Kitabı oku: «Schwarzer Peter», sayfa 4

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VI

Gudrun Witt saß in der Morgensonne vor ihrem Haus am Schabernack und schälte Kartoffeln. Hier am Ortsausgang von Neuendorf, dem südlichen Inselort auf Hiddensee, konnte sie gut beobachten, wer wegfuhr und ankam. Ihr Telefon klingelte. Sie hatte es mit nach draußen genommen. Heiner sollte nicht geweckt werden. Er war von Mitternacht bis kurz nach sechs draußen gewesen. Auf Heringszug. Die Schwärme zogen gerade durch den Bodden. Ihr Mann hatte reiche Beute gemacht. Aber dann musste er noch nach Schaprode fahren, um dort den Fang abzuliefern. Dieser Umweg machte ihn immer ärgerlich. Auf Hiddensee war noch keine Saison, und damit bestand auch keine Nachfrage für den Fisch. Anders auf Rügen. Da lief der Verkauf an die Fischfabrik in Sassnitz und ein paar lokale Abnehmer, die daraus Pfefferhering, Bismarckhering, Brathering oder Matjes machten.

Gudrun nahm ab und meldete sich. „Beruhige dich erst einmal“, sprach sie in den Hörer. Dann lauschte sie wieder. „Das kann doch nicht wahr sein!“, rief sie wenig später aus. „Wo genau?“, und hörte wieder zu. „Ja, klar! Ich weiß, wo das ist.“ Sie warf das Kartoffelmesser in die Schüssel und stemmte entrüstet den Arm in ihre Hüfte. „Was soll ich machen? Bist du meschugge? Was hab’ ich damit zu schaffen? Ich habe auch gar keine Zeit. Bin gerade beim Kartoffelschälen. Heiner muss doch sein Mittagessen bekommen.“ Wütend schüttelte sie den Kopf, auch wenn es der Anrufer nicht sehen konnte. „Ja, ist ja gut. Ich mach’ schon. Hoffentlich gibt das keinen Ärger.“ Gudrun verdrehte die Augen. „Klar versteh’ ich dich. Aber irgendwann … Ja, ich ruf’ an. Nein. Ich sage nichts.“

Sie drückte den roten Knopf an ihrem Telefon und trug den Kartoffeltopf in die Küche. Dort legte sie Heiner einen Zettel auf den Tisch, dass sie gegen elf wieder da sein würde und hoffte, dass ihr Mann bis dahin schlafen würde. Kurz danach trat sie wieder vor die Tür, hatte ein Kopftuch umgebunden und eine blaue Wetterjacke über die Nylonschürze gezogen. Sie ging zum Schuppen und holte eine alte weiße Plane heraus. Sie hatte früher zu einem Pavillon gehört, den jedoch ein Sturm zerstört hatte. Gudrun begutachtete das Stück Kunststoff und klemmte es auf den Gepäckträger ihres Fahrrads. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf den Sattel, fand die Pedale und fuhr los, Richtung Süden.

Damp schaute immer wieder ungläubig auf das Telefon. Das tat er schon seit einer Stunde. Rieder hatte kurz angerufen, dass er heute freinehmen würde, wenn nichts weiter anliegen würde. Die Unterschriften von Martina Gilde und Richard Schlick könne er doch sicher selbst eintreiben. Wenn sich die Staatsanwaltschaft melden würde, solle Damp ihn anrufen. ‚Der feine Herr macht es sich schön bequem‘, hatte sich Damp gedacht. ‚Kippt den Müll einfach auf meine Seite des Schreibtischs.‘ Andererseits war er eigentlich der Chef des Hiddenseer Polizeireviers. Aber eben nur eigentlich.

Kurz danach hatte Damp eine SMS erhalten. Immer wenn die Anzeige aus dem Display verschwand, drückte er schnell eine Taste, und die Schrift war wieder da. Er las wieder und wieder den kurzen Text. Damp drehte sich zum Kalender an der Wand. Nur noch neun Tage bis Karfreitag. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute aus dem Fenster. Draußen lief die morgendliche Geschäftigkeit. Die Elektrokarren der Reederei zogen Container mit Waren für die Supermärkte nach Kloster. Inselfrauen mit vollgepackten Taschen an den Rädern fuhren vorbei. Ebenso Handwerker, nur eine Hand am Rad, die Werkzeugtasche über der Schulter und unter einem Arm Rohre oder Holzbretter. Der Saisonbeginn stand vor der Tür. Ostern. Bis dahin musste sich Damp entscheiden.

