Kitabı oku: «Schwarzer Peter», sayfa 5

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VIII

Obwohl die Steine noch recht kalt waren, saßen Damp und Rieder auf der Deichkrone. Der Wind hatte nachgelassen. Die Sonne brach zwischen den Wolken hervor und wärmte die Luft. Sie warteten auf die Spurensicherung aus Stralsund. Der Greifswalder Rechtsmediziner, Dr. Krüger, hatte mitgeteilt, dass er seine Vorlesungen an der Universität nicht verschieben könne. Wenn die Spurensicherung ihre Arbeit gemacht habe, solle ein Beerdigungsunternehmen von Rügen die Leiche ins Rechtsmedizinische Institut nach Greifswald bringen.

„Warum kommt Behm eigentlich nicht mit der Wasserschutzpolizei?“, fragte Rieder.

„Gebauers Boot ist in der Werft. Motorschaden“, antwortete Damp.

„Schon wieder?“ Rieder überlegte kurz. „Das ist doch das dritte Mal, seit ich hier bin.“ Und er war erst seit einem Jahr auf der Insel.

„Das ist eine alte Schabracke. Der Kahn war schon so gut wie ausgemustert, als er aus Kiel hierher verfrachtet wurde. Die Wessis haben uns doch nach der Wende den ganzen Schrott angedreht. Diese Fähre, die im Winter nicht fährt, und diese Polizeiboote, die im Frühjahr kaputt sind. In Dienst gestellt 1974. Da bin ich noch zur Schule gegangen.“

„Also, wir konnten uns nicht beschweren. Wir bekamen in Halle 1990 zwar alte Passat Kombi. Erdbraun. Aber hinten war so viel Platz, da konnte man bei Observationen mal ’ne Schicht Schlaf einlegen. Und da die Jungs immer noch dachten, wir seien mit Lada und Wartburg unterwegs wie Hauptmann Fuchs aus dem ‚Polizeiruf 110‘ und nicht mit einem alten Westschlitten, waren wir auch ganz schön erfolgreich …“

Damp wandte sich Rieder zu. „Sie kommen aus dem Osten?“

„Ja.“

„Das haben Sie nie erzählt.“

„Warum auch? Spielt das eine Rolle?“

„Aber Sie waren doch Leitender Ermittler einer Mordkommission in Westberlin.“

„Na und? Mein Partner kam aus dem Ruhrgebiet. Wir saßen in Charlottenburg. Westberlin gibt’s schon länger nicht mehr.“

„Für mich schon.“ Damp versank in Gedanken. „Ich dachte immer, Sie sind aus Berlin“, begann er wieder.

„Selbst wenn, hätte ich ja auch aus dem Osten Berlins kommen können.“

„Komisch, hätte ich nicht gedacht, dass Sie ein Ossi sind.“

„Dann haben wir das jetzt mal geklärt.“

„Ich fand es nicht gut, die Witt einfach gehen zu lassen“, wechselte Damp das Thema.

„Die wird schon nicht abhauen. Wo soll sie denn hin?“

„Trotzdem.“

Rieder hatte gewartet, bis sich Gudrun Witt beruhigt hatte und sie dann nach Hause geschickt. „Wir werden aber noch mal mit Ihnen reden müssen.“

Damp war zwar mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, hatte aber nicht widersprochen. Gudrun Witt hatte ihr Rad genommen, war aufgestiegen und langsam auf dem Deich zurück nach Neuendorf gefahren.

„Und wenn sie doch abhaut?“, beharrte Damp.

