Kemp, in irgendeiner Weise involviert war. Eine fatale Situation.

»Ach, das ist eine lange Geschichte, was von früher. Erzähle ich dir nachher. – Doch, klar nehme ich dich mit. Ich kenne Wismar wie meine Westentasche und kann dir bestimmt noch Ecken zeigen, die du nicht kennst. Warst du zum Beispiel schon mal in der Heiligen-Geist-Kirche? Hast dir mal dieses Fresko angeschaut, das ein bisschen wie ein Kreuzworträtsel aussieht? Das mit dem Dankesspruch. Und dieser geheimnisvollen Aufforderung: Lies, wenn du es verstehst. Prüfe …«

»… und ich bin ehrlich zu Ihnen, Herr Schiffers«, Meinhard und Schiffers betraten das Kontor, »es ist für Sie wirklich nicht gut, wenn Sie mir … uns nicht sagen wollen, wo Sie den gestrigen Abend verbracht haben. Die Nacht. – Oh, ich wusste nicht, dass Sie Besuch haben.«

Kempowski kannte Rico Meinhard, den Hauptkommissar aus Stralsund. Von den Morden des Frühjahrs her. Ebenso wie den jungen Burschen, der hinter Meinhard durch die Tür schaute: Leon Meinhard. Der Sohn, mit dem Kempowski unangenehme Erfahrungen gemacht hatte. Allgemeine Verkehrskontrolle … Nun trug Meinhard Junior allerdings Zivil. War anscheinend einige Sprossen auf der Karriereleiter geklettert. Und auf dem Posten von Schmitt ohne dt, der es anscheinend zum BKA geschafft hatte.

»Frau Müller-Paul, Herr Kempowski, ich begrüße Sie. Zu Ihnen wollten wir eigentlich auch noch, wegen der Geschichte mit von Wustrow. Da hat sich Ihr Freund ja wirklich ein Ding geleistet. Den einfach so entkommen zu lassen. Sorry, aber saudämlich. Sage ich Ihnen ganz offen. Und an wem bleibt wieder alles hängen? An uns. Der Herr Profiler hat das intellektuelle Vergnügen, wir die Arbeit. Die Drecksarbeit. Wenn ich nur an die Fahndung denke, die Suchtrupps … Was allein so ein Mantrailer kostet! Dann womöglich noch Personenschutz. Für Sie, die Künstler, Frau Bradhering. Den Zimmermann. Und als Krönung jetzt noch diese Sauerei oben auf dem Millionenhügel.«

»Papi, vielleicht sollten wir …«, Leon fiel seinem Vater ins Wort, um ihn an eine gewisse Verschwiegenheit zu erinnern und vor der Preisgabe von Details zu bewahren.

»Was, jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken? Meine Güte, was habe ich nur verbrochen? Und, gegenüber dieser Bande habe ich bereits vor Monaten zu viele Fehler gemacht. War zu mitteilsam. Doch wozu auch? Hier oben sprechen sich ja selbst die allergrößten Dienstgeheimnisse in atemberaubender Geschwindigkeit rum. Und das bei diesem schlechten Netz. – Apropos Netz, nun kommen Sie, Herr Schiffers, wo waren Sie? Raus mit der Sprache! Wir haben nicht ewig Zeit!«

»Der Gerhard, der war bei mir …« Elisabeth Müller-Paul hatte es ganz leise gesagt. Gehaucht.

Für Kempowski war es jedoch wie ein Paukenschlag. Er starrte sie mit offenem Mund an.

»Ja, der Kemp war ja unterwegs, also der Herr Kempowski. Daher sind wir nach dem Richtfest noch zu mir. Auf einen Wein. Und dann ist es spät geworden. Und ein bisschen sentimental. Schließlich standen wir uns einmal sehr nahe, der Herr Schiffers und ich. Und von großen Lieben, wirklich großen, bleibt immer etwas. Ein glimmender Funke. ›Der Funke der Liebe, im Herzen geboren, geht nimmer Dem, der ihn empfunden, verloren, er glühet und brennt in die Ewigkeit fort …‹ Ida Gräfin von Hahn, alter mecklenburgischer Adel. Es tut mir leid, Kemp, unendlich leid! Wirklich! Glaube mir!«