„Lochfraß. Eindeutig Lochfraß.“ Hans Claasen klopfte mehrfach mit einem Schraubenzieher an das aufgeplatzte Bleirohr in der Toilette von Rieders Haus. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf. „Ich sag’s ja, Lochfraß.“ Er warf das Werkzeug in seine Ledertasche. „Das war nicht nur der Frost. Das war einfach alt. Und dann war das Rohr gleich hier hinter der Tür. Bei dem Winter. Keine Chance.“

Claasen schloss zum Beweis die Toilettentür und zeigte dann auf die breiten Ritzen zwischen Tür und Rahmen. „Das hält nix ab, Chef.“

„Kann man das denn reparieren?“, fragte Rieder vorsichtig. Er war schon froh, dass Claasen gleich gekommen war. Es hatte keine halbe Stunde gedauert, dann war der Vorarbeiter der Firma Inselbau mit dem alten weißen Lieferwagen vorgefahren.

Claasen kratzte sich am Kinn. „Kann man. Man gut, dass du gleich angerufen hast. Die Frage ist, ob du wieder Kupfer haben willst oder wir gleich mal die ganze Schose hier umbauen auf Plastik. Das ist besser. Verstehste?“

Geduzt wurde der Polizist von den Bauarbeitern der Inselbau, seit er den Mord an ihrem Chef aufgeklärt hatte. Es war eine Art Hiddenseer Ritterschlag. Obwohl auch Damp daran seinen Anteil hatte und sogar in Lebensgefahr geraten war, verwehrten ihm die Bauleute diese Ehre. Er war Rüganer. Eine unüberwindbare Hürde für Vertraulichkeiten.

Rieder hatte von unterschiedlichen Rohrqualitäten keine Ahnung, sondern wollte nur wieder fließendes Wasser. „Das kann ich nicht entscheiden. Ist ja nicht mein Haus. Ich bin nur der Mieter.“

„Musste aber“, beschied ihm Claasen eindringlich. „Viel Zeit ist nicht. Wenn ab übermorgen die Sommerhäusler antraben, dann keine Chance. Dann kommste nicht mehr dran.“

Als Sommerhäusler bezeichneten die Hiddenseer die Besitzer der zahlreichen Datschen auf der Insel. Viele befanden sich in der Dünenheide zwischen Vitte und Neuendorf, aber auch im Hochland von Kloster. Die meisten waren vor Jahrzehnten gebaut worden. Obwohl viele Häuser nach der Wende saniert worden waren, blieben es Sommerhäuser mit dünnen Wänden und Wasserleitungen, die nicht tief in der Erde lagen.

„Eins ist ja klar, nach dem Winter fliegen denen in der Heide die Hähne und Rohre um die Ohren wie die Löcher aus dem Käse. Da ist für uns Saison. Und da sie es ja alle so hübsch wie zu Hause haben wollten, ist das richtiger Dreck. Alle Rohre unter Putz. Noch schön Kacheln draufgeklebt. Das muss dann alles runter. Und dann sind wir ausgebucht. Da kiekste in den Mond. Also?“

„Ja, dann …“

Claasen nahm das als Zustimmung, hockte sich hin und begann in seiner Werkzeugtasche zu wühlen. Er holte verschiedene Rohrstücke hervor, hielt sie kurz hoch und verglich sie mit dem geplatzten Rohr und warf sie dann wieder zurück, bis er endlich ein passendes Plastikteil gefunden hatte. Er hielt es neben die geborstene Leitung und nickte.

„Das ist dann wie in einer Fabrik“, erzählte der Handwerker weiter. „Einer geht rein, kloppt die Wand auf, holt den Mist raus, dann komme ich, schraube die neuen Rohre rein, und zum Schluss müssen die Maurer und der Fliesenleger ran.“

Claasen hatte sich mit einer Rohrzange bewaffnet und versuchte das kaputte Rohr abzuschrauben. Er umfasste die metallene Muffe mit der Rohrzange und versuchte sie zu drehen. Doch es war widerspenstig. Es tat sich nichts. Claasen begann heftig zu rütteln. Das Haus bebte. Rieder lief ins Bad und sah, dass sich an dem Loch, durch dass das Rohr von der Toilette in das kleine Bad führte, immer mehr Putz ablöste und ins Waschbecken fiel. Er eilte zurück und bot Claasen an, auf der anderen Seite der Wand gegenzuhalten. Claasen lehnte ab und würgte weiter. „So ein Schiet!“, brüllte er dabei. „Wie alt ist denn dieser Kladderadatsch? Das hat wohl noch der Kaiser eingebaut?“

Rieder rannte wieder ins Haus. Die Putzbrocken wurden größer. „Hier fällt alles von der Wand!“, rief er.