„Sie haben ja Recht, dass mit Gudruns Geschichte was nicht stimmt. Aber können wir ihr das Gegenteil beweisen? Was nicht stimmt, kriegen wir hier auf der Insel nicht raus, wenn wir Gudrun Witt aufs Revier mitnehmen. Da haben wir gleich die Neuendorfer gegen uns. Die reden schon so nicht gern mit uns.“ Die Bewohner des südlichen Inseldorfes waren eine verschworene Gemeinschaft. Schon seit Jahrhunderten. Früher hatten sie in einer Fischerkommune, einer Art Genossenschaft miteinander gearbeitet und alles miteinander geteilt. Der Zusammenhalt war bis heute geblieben. Die Insulaner in Vitte und Kloster waren von einem anderen Schlag. Sie hatten sich immer als stolze freie Fischer gefühlt. Zwischen Neuendorf und Vitte schien eine unsichtbare Grenze quer über die Insel zu verlaufen. Oder wie sagte Malte Fittkau? „Neuendorf ist Ausland.“

Aber Malte spielte in Rieders Überlegungen eine wichtige Rolle. „Ich habe eine andere Idee. Wir müssen Gudrun Witt beobachten und sehen, was sie tut.“

„Na prima, wir sind ja auch auf der Insel so unsichtbar wie ein rosa Elefant“, entgegnete Damp und winkte ab.

„Ich dachte an eine Art Spion“, erklärte Rieder.

„Und wer soll das sein? Wollen Sie die Blohm von Rügen holen“, fragte Damp listig.

„Keinen Fremden. Der fällt doch hier nur auf. Ist doch noch keine Saison. Ich dachte an Malte.“

„Den Fittkau?!“, rief Damp aus. „Der quatscht doch alles aus.“

„Hat er im Winter auch nicht getan“, erwiderte Rieder und bereute sofort seine Antwort. Malte Fittkau war Rieder im Winter bei seinem Undercover-Einsatz auf der Insel, wenn auch durch Zufall, auf die Schliche gekommen, hatte ihn aber gegenüber Damp nicht verraten. Deshalb war er auch nicht gut auf Fittkau zu sprechen.

„Die suchen doch Leute, die den alten Fischerschuppen in Neuendorf entrümpeln. Da soll doch dieses neue Museum rein. Gleich da am Ortseingang und ganz in der Nähe vom Haus der Witts. Dafür könnte sich Malte doch melden und dabei ein Auge auf Gudrun werfen.“

Damp schwieg, aber Rieder konnte fühlen, wie es in seinem Kollegen arbeitete. „Sie glauben, die Neuendorfer lassen einen aus Vitte ihre alten Sachen rausräumen? Träumen Sie weiter.“

„Es kommt auf einen Versuch an.“

Da hörten sie das Brummen eines Hubschraubers in der Luft. „Na endlich!“

Holm Behm und sein Assistent Sascha buckelten die Koffer der Spurensicherung über den Deich. Der Polizeihubschrauber war weit hinter dem Deichende am kleinen Leuchtturm Gellen niedergegangen. Der Pilot hatte sich nicht getraut, in der Nähe des Boddenufers zu landen. Er fürchtete, beim Aufsetzen im moorigen Boden zu versinken. Doch auch am Leuchtfeuer war der Boden durch die Schneeschmelze weich und schlammig. Von dort bis zum Schwarzen Peter waren es einige hundert Meter. Die Hosen der beiden Beamten aus Stralsund waren übersät mit braunen sandigen Spritzern.

„Diese Plackerei“, stöhnte Behm, als er endlich am Tatort ankam. „Hätte ich das gewusst, wäre ich mit dem Auto gekommen. Die Fähre von Schaprode fährt doch wieder?“

Damp und Rieder nickten. „Wahrscheinlich wäre ich auch schneller gewesen. Erst mit dem ganzen Zeug raus zur Marineschule, dann mit dem Ding da hierher“, er deutete zum Hubschrauber, der gerade wieder abhob, „und nun noch die Schlepperei.“

Die beiden Inselpolizisten nickten wieder. Jetzt mit einem mitleidigen Blick.

