Kitabı oku: «Norderende», sayfa 5

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VIII

Über Hiddensee hingen noch ein paar dunkle Wolken. Als Rieder wieder im Revier angekommen war, zeigte sich am Horizont über der Ostsee schon wieder blauer Himmel. Behm war mit seiner Mannschaft wieder zurück auf dem Weg nach Stralsund. Er hatte versprochen, sich um einen Verbindungsnachweis von Steins Handy zu kümmern. Vielleicht ergaben sich daraus neue Ansatzpunkte für die Ermittlungen.

Rieder und Damp saßen sich schweigend gegenüber. Rieder war ungeduldig. Bei der neuen Arbeitsteilung im Revier musste er sich mit Damp abstimmen und konnte nicht einfach machen, was er wollte. So fragte er in das gemeinsame Schweigen: „Wie wollen wir weiter vorgehen?“

Damp saß hoch aufgerichtet auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin. Doch Damps äußerliche Lethargie täuschte. In seinem Kopf arbeitete es. Er wollte Initiative zeigen. Er musste doch jetzt allen beweisen, dass er der richtige Mann für den Posten war. Einen Rückschlag hatte er allerdings schon hinnehmen müssen. Damp hatte gehofft, der Zeugenaufruf würde schnellere Ergebnisse bringen. Deshalb war er schnell ins Revier zurückgegangen. Er hatte sogar Rieder den Wagen überlassen, damit er die Spurensicherer zum Hafen in Vitte bringen konnte. Er wollte unbedingt im Büro sein, falls sich Zeugen meldeten. Es musste doch Strandgänger und Kinobesucher gegeben haben, die etwas gesehen hatten. Doch kein Mensch hatte sich bisher gemeldet, und Damp hatte nicht den gewünschten Informationsvorsprung, mit dem er auch vor Bürgermeister Durk hätte glänzen können.

Jetzt blieb Damp nur eine Chance. Er musste sich an Rieder dranhängen. Vielleicht kam er da auf eine erfolgversprechende Spur. Man muss den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen, dachte er sich.

„Was schlagen Sie vor?“, fragte er zurück.

„Ich denke, wir fahren in Steins Haus und schauen uns mal genauer um. Akten, Kalender, Adressbücher, der ganze Kram“, schlug Rieder vor. „Vielleicht bringt uns das weiter.“

„Gute Idee“, antwortete Damp. Er rückte seinen Stuhl zurück, stand auf und zurrte schon mal seine Uniform zurecht. Doch Rieder machte nun plötzlich gar keine Anstalten mehr, aufzustehen. Stattdessen nahm er ein Lineal, klopfte damit in seine Hand und schaute nachdenklich: „Wer könnte ein Motiv haben, Stein zu ermorden?“

„Woher soll ich das wissen?“, antwortete Damp trotzig.

„Sie sind doch schon so viele Jahre auf der Insel, müssen Stein doch gekannt und vielleicht auch gehört haben, was über ihn geredet wurde?“

„Wer redet denn schon mit mir? Hier auf der Insel!“ Da hatte Damp zwar Recht, wie Rieder aus eigener Beobachtung wusste, aber so völlig unwissend konnte selbst er nicht sein.

„Hatten Sie denn nie mit ihm zu tun?“

„Selten. Er kam vorbei, wenn es um Absperrungen für Baustellen ging oder er eine Straßensperrung haben wollte, wenn er mit seiner Truppe die Schlaglöcher und Kuhlen in den Wegen zuschüttete. Aber was sollte er sonst mit mir reden und ich mit ihm? Fragen Sie besser Ihren allwissenden Nachbarn. Malte Fittkau.“

Rieder stutzte. „Ich dachte, seit der Geschichte mit dem Pfarrer kommen Sie besser miteinander aus?“ Jedenfalls hatte er letzte Nacht diesen Eindruck gehabt.

„Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein paar Bier keine Freundschaft“, antwortete Damp nicht ohne Bitterkeit.