Selbst Meinhard hatte es die Sprache verschlagen. Empathie war nicht unbedingt seine Stärke. Dennoch fühlte er, was gerade in Kempowski vorging. Er tat ihm aufrichtig leid. Diese Müller-Paul. Und dann noch irgendwelche Dichterinnen deklamieren. Sich damit entschuldigen. Allerdings gewann doch rasch eine gewisse Zufriedenheit die Überhand, wenigstens diesen Punkt geklärt zu haben. Darum beeilte er sich. Wollte den Besuch hinter sich bringen. »Können Sie das bestätigen, Herr Schiffers?«

»Ja. Verzeih mir, Kempowski! Es hat uns überwältigt. Du kennst mich ja …«

Schiffers reichte dem Freund aus alten Tagen ein Glas. Frisch eingeschenkt. Eine hilflose Geste, die jener ausschlug. Ebenso wie Elisabeths angedeutete Umarmung. Er verließ das Kontor. Auf seinem Zornesgang durch die Bunte Stube stieß er beinahe zwei ältere Damen um, die ihm erstaunt hinterhersahen.

»Sagen Sie mal, Sie sind doch …?«

»Genau, der Mann mit der Mütze. Sind Sie uns immer noch böse, dass wir Sie mit Manfred Krug verglichen haben?«

Kempowski hörte sie schon nicht mehr. War dem Geschäft entflohen. Dem Ort der Demütigung.

Die beiden Freundinnen schauten ihm hinterher und sich ratlos an. Verwundert. Schüttelten ihre Köpfe.

11. Kunz von der Rosen

»Es ist etwas mit den Köpfen passiert. Ganz merkwürdig. Unheimlich. Kannst du bitte kommen? Bitte! Das musst du gesehen haben. Und dann …« Der Anruf von Ann-Kathrin Seegers war Hakala-Holappa wie der Faden der Ariadne erschienen, mit dessen Hilfe er aus dem Labyrinth seiner Verdrossenheit zu finden hoffte. Wobei sein Minotaurus mindestens das Kaliber hatte wie jener des Theseus. Selbstvorwürfe, Verzweiflung, Schuldgefühle. Zentnerschwer. Ungeheuer. Gekrönt vom Stierhaupt der Scham. Die Ungewissheit seiner beruflichen Zukunft noch nicht mitgerechnet. Nein, er durfte sich nicht in seinem teilfertigen Borner Refugium verkriechen. Das war kein Schneckenhaus, sondern sein neues Zuhause. In dem er sich eines Tages wieder wohlfühlen würde. Eines baldigen Tages. Hoffentlich. Und das Gefühl, gebraucht zu werden, um Rat gefragt, war der erste Schritt dazu. Auch wenn er nicht in irgendeiner offiziellen Funktion in Erscheinung treten würde, sondern als Privatmann. Freund.

Allerdings war es nicht so einfach gewesen, nach Ahrenshoop zu kommen. Selbst konnte er nicht fahren. Noch nicht. Das Handgelenk. Und Kempowski war in Wismar, um seine Aussage zum Fall Haberkamp zu machen. Der gemeinsamen Vergangenheit. Elisabeth hatte er nicht mitgenommen. Kempowski hatte ihm am Abend von Schiffers Alibi erzählt. Von Elisabeths Verrat. Seiner Enttäuschung. Dem wahrscheinlichen Ende ihrer gemeinsamen Zukunft. Chaos. Überall Chaos.

Auch Richard Sonntag stand nicht für Chauffeurdienste zur Verfügung. Er wollte unbedingt bei Lore Bradhering bleiben. Und bei Zimmermann, dem es schlecht ging. Die jüngsten Ereignisse hatten ihn mächtig mitgenommen. Ein weiterer Schwächeanfall, eine weitere Ohnmacht. Dabei ging doch in zwei Tagen sein Flug nach Halifax. Hakala-Holappa hatte daher schließlich ein ganz normales Taxi gerufen. Den FDZ-Hopper aus Prerow. Er hatte tatsächlich lächeln müssen, als er die Aufschrift des Wagens gelesen hatte. Der dann auch noch grün lackiert war. Grasgrün. Der Fahrer war ein fröhlicher Bursche mit Rastalocken. Dauergrinsen. Allerdings etwas glasigen Augen und wenig Interesse an den aktuellen Sensationen. Hatte stattdessen über seinen Traum erzählt, einmal im Wald zu leben. Wie Thoreau. Henry David Thoreau. Sein Walden. Und Hakala-Holappa noch ein Zitat mit auf den Weg gegeben aus eben jener Bibel der Aussteiger und Alternativen: »Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben ist. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, dass ich gar nicht gelebt hatte.« Passenderweise hatte er ihn am Friedhof aussteigen lassen und war dann mit einer kleinen Huperei von dannen gerollt. Intensiv leben. Ja! Die Fahrt und das Gespräch mit dem Hopper hatten Hakala-Holappa gut getan. Gewappnet. Für das Anstehende. Die Begegnung mit einem weiteren Geheimnis. Mysterium. Rätsel.