Claasen hielt ein. „Dann halt doch endlich mal gegen“, befahl er. Und wirklich. Mit gemeinsamer Kraft gab das Rohr seinen Widerstand auf und konnte abgeschraubt werden. Claasen trabte zu seinem Lieferwagen. Er holte einen mobilen Schraubstock heraus, um das neue Teil auf Maß zu schneiden. Rieder wollte nicht nur blöd danebenstehen. „Haben Sie … äh … habt ihr von der Inselbau auch das Haus von Gilde saniert.“

„Haha“, lachte Claasen, ohne die Arbeit zu unterbrechen, hässlich auf. „Dem waren wir nicht gut genug.“ Er richtete sich auf, beugte den Rücken gerade und verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. „Der hat sich alles von Berlin kommen lassen. Maurer, Klempner und was weiß ich. Völlig gegen die Regel. Wer hier baut, baut mit uns. Aber bei Gilde Pustekuchen.“ Er spuckte aus. Für einen Hiddenseer das höchste Maß der Verachtung. Schlimmer als nur den Gruß zu verweigern.

Mit dem zugeschnittenen Rohr ging Claasen in die Toilette und begann es einzubauen. „Ein Theater hat der Gilde gemacht. Alles wurde abgesperrt mit großen Wänden, damit keiner reingucken kann. War aber trotzdem drin.“ Claasen grinste.

Rieder wurde hellhörig. „Und?“

„Schon alles gut gemacht“, räumte Claasen ein. „Die Wände gespachtelt, aber so glatt. Wahrscheinlich mit so einer Maschine. Da siehste keine Spur. Auch sonst alles vom Feinsten. Marmorfliesen in Bad und Küche, Eichenparkett in allen Zimmern.“ Claasen zwinkerte verschwörerisch mit einem Auge. „Viel Freude wird man daran nicht haben bei dem Sand hier. Da kannste die Füße abtreten, wie du willst. Der Sand ist wie ein Reibeisen, zieht schöne kleine Furchen. Kommt dann die Feuchtigkeit von Herbst bis Frühjahr, dann gute Nacht.“

Er klopfte an das eingebaute Rohr. „So fertig. Jetzt kannste mal das Wasser anstellen.“

Rieder langte in den Schacht vor dem Haus und drehte den Hahn auf. Er hörte es rauschen und schreckte hoch. Doch Claasen hatte nur den kleinen Wasserhahn über dem Waschbecken in der Toilette aufgedreht. Dann probierte er die Spülung der Toilette aus. „Alles klar. Rechnung folgt.“ Claasen hängte sich die Werkzeugtasche um und ging zum Lieferwagen. Rieder lief ihm hinterher, zog seine Geldbörse heraus und wollte ihm einem Zwanzig-Euro-Schein geben. „Nee, lass mal Meister. Die Zeiten sind vorbei.“

Rieder hielt ihm aber weiter den Schein hin. „Dann für die Kaffeekasse.“

„Dann will ich mal nicht so sein.“ Er nahm den Schein, schob seine Tasche in den Wagen und deutete auf eine ganze Ladung von Kartons. „Schon voll munitioniert für die große Schlacht. Rohre, Hähne, Kacheln und was weiß ich. Ist das beste Wochenende im ganzen Jahr. Da rollt der Rubel. Unsere Frauen schicken wir zur Verwandtschaft nach Rügen, denn dann geht’s rund von früh bis spät.“