Er ging in Richtung Tür und fragte ungeduldig: „Wollen wir nun los?“ Rieder stand auf und wollte seinem Kollegen gerade folgen. Da klopfte es.

Damp riss die Tür auf. Ein riesiger gelber Regenhut war das Erste, was die beiden Polizisten sahen. Damp machte vor Schreck einen Schritt zurück.

„Sind wir hier richtig? Bei der Polizei?“, fragte eine leise Stimme. Rieder stand auf. Unter dem Hut sah er das Gesicht einer älteren Dame. Bevor er etwas sagen konnte, drehte sich die Frau auf dem Absatz um und verschwand wieder im Treppenhaus. Von dort hörten die Polizisten die Frau rufen: „Helene, komm doch mal.“

Dann kam sie zurück. Nun in Begleitung. Beide Frauen glichen sich völlig in der Kleidung. Die gleichen Regenhüte, die gleichen Regenjacken, die gleichen Wetterhosen und natürlich auch die gleichen Gummistiefel. Wie Zwillinge. Doch im Körperbau waren sie völlig verschieden. Die angeklopft hatte, war klein und korpulent, ihre Begleiterin recht groß und hager.

„Guten Tag, meine Name ist Jahnke. Hildegard Jahnke“, begann die Frau noch einmal, etwas ängstlich im Ton. Sie fasste ihre Gefährtin an der Hand. „Und das ist meine Freundin Helene Witt.“ Die Hagere grüßte nur mit kurzem Kopfnicken. „Wir kommen schon seit dreißig Jahren nach Hiddensee. Und nun sind wir, wie soll ich es sagen ...?“

Die Hagere räusperte sich kurz. „Ja, wir sind gekommen wegen des Aushangs.“ Dann wandte sie sich an ihre Freundin Hildegard: „Mach doch nicht so ein Gewese.“

Die gab beleidigt zurück. „Du wolltest doch gar nicht hierher.“

Rieder unterbrach die beiden. „Frau Jahnke, Frau Witt. Nehmen Sie doch Platz.“

Die Frauen setzten sich auf die beiden Besucherstühle, ganz vorn auf die Kante.

„Warum sind Sie gekommen? Haben Sie gestern Abend am Zeltkino etwas beobachtet?“, fragte Damp hoffnungsvoll.

Die Frauen schauten sich kurz an. „Also, wir wollen Frau Ekkehard keine Schwierigkeiten machen. So lange wir auf die Insel kommen, so lange kennen wir sie schon“, begann Helene Witt.

„Sie ist so eine herzensgute Frau. Jedes Jahr schickt sie uns, kurz bevor wir kommen, schon das Kinoprogramm“, ergänzte Frau Jahnke, „und streicht an, welche Filme uns vielleicht besonders gefallen könnten.“

„Was ist denn nun mit Frau Ekkehard?“, unterbrach Rieder, etwas ungeduldig.

„Es war so“, berichtete Frau Witt, „wir waren gestern schon recht früh am Kino, weil wir fürchteten, sonst schlechte Plätze zu bekommen. Hilde hat immer Angst, dass ein Großer vor ihr sitzt und sie dann nichts sieht ...“ Sie hielt kurz inne. „Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Also wir waren recht früh da, kauften Karten und waren wirklich die Ersten im Kino. Jedenfalls, als wir saßen, hörten wir von hinten ziemlichen Krach. Zwei Leute brüllten sich an.“

„Wer brüllte sich an?“, fragte Rieder nach.

„Frau Ekkehard und ein Mann“, meldete sich Frau Jahnke, schaute dabei aber wieder etwas ängstlich auf ihre Begleiterin.

Aber auch die bestätigte: „Also, Frau Ekkehard habe ich auch gehört. Die Stimme von dem Mann kannte ich nicht.“

„Und worüber stritten die beiden?“

Beide Frauen zuckten mit den Schultern.