Wobei ihm zunächst nichts Ungewöhnliches an der Baustelle aufgefallen war. Nur ein dunkles Fahrzeug mit Stralsunder Kennzeichen. Und zwei jüngeren Männern. In auffällig unauffälliger Freizeitkleidung mit Feldstecher und Fotoapparat. Doch das war wahrscheinlich der Personenschutz für Dörte und Ann-Kathrin. Richard Sonntag hatte ja erzählt, dass Meinhard aktiv geworden war und alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, damit ihnen nichts passieren würde. Nicht noch mehr. Bei Lore Bradhering sollten am späteren Nachmittag auch zwei von der Truppe erscheinen. Sie hoffte wohl insgeheim auf Fabian van der Wall und Klaus Szymanowski, die von ihr die Namen Groth und Hinrichs bekommen hatten; dieses ungleiche Gespann, das ihr bereits im Frühjahr zur Seite gestanden hatte.

»Lieber Herr Hakala-Holappa, ich freue mich, Sie zu sehen, und feststellen zu können, dass Sie sich immer mehr an meinem Kleidungsstil orientieren. Sie …« Gregor Kafka verschluckte den Rest des Satzes und blickte zu den beiden Frauen an seiner Seite. Er merkte, dass es nicht an der Zeit für Scherze war. Allerdings hatte der Architekt recht mit seiner Beobachtung. Der suspendierte Profiler war ebenso wie er ganz in schwarz gekleidet: Rollkragenpullover, Jeans, Stiefel, eine dicke Lederjacke. »Ja, also ich habe das mit den Köpfen heute Morgen entdeckt. Als ich hier ankam. Und gleich die Frau Seegers angerufen. Die hat am meisten damit zu tun. Ist schließlich ihre Arbeit.«

»Und ich habe gleich die Dörte mitgebracht. Ich wohne momentan im Lukas. Das hat mir der Meinhard geraten, weil sie nicht genug Personal haben, um jeden von uns einzeln zu bewachen. Nur die Zwei da.« Ann-Kathrin Seegers blickte zum Wagen mit den auffällig Unauffälligen.

»Erinnern mich irgendwie an Tim und Struppi. Sorry!« Gregor Kafka versuchte abermals zu scherzen. Erntete abermals böse Seitenblicke.

Allerdings, so unrecht hatte er nicht. Die hochgegelte blonde Tolle des einen, der üppige Schnauzer des anderen Beamten. Eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. Obgleich der Bartträger Hakala-Holappa eher an Friedrich Nietzsche erinnerte. Er lächelte kurz.

»Herr Kafka! Wilhelm, bitte … Uns ist wirklich nicht nach albernen Witzen zumute. Wir haben Schiss. Ernsthaft! Richtig Schiss. Zumal ich fest glaube, dass er hier ist. Ganz in der Nähe. Irgendwo im Darß vielleicht. Im Holz. Im Schilf. Oder irgendeinem Versteck, das damals im Frühling nicht entdeckt wurde.« Dörte Wahnschaffes Blick reiste zurück. In die Büdnerei. Nach Niehagen.

Hakala-Holappa fröstelte. Kalte Schuld. Er suchte nach Worten der Beruhigung. »Liebe Dörte, liebe Ann-Kathrin, wenn ihr wüsstet, wie leid mir das tut. Unendlich leid, dass ich die Sache so vermasselt habe. So riskant gezockt. Doch, Dörte, du wolltest ja auch, dass von Wustrow sein Schweigen bricht, damit das mit dem Buch vorankommt. Mit den Bildern seines Vaters …«

»Das stimmt, Wilhelm. Aber nicht um so einen Preis. Wenn nun alles wieder von vorne anfängt. Denk doch nur an Jo!«

»Gestern habe ich das auch noch anders gesehen. Ich dachte, der haut einfach ab. Macht sich aus dem Staub. Richtung Rostock. Oder vielleicht in den Osten. Und dass die Geschichte mit der Schuhlady irgendeinen anderen Hintergrund hat. Was mit Sex zu tun. Fetisch. SM. Oder so. Doch …«