Claasen reichte Rieder die Hand und stieg ein. „Tja, dem Gilde hat das ganze Geld auch nicht geholfen“, philosophierte er, während er in der Brusttasche seiner Latzhose nach dem Autoschlüssel suchte. „Sterben muss jeder. Und nun hat es ihn auch erwischt. War ja auch alt genug“. Damp kam auf der Gegenseite mit dem Streifenwagen angefahren. Kein Blaulicht. Es konnte also nicht dringend sein. Damp hatte wieder die alte grüne Uniform an. Er ließ die Seitenscheibe herunter, winkte kurz Claasen zu, doch der erwiderte nicht seinen Gruß, sondern fuhr einfach los. Dann wandte sich Damp an Rieder: „Ein Toter liegt am Schwarzen Peter.“

VII

Besonders eilig schien es Damp nicht zu haben. Sonst würde er auf das Gaspedal treten, die Sirene einschalten und somit den Insulanern verkünden: Es ist was passiert. Aber heute fuhr er trotz Notruf ziemlich gemächlich Richtung Neuendorf. „Haben wir schon was über die Identität der Leiche?“, fragte Rieder.

Damp schüttelte den Kopf. „Gudrun Witt hat angerufen. Danach bin ich gleich los.“

„Und Möselbeck und die Rettungssanitäter?“

Damp schlug sich an die Stirn. „Mensch, habe ich völlig vergessen!“

Was war mit seinem Kollegen los, fragte sich Rieder erneut im Stillen und wählte die Nummer des Inselarztes.

Möselbeck meldete sich. „Ich bin schon unterwegs“, rief er. „Gudrun Witt hat mich angerufen.“ Es waren laute Fahrgeräusche zu hören. Wahrscheinlich nutzte der Arzt seine neue Freisprecheinrichtung. Ein Erfolg von Damps neuer Bußgeldstrategie. Er hatte festgestellt, dass Telefonieren am Steuer – oder auf Hiddensee am Fahrradlenker – viel mehr an Bußgeld einbrachte als Fahren ohne Licht oder die mangelnde Fahrtüchtigkeit der Inselräder, nämlich das Doppelte. Dazu sogar noch einen Punkt in Flensburg. Für Damp war das eine ganz neue Liga. Punkte für Autofahrer, obwohl sie bis auf Möselbeck gar nicht beim Autofahren gegen die Verkehrsregeln verstoßen hatten. Jedenfalls machte Damp nun geradezu Jagd auf die telefonierenden Verkehrssünder. Den Inselarzt hatte er schon dreimal erwischt.

„Wir treffen uns vor Ort.“ Damit beendete Möselbeck das Gespräch.

„Ach übrigens, ich bräuchte Ostern die vier Tage frei“, erklärte Damp.

„Könnte schwierig werden, wenn Gilde ausgebuddelt werden muss oder der Tote heute Probleme macht“, fügte Rieder nach einer kurzen Pause hinzu.

„Ich denke, Gilde wird nicht ausgebuddelt“, erwiderte Damp. Die beiden Polizisten wechselten einen kurzen Blick. „Ihre Worte“, beschied Damp seinem Kollegen. „Ich brauche aber von Karfreitag bis Montag frei. Keiner kann von mir verlangen, dass ich an den Feiertagen arbeite.“

So hatte Rieder seinen Kollegen noch nicht erlebt. Damp war ihm bisher immer als Polizist mit Leib und Seele erschienen. Er meckerte mal über seinen Chef in Stralsund. Aber wer tat das nicht. Damp war sicher auch keine Fleißmeise, wenn es nicht gerade um Verkehrskontrollen ging. Aber er hatte sich noch nie vor dem Dienst gedrückt, schon gar nicht, seit er Revierleiter auf Hiddensee war.

„Also wie gesagt, von mir aus kein Problem, wenn nichts dazwischen kommt“, meinte Rieder, um die Diskussion zu beenden. Trotzdem hätte er gern gewusst, was hinter Damps Frage steckte. Was hatte er Ostern vor?

Sie fuhren bereits durch Neuendorf. Möselbeck hatte mit seinem Jeep zu ihnen aufgeschlossen. Im Seitenspiegel sah Rieder, dass wenigstens er das Blaulicht eingeschaltet hatte. Rieder drückte den Knopf für das Sondersignal. Damp knurrte. „Muss ja nicht jeder gleich wissen, was los ist. Dann haben wir gleich die ganzen Gaffer am Hacken.“

Rieder ging nicht darauf ein. „Wir sollten auch die Spurensicherung in Stralsund anrufen.“ Er begann in seinem Telefonspeicher nach der Nummer von Holm Behm zu suchen, dem Chef der Stralsunder Spurensicherung.