„Haben Sie irgendetwas verstanden?“

„‚Du kriegst mich hier nicht weg!‘, rief Frau Ekkehard mehrmals. Und der Mann schrie: ‚Das wirst Du schon sehen! Du hast kein Erbrecht. Irgendwann ist auch für dich Schluss‘. Und sie antwortete: ‚Nur über meine Leiche!‘ So ungefähr“, berichtete Hildegard Jahnke. Und Frau Witt ergänzte: „Dann knallte eine Tür.“

„Haben Sie den Mann gesehen?“

Die beiden schüttelten die Köpfe. Damp holte ein Foto von Peter Stein hervor und zeigte es den Frauen. „Haben Sie diesen Mann in der Nähe des Kinos gesehen? Vielleicht, als sie die Karten gekauft haben?“

Sie schauten sich das Foto an. „Also, auf der Insel habe ich den schon oft gesehen“, meinte Helene Witt. „Aber gestern?“

„Wir haben uns schon so auf den Film gefreut“, ergänzte ihre Freundin. „Und dann geht das uns auch eigentlich nichts an. Wie gesagt, wir wollen der Frau Ekkehard keine Schwierigkeiten machen.“

„Aber wir sind auch geschockt, dass so etwas auf Hiddensee passieren kann“, empörte sich Frau Witt. „Ein Mord!“

IX

Nachdem die beiden Frauen ein Protokoll unterschrieben und das Revier wieder verlassen hatten, blätterte Rieder noch einmal die Aussage von Dora Ekkehard von der vergangenen Nacht durch, obwohl er es auch so gewusst hätte. „Da steht nichts von einem Streit mit einem Mann.“

„Muss ja nicht Stein gewesen sein“, meinte Damp. „Mit der Ekkehard ist nicht gerade gut Kirschen essen. Wenn ich mal bei der war wegen der Lautstärke der Kinolautsprecher, dann ging das nie ohne Streit ab.“

Das konnte Rieder nur bestätigen. Auch bei den Auseinandersetzungen mit Malte um das Holz des umgestürzten Baumes hatte Dora kein Blatt vor den Mund genommen.

„Bei den Frauen hörte es sich so an, dass Dora mit dem Besitzer des Grundstücks gestritten haben könnte, auf dem das Kino steht. Oder gehört das Land der Gemeinde?“

„Keine Ahnung.“

„Das könnte doch der Bürgermeister wissen?“

Damp nickte. „Sicher. Die ganzen Grundstückssachen gehen über seinen Tisch.“

„Bei Ihren neuen guten Beziehungen zu Durk könnten Sie doch mal nachfragen.“

Damp kratzte sich am Hinterkopf: „Wann?“

„Jetzt!“

„Muss das sein?“

„Dann haben wir vielleicht wenigstens eine erste Spur.“

Damp stöhnte. Schwerfällig erhob er sich und ging mit steifen Beinen zur Tür. Dort blieb er nochmal stehen. „Ich weiß nicht ...“

„Sie kriegen das schon hin. Durk will doch auch immer eingebunden sein.“

Aber Damp wollte nicht anecken, schon gar nicht beim Bürgermeister. Andererseits würde ein schneller Erfolg durch den Zeugenaufruf sie beide, Bürgermeister Durk und Revierleiter Damp, gut dastehen lassen.

Damp atmete kräftig aus, öffnete die Tür und marschierte zu Durks Büro.

Das Vorzimmer war leer. Wahrscheinlich war die Sekretärin, Lotti Stoll, beim Mittagessen. Damp klopfte kurz am Amtszimmer des Bürgermeisters.

Ein ärgerliches „Herein!“ kam von drinnen. Damp verließ beinahe der Mut. Doch eine innere Stimme trieb ihn vorwärts. Dynamisch drückte er die Klinke nach unten und trat ein. Durk hatte die Beine auf den Tisch gelegt. Damp war sich sicher, Durk gerade bei einem kleinen Nickerchen gestört zu haben.