„Und? Was haben wir hier?“

Rieder wies auf den Toten am Fuß des Deichs. „Alter Mann, wahrscheinlich erschlagen.“ Er schaute kurz auf die Uhr. „Jetzt so sechzehn Stunden tot. Der Inselarzt meinte, es könnte ein spitzer, kantiger Gegenstand gewesen sein.“

„Habt ihr die Tatwaffe schon gesucht oder gefunden?“

Damp und Rieder schüttelten die Köpfe.

„Warum nicht?“

„Du beschwerst dich doch immer, wenn alles zertrampelt ist.“

„Sollen wir beide jetzt hier rumsuchen …“

Wenig später waren Damp und Holms Assistent Sascha ausgeschwärmt und suchten das Gelände um den Deich und das Bollwerk nach der Tatwaffe ab. Man hatte sich auf einen spitzen massiven Stein geeinigt. Rieder war bei Behm geblieben. Zuerst hatte der Spurensicherer die Jackentaschen des Toten geleert. Ein paar Schlüssel und eine abgenutzte Brieftasche waren zum Vorschein gekommen. Er reichte die Sachen Rieder. Die Schlüssel verstaute Rieder gleich in einer durchsichtigen Asservatentüte, das Lederetui durchsuchte er nach Papieren. Einen Ausweis gab es nicht, aber dafür einen rosa DDR-Führerschein, Klasse B. Rieder klappte die Pappkarte auseinander. Ihm schaute ein jüngerer Kempe entgegen, doch Frisur und selbst die Falten im Gesicht ähnelten dem Toten. Das Ausstellungsdatum war 1985. Damals war Kempe um die fünfzig gewesen. Eine Adresse gab das Dokument nicht her. Sicher wusste Damp, wo der Tote gewohnt hatte. Behm untersuchte die Hände des Toten, gab es aber bald auf. „Der hat so viel Malerdreck unter den Fingernägeln. Da wird es schwierig werden, irgendwelche Fremd-DNA zu sichern, wenn es überhaupt welche gibt. Anzeichen für einen Kampf sind ja auch nicht zu sehen.“

Rieder schaute kurz hoch und beobachtete seinen Kollegen, wie er die Hände der Leiche vorsichtig in Plastiktüten verpackte und dann an den Unterarmen zuschnürte. Dann tastete er weiter die Kleidung des Toten ab. In einer Hosentasche fand Behm ein paar Münzen und ein Stofftaschentuch. Rieder hatte gehofft, er würde ein Funktelefon finden.

„Haste übrigens gehört, dass Bökemüller eine neue Truppe aufstellt?“

„Nö, woher?“

„Na, ich dachte, dass du mit dem Alten doch auf gutem Fuß stehst.“ Behm wandte sich den Schuhen zu, suchte zuvor mit einer Lupe noch die Kleidung nach Faserspuren ab.

„Ich habe Bökemüller zuletzt im Januar gesehen, kurz nach der Aktion hier auf der Insel. Was soll das denn für eine Truppe sein?“

„Soll sich SOKO Bäderpolizei nennen. Bökemüller hat mich gefragt, ob ich mitmachen würde.“

„Und?“

„Würde mich schon reizen. Einsatzgebiet soll vom Darß über Rügen bis nach Usedom reichen. Hauptstandort Stralsund. Das käme mir natürlich zupass. Da kannste meistens, wenn was passiert, abends auch noch nach Hause fahren.“

„Nach Hiddensee kann man weder von Stralsund noch von sonstwo hier oben abends nach Hause. Und dann immer in Hotels und Pensionen abhängen, na, ich weiß nicht.“

„Willst du denn auf der Insel bleiben?“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Im Moment schon. Mir gefällt’s hier.“

„Und mit Damp?“

„Was soll mit Damp sein?“

„Kommt ihr miteinander klar nach der Nummer im Winter?“

„Schon“, um nach einer Pause noch anzufügen, „irgendwie eben.“

„Naja“, plauderte Behm weiter, „ich habe Bökemüller gesagt, du müsstest den Chef machen.“

„Was hast du ihm gesagt?“ Rieder war aufgebracht. Er mochte es nicht, wenn sich andere in seine Angelegenheiten einmischten oder glaubten, sein Anwalt sein zu müssen.