„Warum? Muss ja nicht jeder Tote gleich ermordet worden sein“, wandte Damp barsch ein. Rieder blickte erneut zu ihm hinüber. Sein ganzes Gesicht war jetzt angespannt, er knirschte mit den Zähnen. Rieder antwortete nicht. Er steckte das Telefon ein, und beide schwiegen. Am Strandcafé am Ortsende von Neuendorf bogen sie nach links auf den Deichweg ein. Rieder schaute zu dem verlassenen Haus. Er spürte einen Stich in der Brust. Bis zum Herbst hatte hier Charlotte Stein die Geschäfte geführt. Sie waren ein Paar gewesen, doch Charlotte wollte mehr als nur eine Liebe ohne Verpflichtungen. Sie hatte ihn und Hiddensee verlassen, war nach Mallorca gegangen und dort Geschäftsführerin in einem Restaurant. So meldete es jedenfalls Malte Fittkau. Woher er seine Information hatte, wollte er Rieder nicht verraten. Charlotte hatte sich nicht einmal von Rieder verabschiedet. Sie hatte ihm nur einen Brief hinterlassen. Darin hatte sie sich über Rieders Unentschiedenheit beklagt. Er hatte den Brief von Malte Fittkau erst im Januar nach seiner Rückkehr auf die Insel erhalten. Geantwortet hatte er ihr nicht. Dazu fühlte er sich zu schuldig, denn er hatte Charlotte auch noch mit seiner Kollegin Nelly Blohm betrogen. Sollte er ihr das schreiben? Vor sich selbst rechtfertigte er seinen Fehltritt als harmlosen One-Night-Stand. Aber warum feuerten jetzt so seine Wangen und wurden seine Hände feucht? Symptome des schlechten Gewissens? Rieder drehte sich noch einmal nach dem „Strandcafé“ um. Er hielt kurz inne. Hatte sich dort nicht gerade die Gardine bewegt? Bevor er genauer hinsehen konnte, wurde er heftig durchgeschüttelt. Damp war nach rechts auf den alten Deich eingebogen. Der Steindamm war von riesigen Betonfugen durchzogen. Ein Härtetest für jeden Stoßdämpfer. Rieder musste leicht den Mund öffnen. Sonst hätten seine Zähne angefangen zu klappern.

Gudrun Witt stand mit verschränkten Armen mitten auf dem Deich. Um sich vor dem Wind zu schützen, hatte sie die Kapuze ihrer Wetterjacke über den Kopf gestülpt. Rieder erkannte in der kleinen stämmigen Frau die Köchin aus dem „Strandcafé“. Sie war berühmt für ihren gebratenen Dorsch und ihre Matjesfilets. Selbst Insulaner, die selten in ein Restaurant gingen, waren extra wegen Gudruns Kochkünsten ins „Strandcafé“ gekommen. In seiner Zeit auf der Insel hatte Rieder fast alle Gaststätten auf der Insel mit Charlotte getestet. Sie nannte das ,Feindbeobachtung‘. Danach hatte sie mit Gudrun beraten, mit welchen Gerichten man der Konkurrenz Paroli bieten konnte.

„Guten Tag, Gudrun“, begrüßte Rieder die Frau. „Lange nicht gesehen.“

Gudrun erwiderte den Gruß nicht. „Wird Zeit, dass ihr endlich kommt. Ich erfriere vor Kälte.“ Dann deutete sie mit dem Kopf zur Boddenseite. „Da liegt er.“

Die beiden Polizisten blickten nach unten. Möselbeck kam dazu. Es waren nur die Füße des Toten zu sehen. Sonst war der Körper mit einer schmutzig weißen Plastikplane zugedeckt. Neben der Leiche lehnte ein Fahrrad am Fuße des Deichs. Etwas weiter weg war eine Staffelei aufgestellt, daneben ein Holzkasten. Dahinter befand sich ein Fahrradanhänger mit einer Abdeckung.

„Ich hol’ mal den Einsatzkoffer“, erklärte Rieder und ging zum Heck des Wagens. Er war schon dabei, als Damp hinter ihm her stürzte und rief: „Der Koffer liegt auf dem Rücksitz.“

Aber Rieder hatte schon die Klappe des Kombis geöffnet. „Was ist das?“, fragte er erstaunt. Im Kofferraum standen mehrere Eimer Wandfarbe, einige Pinsel sowie allerlei weiteres Malerzubehör. Außerdem ein Eimer mit zahlreichen Putzmitteln.