Ann-Kathrin Seegers war ins Gespräch eingestiegen und übernahm nun dessen Führung. »Das mit den Köpfen ist unheimlich. Das ist seine Handschrift. Auch wenn ich nicht weiß, wie er das angestellt hat, ohne entdeckt zu werden. Aber er ist ja ein Meister der Unsichtbarkeit. Als ob er eine Tarnkappe tragen würde. Aber schau selbst, Wilhelm!«

Kafka hatte inzwischen eine Leiter geholt und an den Bauzaun gelehnt.

Hakala-Holappa kletterte hinauf. Etwas unsicher. Er litt, trotz des eidgenössischen Blutes in seinen Adern, unter Höhenangst. Aber er konnte und wollte sich nicht anstellen, sondern stieg bis ganz nach oben, um den Kopf genau zu betrachten. Den Januskopf der Keramikerin. Als Gottheit des Übergangs von ihr als Symbol für den Bau des Partikel-Hofes auserkoren. Bild des Wechsels zwischen Vergangenheit und Zukunft. Um diese Prozesshaftigkeit, das pulsierende Moment des Lebens zu unterstreichen, hatte sie für die Glasur die Farbe Rot gewählt. Beziehungsweise verschiedene Rottöne. Für jeden der insgesamt acht Köpfe eine andere Nuance. Jenen, den er nun in Augenschein nahm, hatte sie in Mohnrot gestaltet, das organisch aus der Farbigkeit des Bauzauns erwuchs. Als skulpturale Krönung des Wandbildes. Mohnrot, das sich nun in Schnee gewandelt hatte. Zu Schneeweiß. Fahl. Kalt. Und blicklos. Denn die geöffneten Augen, die farblich akzentuierten Pupillen waren mit grauen Strichen überpinselt worden. Jemand hatte Janus die Lider geschlossen. Hakala-Holappa musste schlucken und an die Morde im Dornenhaus denken. Wo den Opfern ebenfalls die Blicke genommen worden waren. Langsam machte er sich an den Abstieg.

»Und das hat er bei allen so gemacht. Das Rot von Lachs und Hummer, Rost und Kupfer, Kastanie, Wein, Zinnober hat er zu Weiß werden lassen. Grauweiß. Leichenblass. Er hat meine Arbeiten getötet. Die Köpfe abgeschnitten.« Die Keramikerin schluchzte.

»Und nicht nur die. Ich sehe das auch so wie Ann-Kathrin. Dass das ein Zeichen ist. Eine symbolische Geste, eine Drohung gegen den Partikel-Hof. Und gegen uns. Denke an die Acht, Wilhelm! Zähle mal nach! Also zunächst wir, das Team: Ann-Kathrin, Johanna, Elisabeth, Gerhard und ich. Das wären fünf. Dann Kempowski und Zimmermann. Sieben. Und dann hast du die Wahl, wer Nummer acht ist. Richard Sonntag oder …«

»Dörte, bitte! Sicherlich ist das hier mehr als nur Vandalismus. Und sicherlich hat sich jemand etwas dabei gedacht. Wer immer das auch war. Womöglich ja sogar Hans von Wustrow. Was ich nicht ausschließen will … kann. Doch dein Zahlenzauber, ich weiß nicht. Das mit dem Oktogon als Grundriss des Hofes und eben auch des Zaunes war schließlich eure Idee.«

»Na, eigentlich die vom Käfer. Und uns hat sein Entwurf sofort zugesagt. Das wird ja auch wirklich wunderschön.«

Der Baumeister hatte sich inzwischen entfernt und seiner eigentlichen Arbeit gewidmet. Bedauerlich, denn ausschweifende Ausführungen zur Geschichte des Achtecks in der Architektur wären eine willkommene Ablenkung gewesen, für die Hakala-Holappa nun selbst sorgen musste. »Außerdem widerspricht das ja Ann-Kathrins Mutmaßung, wonach Claudia Ippich auch zu seinen Opfern zu zählen ist. Wobei ich keinerlei Ahnung habe, was diese Geschäftsfrau mit Hans von Wustrow und seinem Vater zu tun hat. Auch wurde ihr das Genick gebrochen. Keine Spur von Gift. Geschweige denn Stechpalme. Gut, ich stimme euch zu. Das hier ist merkwürdig. Sehr merkwürdig. Doch selbst, wenn er es war und uns drohen wollte … will, warum hat er dann die Köpfe nicht einfach zerschlagen? Oder schwarze Farbe gewählt? Die Farbe des Todes. Das wäre doch drastischer. Dramatischer. Stärker?«