„Wir haben mal eine Frage, Rieder und ich.“ Damp wollte nicht allein die Verantwortung für diesen Vorstoß tragen. „Wissen Sie, wem das Grundstück am Zeltkino gehört?“

Durks Augen nahmen Damp schärfer ins Visier. Er nahm die Beine vom Tisch und setzte sich gerade hinter seinen Schreibtisch. „Warum wollen Sie das wissen?“, fragte er mit einem leicht drohenden Unterton. Einschüchterung war das Arbeitsprinzip des Bürgermeisters.

„Wir haben vielleicht eine erste Spur.“

Der Bürgermeister drehte leicht den Kopf, ohne den Polizisten aus den Augen zu lassen. „Hat die Ekkehard etwas damit zu tun?“, fragte er listig.

„Na ja“, druckste Damp. „Es gibt Zeugen, die eine Auseinandersetzung von Frau Ekkehard mit einem Mann gehört haben wollen. Da ging es irgendwie um das Zeltkino und vielleicht auch um das Grundstück ...“

Durk rieb sich das Kinn. „Das sind ja eigentlich schon Interna aus der Inselverwaltung. Ich weiß nicht, ob ich die preisgeben kann. Es muss nicht jeder alles wissen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Damp verstand nicht wirklich. „Ich dachte, die Grundstückssachen gehen alle über Ihren Tisch.“

„Schon. Aber das sind heikle Angelegenheiten. Und nicht jeder Fremde“, Durk betonte das letzte Wort ganz besonders, „muss erfahren, was wer hier auf der Insel kauft. Oder?“

Jetzt verstand Damp. „Ja, aber ...“

„Also von Rechts wegen müssten Sie sich an das Grundbuchamt in Stralsund wenden.“ Durk lehnte sich zurück. „Aber wenn es um die Ekkehard geht, könnte ich eine Ausnahme machen.“ Er beugte sich vor und winkte Damp, näher heranzukommen. „Die nervt mich nämlich gewaltig“, erklärte er dem Polizisten mit verschwörerischer Stimme. „Um es kurz zu machen: Das Grundstück gehört eigentlich Peter Stein.“

Rieder fühlte sich wie gelähmt, nachdem ihm Damp Durks Information weitergegeben hatte. Sollte Dora Ekkehard mit dem Mord an Stein zu tun haben? Sollte sie seine Mörderin sein? Seine Nachbarin! Er ahnte, was auf ihn zukommen würde und wie ihn das belasten könnte. Das war der Nachteil an seinem Job auf der Insel. Hier kannte sich jeder, und man konnte sich auch nicht aus dem Weg gehen.

Damp spielte, scheinbar ungerührt, mit einem Bleistift. Rieder hatte sein Gesicht in die Handflächen gestützt. Er überlegte. Sollten sie Dora Ekkehard gleich mit den Aussagen der beiden Frauen konfrontieren? Damp schien dafür zu sein. Rieder war sich sicher, dass sein Kollege so schnell wie möglich den Fall vom Tisch haben wollte. Rieder dagegen wollte eher vorsichtig vorgehen und noch weitere Fakten sammeln.

„Dora Ekkehard läuft uns nicht weg. Vielleicht schauen wir erstmal in Steins Haus nach, ob es noch andere Spuren und Fakten gibt, die wir verfolgen können.“

Damp legte den Bleistift weg. „Sind Sie sich da sicher?“ Selbst wenn es nicht so aussah, auch Damp war hin- und hergerissen. Ein schneller Erfolg wäre nicht schlecht, aber sollten sie Dora Ekkehard zu Unrecht verdächtigen und das bekannt werden, würde er weiter im Ansehen der Hiddenseer sinken. Dora Ekkehard war eine Autorität für die Insulaner, auch wenn sie nicht ins Kino gingen. „Vielleicht haben Sie recht“, stimmte er seinem Kollegen zu. „Fahren wir erst mal zu Steins Haus.“

Damp parkte den Streifenwagen im Süderende am alten Stromhäuschen. Als er ausstieg, fiel sein Blick auf die merkwürdigen Wesen, die Jugendliche auf die Wände des Häuschens in grellen Farben gesprüht hatten. Bisher hatte er die Übeltäter noch nicht ermitteln können. Das ärgerte ihn gewaltig.