„Das geht Sie nichts an!“, blaffte Damp und versuchte die Klappe wieder zu schließen.

„Wollen Sie renovieren?“, hakte Rieder neugierig nach.

„Und wenn?“

„Schon gut“, versuchte Rieder die Situation zu entspannen. Er ging zur hinteren Tür des Wagens und zog den Koffer heraus. „Wollen wir dann mal nach unten gehen?“

Damp schüttelte den Kopf, offenbar immer noch wütend. „Ich bleibe hier oben und schau mich mal um. Außerdem muss auch einer mit Frau Witt reden.“

„Was war denn mit Damp los?“, fragte der Inselarzt, als er mit Rieder über die glatten Steine des Deichs hinunter zum Ufer kletterte.

„Keine Ahnung“, erwiderte der Polizist. „Er ist momentan etwas merkwürdig. Mal total aufgekratzt, dann wieder wütend. Ich frage mich, warum er renovieren will.“

„Hat das noch mit Ihrem Undercover-Einsatz im Winter zu tun? Ist er immer noch beleidigt, dass Sie ihn damals nicht informiert haben?“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Sicher war das von mir nicht ganz sauber, aber … ach, was soll ich sagen … vielleicht, vielleicht auch nicht. Lassen wir das und kümmern uns um unseren Kunden hier.“

Er machte ein paar Fotos von der abgedeckten Leiche und der Umgebung. Die Steine des Bollwerks waren mit einer leichten Teerschicht überzogen. Was Rieder wunderte: dass auf der Staffelei kein Bild stand. In der Holzkiste befanden sich Pinsel, Farben, ein gefülltes Wasserglas, Farbpaletten. Rieder stellte sich vor die Staffelei und hielt nach einem Motiv Ausschau. „Was kann man hier malen wollen? Was ist das Motiv für einen Maler?“

Auch Möselbeck schaute sich um. „Schaprode ist definitiv zu weit weg.“ Der Arzt deutete über den Bodden nach Rügen, zu dem kleinen Dorf, von dem die Fähren nach Hiddensee ablegten. „Da sieht man kaum noch den Kirchturm.“

„Das Schilf ist nun auch nicht besonders attraktiv. Von dem alten Deich ganz zu schweigen“, bemerkte Rieder.

Dann hoben sie vorsichtig die Plane nach oben, um keine Spuren auf dem Körper des Toten zu verwischen. „Das ist ja der olle Kempe!“, rief Möselbeck aus.

Jetzt erkannte auch Rieder den Toten. „Ich habe ihn gestern noch gesehen. Nach dem Leichenschmaus für Gilde. In Kloster am ‚Hitthim‘. Da war er noch ganz munter.“ Als er sich den Toten näher anschaute, erinnerte sich Rieder, dass er Kempe früher öfter auch im Strandcafé gesehen hatte. „Ich glaube, der hat er immer mal bei Charlotte an der Theke gesessen mit Bier und Korn.“

Möselbeck nickte. „Das kann ich mir vorstellen. Er war kein Kostverächter, wenn’s ums Trinken ging. Seine Leber fand das nicht so gut. Sein Herz auch nicht. Die typische Künstlerkrankheit. Er war ja auch schon über achtzig. Vielleicht war es einfach zu viel für ihn. Erst trinken, dann mit dem Rad hier runter. Da kann das Herz schnell mal schlapp machen. Hier hängen nicht wie in Berlin an jeder Ecke Defibrillatoren.“

Rieder machte noch ein paar Aufnahmen. Die Gesichtszüge des Toten wirkten entspannt, als sei er friedlich eingeschlafen. „Also ein ganz natürlicher Tod“, stellte Rieder fest.

„Mal sehen“, verkündete Möselbeck, zog ein paar Latexhandschuhe über und hockte sich hin. Er begann mit der äußeren Leichenschau, bewegte Arme und Beine. „Die Leichenstarre ist schon voll ausgeprägt“, verkündete der Arzt. „Wenn man die kalte Nacht berücksichtigt, ist er so zwischen zwölf und vierzehn Stunden tot.“ Möselbeck schaute kurz auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach zehn. „Ich würde den Todeszeitpunkt auf gestern Abend zwischen 20 und 22 Uhr eingrenzen.“

„Da war es doch schon dunkel. Wie soll er ohne Tageslicht noch gemalt haben?“, wunderte sich Rieder.