»Die weiße Farbe hat er wohl von hier, den Pinsel auch. Ebenso die Leiter. Hat der Käfer sofort nachgeschaut. Im Lager. Der ist ja sehr akribisch. Ist ja auch der Bauleiter. Und hat den perfekten Überblick.«

Diese Eigenart Kafkas kannte Hakala-Holappa von den Renovierungsarbeiten an ihrem Haus in Born. Der Architekt arbeitete minutiös, detailverliebt, ein wahrer Erbsenzähler. Was in manchen Situationen aber durchaus von Vorteil war.

»Und schwarz ist gar nicht vorrätig. Allerdings fehlen wohl noch zwei Spraydosen. Weiße. Vielleicht erfüllt sich ja sogar dein Wunsch und von Wustrow wird nun auch zum Künstler. Macht in Graffiti. Wandelt auf den Spuren von Keith Haring, Basquiat, Banksy …«

Hakala-Holappa erstaunte. Dörte Wahnschaffe hatte ja doch noch Humor, wenn auch reichlich schwarzen.

»Aber, wo wir schon bei Künstlern sind, toten oder geheimnisvollen: Ann-Kathrin und ich haben uns vorhin entschlossen, Ahrenshoop für ein paar Tage zu entfliehen. Im doppelten Sinne. Wir wollen nach Königslutter. Da komme ich ja her. Und der Jo. Jo Majakowski. Seine Schwester ist gerade dabei, das Elternhaus auszuräumen. Sie ist dabei auf alte Arbeiten von ihm gestoßen. Sehr gute! Viele Zeichnungen, Skizzen. Sein Nachlass. Den wollen wir uns unbedingt anschauen.«

»Königslutter? Richtig, du erzähltest davon. Das ist doch bei Braunschweig, Wolfsburg, die Ecke. Da in der Gegend lebt auch ein alter Freund von mir, Alexander Troisdorf. Wir kennen uns seit Kindesbeinen. Schweizer Internatsjahren. Stiftsschule Engelberg. Obwohl wir alle keine Engel waren. Wohnt jetzt dort in einer Kleinstadt. Schoppenheim, oder so ähnlich.« Hakala-Holappa war froh, dass Wahnschaffe und Seegers jetzt von sich aus den Kurs geändert hatten.

»Schöppenstedt. Na klar, das ist ganz in der Nähe. Höchstens zehn, zwölf Kilometer entfernt. Einmal über den Elm. Ist so ein kleiner Höhenzug. Schöppenstedt. Stadt der Streiche. Heimat Till Eulenspiegels.«

»Genau, Schöppenstedt«, Hakala-Holappa fiel Wahnschaffe ins Wort, »und das Eulenspiegel-Museum. Da arbeitet er jetzt. Ist ja Volkskundler und Historiker von Haus aus. So ein Zufall. Vielleicht sollte ich tatsächlich mitfahren und ihn mal besuchen. Haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Und hier braucht man meine Dienste im Augenblick nicht. Bin ja offiziell beurlaubt. Gut, das Haus bräuchte mich … Aber, ein, zwei Tage gingen wohl schon. Wie wollt ihr denn reisen? Ich bin ja ein wenig gehandicapt …«

»Prima, Wilhelm. Wir hatten uns schon überlegt, einen richtigen Betriebsausflug daraus zu machen. Also mit der ganzen Korona von der Stiftung. Zimmermann auch. Natürlich die gute Lore. Und den Sonntag selbstverständlich. Der hat sich ja jetzt so einen richtig großen Bus angeschafft. So einen Multivan. Da passen bis zu acht Personen rein. Bis zu acht …« Ann-Kathrin Seegers hatte beinahe gute Laune gehabt. So etwas wie Vorfreude, eine Prise Reisefieber. Auch wenn ihr geplanter Ausflug eher den Charakter einer Ausflucht trug. Sie hatte sich für einen Moment gefreut. Bis sie über ihre eigenen Worte gestolpert war. Sie schaute nach oben. Zu den Köpfen. Leichenblass wiederholte sie: »… bis zu acht Personen rein. Bis zu … acht.«

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