„Sehen Sie sich diese Schmiereien an. Wenn ich die erwische ...“

Rieder sah es gelassener. Er kannte Graffitis zur Genüge aus Berlin. Er fand diese Subkultur zwar nicht besonders gut, gerade wenn sie auch vor frisch sanierten Gebäuden nicht haltmachte. Bei leerstehenden Häusern und Ruinen in der Hauptstadt war es ihm aber immer egal gewesen. Hier auf Hiddensee erinnerten ihn die aufgesprühten Wandgemälde an sein früheres Leben und lösten manchmal sogar so etwas wie Heimweh in ihm aus.

„Damp, Sie können den Fortschritt nicht aufhalten. Nicht mal auf Hiddensee.“

„Ph, wo ist das Fortschritt? Das ist nichts anderes als pure Zerstörungswut. Wissen Sie, was das kostet, die Schweinerei wieder wegzumachen?“

Rieder winkte ab und ging zum Deichweg. Das Gras am Schutzdamm war am Vormittag gemäht worden. Aus der Wiese stieg ein intensiver Geruch nach frischem Heu auf. In den Heubergen leuchteten noch die Blüten der abgeschnittenen Wiesenblumen, bevor sie der sanfte Ostseewind vertrocknen ließ. Sie wirkten auf Rieder wie ein Abschiedsgruß des Sommers.

Steins Grundstück, genau an der Ecke, wo die Strandpromenade und der Deichweg am südlichen Ende Vittes aufeinandertrafen, wirkte eigentlich unbewohnt. Der alte Staketenzaun war ausgeblichen, einige Latten zerbrochen. Das Tor ließ sich nur schwer öffnen, weil dahinter das Gras hoch stand und sich kaum wegschieben ließ. Zur Eingangstür führte durch die Wiese ein schmaler Trampelpfad. Das Mauerwerk des Backsteingebäudes brauchte dringend eine Sanierung. An vielen Stellen zerbröselte der Mörtel in den Fugen oder war schon herabgefallen. Die weiße Farbe an den Fensterrahmen war nur noch zu erahnen. Schon bei seinem Besuch mit Behm auf dem Grundstück hatte sich Rieder über den Zustand des Gebäudes gewundert. „Nicht gerade Werbung für einen Bauunternehmer“, bemerkte er jetzt zu seinem Kollegen.

Er holte den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss der alten Holztür. Es klemmte. Nur mit Mühe bekamen Rieder und Damp die Tür auf. Welchen Gegensatz offenbarte dagegen das Innenleben des alten Strandhäuschens. Die Wände waren frisch weiß gespachtelt. Auf den dunkelrot gestrichenen Dielen lagen helle Läufer. Licht spendeten antike Lampen. Wie Rieder schnell feststellte, handelte es sich dabei um Originale aus den zwanziger oder dreißiger Jahren und nicht um billige Imitate aus dem Baumarkt. Rechterhand ging es in ein Wohnzimmer. An den Wänden hingen Bilder der Insel Hiddensee. Er kannte die Motive von Postkarten, die überall auf der Insel verkauft wurden. Auch das offenbar alles Originale der bekannten Inselmalerin Elisabeth Büchsel. „Mensch, Damp, wissen Sie, was hier für Werte an den Wänden hängen?“

„Keine Ahnung. Ich kenne mich mit Bildern nicht aus“, antwortete Damp.

In der Mitte der Zimmers stand eine alte Ledercouch, davor ein kleines Rauchtischchen. Das einzig Moderne war ein Plasmafernseher.