Möselbeck öffnete die Kleidung des Toten, um nach Wunden zu suchen. Als er Kempes Kopf anhob, stutzte er. Darunter hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. „Sehen Sie mal.“ Rieder kniete sich neben den Arzt. Möselbeck war schon dabei den Kopf des Toten zu drehen. Am Hinterkopf klaffte eine tiefe Wunde. Es war ein richtiges Loch. Der Arzt sah sich um, schaute sich den Boden genauer an. „Diese Wunde passt nicht zu der Fläche hier. Hier ragt nichts Spitzes aus dem Boden. Der Teerüberzug über den Steinen ist völlig glatt. Er muss von hinten erschlagen worden. Vielleicht mit einem Stein.“

Damp hatte seinen Notizblock aus der Brusttasche gezogen. „Also, Gudrun, nur mal fürs Protokoll. Wann hast du den Toten gefunden?“

Gudrun Witt stand immer noch mit verschränkten Armen. „Na, kurz bevor ich dich angerufen habe.“

„Geht es etwas genauer?“

„So gegen halb zehn. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.“

„Hm“, brummte Damp. „Und kennst du den Toten?“

Gudrun schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wer das ist.“

Rieder war wieder auf die Deichkrone geklettert und zog Damp ein Stück zur Seite. Er flüsterte seinem Kollegen zu, was Möselbeck entdeckt hatte. „Also Mord!“, rief Damp aus. „So ein Mist! Und es ist der alte Kempe?“

Genau das hatte Rieder vermeiden wollen. „Wenn Sie weiter so brüllen, können wir gleich einen Aushang am Rathaus machen.“

Aber Gudrun hatte genug gehört. Sie schlug die Hand vor den Mund. Damp straffte seine Uniform und ging wieder zu ihr.

„Willst du mich eigentlich für dumm verkaufen? Du willst den alten Kempe nicht erkannt haben?“

„Ich habe nicht so genau hingesehen. So eine Leiche ist ja kein schöner Anblick.“

Damp fixierte sie mit einem stechenden Blick, bohrte aber nicht weiter nach. Er machte erst mal mit Routinefragen weiter.

„Also Gudrun, was hast du hier gemacht?“

Gudruns Augen verengten sich kurz, bevor sie antwortete: „Ich bin spazieren gefahren. Mit meinem Rad.“

Da brach auch schon das Donnerwetter über sie herein. Damp stemmte sein Hände in die Hüften. „Du willst hier um halb zehn spazieren gefahren sein? Wer soll dir das glauben? Deine Großmutter?“

Gudrun war etwas zurückgewichen. Ihre Arme hingen schlaff herab. „Aber so war es“, brachte sie stockend hervor.

„So soll es gewesen sein?“, wiederholte Damp im scharfen Ton. „Du fährst um halb zehn früh spazieren? Dass ich nicht lache!“ Dann kam er mit seinem Gesicht Gudrun ganz nah. „Ich sag’ dir mal, was du um halb zehn machst. Du sitzt in deiner Küche und schälst Kartoffeln, damit um zwölf für Heiner das Essen auf dem Tisch steht!“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Weil ich es weiß. Oder hast du nicht immer bei Charlotte gejammert, wie dich dein Alter nervt, weil immer um zwölf das Essen auf dem Tisch stehen muss?“

„Lass Charlotte aus dem Spiel!“, blaffte Gudrun zurück.

Doch Damp hörte gar nicht zu, so war er in Fahrt. „Und die Plane? Die haste immer bei deinen Spazierfahrten dabei?“

Gudrun stutzte kurz. Dann verschränkte sie wieder die Arme vor der Brust. „So ist es aber gewesen“, beharrte sie trotzig auf ihrer Aussage.

„Aber so kann es nicht gewesen sein“, widersprach ihr Damp erneut. Rieder hatte bisher schweigend daneben gestanden. „Gudrun, mit hoher Wahrscheinlichkeit ist Kempe ermordet worden. Ich würde mir an deiner Stelle genau überlegen, was du uns sagst.“

„Ich kann nur sagen wie es gewesen ist“, erwiderte sie mit brüchiger Stimme. Dann brach sie in Tränen aus. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

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