Küche und Bad mussten erst vor kurzem stilecht saniert worden sein. Eine knarrende Holztreppe führte in den ersten Stock. Die kleine Gaube zur Deichseite ließ nur wenig Licht in den Flur. Die Wände waren bis auf das alte Balkenwerk entfernt worden. Links stand unter dem Fenster mit Blick in Richtung Bodden ein Doppelbett. Daneben ein alter Kleiderschrank. Auf den Stühlen lagen ein paar Sachen. Rieder blickte nach links. „Sehen Sie sich das an. Diese Aussicht!“ Von einem großen Fenster blickte man auf die offene See. „Genial!“, rief Rieder aus.

Damp war nicht so begeistert. „Na und. Auf die Ostsee kann man hier an jeder Ecke schauen. Sogar aus meinem Dachfenster in Neuendorf. Was ist da Besonderes dran?“ Es war das erste Mal, seit die beiden Polizisten das Revier auf Hiddensee teilten, dass Damp etwas über sein Zuhause erzählte. Sonst machte er ein großes Geheimnis daraus, wo und wie er in Neuendorf wohnte. Unter der Dachschräge waren die Regale mit Ordnern gefüllt. Rieder versuchte die Beschriftungen zu entziffern. Er las laut vor: „Laufende Projekte. Häuser Hiddensee. Ablage Inselbau. Bauausschuss. Sparkasse. Prora.“ Auf dem Schreibtisch stapelten sich Mappen. Meist standen Hiddenseer Adressen drauf. Wiesenweg 10. Norderende 23. Schabernack 4 und so weiter. Wahrscheinlich die laufenden Bauprojekte. Rieder klappte die Hefter auf. Drin fanden sich Bauzeichnungen, Bestellungen für Baumaterial, Notizen zum Bauverlauf und viele Rechnungen. Aber nirgendwo konnte er einen Hefter mit der Aufschrift „Zeltkino“ finden. Damp ließ sich in einen Sessel fallen. „Wo wollen wir anfangen?“

„Vielleicht finden wir hier Steins Handy.“ Rieder wählte noch einmal die Handynummer des Bauunternehmers. Es klingelte zwar im Hörer, aber nicht im Haus. „Fehlanzeige.“

Damp hatte mit trägem Blick Rieder zugeschaut. „Und nun? Wonach suchen wir jetzt?“

„Erstmal nach einer Verbindung zwischen Peter Stein und Dora Ekkehard. Mehr haben wir momentan nicht in der Hand.“

„Wir haben noch die Aussagen der beiden alten Schachteln“, entgegnete Damp.

„Glauben Sie wirklich, Dora Ekkehard hat den Stein erschlagen?“, fragte Rieder ungläubig seinen Kollegen.

„Warum nicht?“

„Ich für meinen Teil hoffe es nicht. Aber irgendetwas muss da sein. Vielleicht schauen Sie sich unten um. Wie gesagt, nicht schlecht wäre ein Adressbuch, ein Kalender oder so etwas. Ich schau mich mal weiter hier oben um und gehe die Unterlagen durch.“

Damp stieg die Treppen hinunter. Die Stufen ächzten unter seinem Gewicht. Dann hörte Rieder seinen Kollegen Schubladen aufziehen und wieder zuschieben.

Er selbst widmete sich Steins Schreibtisch und seinen Akten. Den Laptop würde er mit ins Revier nehmen und dort untersuchen. Linkerhand stand auf dem Schreibtisch eine Briefablage. Das Fach „Postausgang“ war leer. Aber im Posteingang hatten sich einige Briefe angesammelt. Rieder zog sie heraus. Lieferscheine für Baumaterial. Ein Vertrag über die Sanierung eines Reetdaches. Angebote von Baumärkten der Umgebung. Alles unverdächtig. Dann nahm er Hefter für Hefter aus dem Regal und blätterte sie durch. Meist ging es um abgeschlossene oder laufende Bauprojekte. Stein musste sehr ordentlich gewesen sein, denn er hatte von der Planung bis zur Übergabe immer alles genau dokumentiert. Rieder entdeckte auch, dass Stein offensichtlich mindestens ein Dutzend Häuser auf der Insel besessen hatte. Außerdem gehörten ihm zwei Läden und vier Restaurants, zum Teil mit Pensionsbetrieb. Bis auf die Pension „Luv & Lee“, die er Charlotte angeboten hatte, waren alle verpachtet. Bei einem Namen blieb Rieder hängen. Otto Bock. Überrascht entdeckte er, dass auch die Pension „Störtebeker“ seines Nachbarn Stein gehörte. Bock hatte sie ihm vor drei Jahren verkauft und dann wieder von Stein gepachtet. Dafür hatte Stein Bocks Schulden bei den Banken übernommen und eine Zwangsversteigerung abgewendet. Das musste doch bitter sein, dachte sich Rieder, sein Hab und Gut aus Not verkaufen zu müssen und dann für den neuen Besitzer dort weiter zu arbeiten. Das erklärte vielleicht auch, warum Otto Bock so wenig Rücksicht auf seine Mitmenschen nahm.

In einer Schublade des Schreibtischs fand er noch ein paar Ordner. Rieder zog sie heraus. Da sie nicht verstaubt waren und die Blätter nicht vergilbt, mussten sie auch von Stein in ständigem Gebrauch gewesen sein. Rieder las auf dem einen Aktenrücken: „Inselbau Rügen“. Rieder klappte den Aktendeckel auf. Obenauf war ein Kaufvertrag abgelegt. Ein gewisser Juri Nemzov hatte von Peter Stein am 1. September 1994 das Unternehmen gekauft, allerdings nicht sofort alles. Nach und nach hatte Stein seinen Anteil verringert. Zuletzt hielt er immerhin noch 25 Prozent an der „Inselbau Rügen“. Rieder hielt inne. Aber hatte Ulrike Stein nicht erzählt, ihr Mann habe alle Aktivitäten auf Rügen eingestellt? Die Unterlagen zeigten das Gegenteil. Es handelte sich um einen regen Schriftwechsel zwischen Nemzov und Stein über verschiedene Bauprojekte auf Rügen. Offenbar war die Firma „Inselbau Rügen“ unter anderem am Bau der neuen Strelasund-Querung beteiligt gewesen, der riesigen Brücke, die den alten Rügendamm ersetzt hatte und nun Stralsund mit Rügen verband. Damit musste Stein viel Geld verdient haben, dachte sich Rieder. Wie hätte er sonst die vielen Hauskäufe auf Hiddensee finanzieren können. Auf alle Fälle musste er mit diesem Nemzov reden und auch noch einmal mit Ulrike Stein. Hatte sie von den Aktivitäten ihres Ex-Mannes auf Rügen wirklich nichts gewusst?

Er nahm den zweiten Hefter. „Ostseetherme Norderende“ stand auf dem Aktenrücken. Was sollte das sein? Er klappte den Ordner auf. Das erste Blatt war ein Brief. Mit Schreibmaschine geschrieben. Datum vorgestern. Rieder las den Absender auf dem Briefkopf und riss die Augen auf. „Widerspruch“ stand in der Mitte des Blattes. Zweimal unterstrichen. „Hiermit lege ich Widerspruch gegen die Kündigung des Pachtvertrages für das Zeltkino auf dem Grundstück Norderende 150 ein. Ich werde rechtliche Schritte einleiten, um Ihre Kündigung unwirksam werden zu lassen. Außerdem werde ich den Gemeinderat und den Bürgermeister über Ihre Entscheidung informieren. Ich bin mir sicher, dass Sie dem öffentlichen Druck nicht standhalten werden.“ Unterschrift: „Dora Ekkehard“.

Rieder fiel vor Schreck fast der Hefter aus der Hand. In diesem Moment kam Damp die Treppe heraufgestürmt. In der Hand hielt er Fotos. Triumphierend reichte er sie Rieder.

„Was sagen wir dazu. Kennen wir nicht diese Dame?“

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25 mayıs 2021
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