Behm schaute sich kurz um. „Nicht so laut. Die beiden müssen nicht hören, was läuft.“

Er trat näher an Rieder heran. „Mal im Ernst, wer sollte es sonst machen? Nichts gegen die Kollegen aus Stralsund, Bergen oder Greifswald. Aber die bösen Buben, die da anrücken, aus Berlin zum Beispiel, sind eher deine Kragenweite. Auch die Bandenkriminalität an der Grenze und so, das aufkommende Drogengeschäft, die Rotlichtcliquen, also beim besten Willen, das ist eine Nummer zu groß für einen von uns. Da muss ein Fachmann mit deiner Kompetenz ran. Immerhin warst du stellvertretender Leiter einer Mordkommission.“

Rieder schnaufte kurz. „Das nannte sich Abwesenheitsvertreter und war die bessere Umschreibung für Dienstplanverantwortlicher, weil es keiner machen wollte. Außerdem weißt du genau, warum ich hier hoch gekommen bin.“

Behm zog die Augenbrauen nach oben. „Irgendwann musst du deinen Kururlaub mal beenden. Ich kenne einen, der letzten Herbst losgetigert ist, kaum dass er wieder unter den Lebenden war, mit einem Verband um Arm und Schulter, und dann um die halbe Welt einen Mörder verfolgt hat …“

„Das war etwas anderes.“ unterbrach ihn Rieder und trat einen Schritt zurück. Über den Deich kam der schwarze Kombi des Beerdigungsinstituts.

„Was soll ich Bökemüller sagen?“, drang Behm noch einmal auf seinen Kollegen ein.

„Was du ihm sagen sollst?“, fragte Rieder unwirsch. „Bist du sein Bote?“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wäre schon keine schlechte Kombination für ein Team, Ermittler und Spurensicherer“, bemerkte er nachdenklich. „Aber da steht sicher irgendeine Vorschrift oder der Tarifvertrag dagegen.“

Behm grinste. „Also hast du doch Lust …“

„Ich weiß nicht …“, blockte Rieder ab. Er wollte das Thema beenden. Aber in seinem Hirn hatten sich Behms Worte festgesetzt und begannen nun ein Eigenleben zu führen. Rieder versuchte sie zu verdrängen. „Jetzt kümmern wir erst mal um den Toten hier.“

Damp und Sascha kamen zurück. „Nichts gefunden“, erklärte Damp. „Kein Stein, keine Flasche, kein Brett, kein Werkzeug.“

„Dann liegt es vielleicht auf dem Grund des Boddens.“ Behm machte eine ausschweifende Handbewegung über das Wasser und drehte sich dabei zur Staffelei. „Wo ist eigentlich das Bild?“

„Das habe ich mich auch schon gefragt“, antwortete Rieder.

IX

Rieder setzte sich auf die Ladekante des Polizeiautos und zog die Wathose über. Hier auf Hiddensee gehörte das zum Standard der Polizeiausrüstung. „Wie kalt wird das Wasser jetzt sein?“, fragte er zögerlich.

„Vielleicht zehn Grad“, antwortete Holm Behm.

Rieder überlief ein Schauer. Er atmete tief durch, stand auf und kletterte den Steindeich hinunter. Damp stand mit verschränkten Armen auf dem Kai. „Ich finde es total sinnlos, jetzt in die kalte Boddenbrühe zu springen“, grummelte er. „Das Bild ist doch sowieso futsch.“

Rieder konnte ihm nicht ganz widersprechen und wusste eigentlich auch nicht, was er mit seiner Badeeinlage beweisen wollte. Vorsichtig tauchte er seinen rechten Fuß in das Wasser und zog ihn gleich blitzartig wieder zurück. „Scheiße! Ist das kalt!“

Rieder zog die Luft zwischen den Zähnen ein. Damp und Behm grinsten. Auch Sascha konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, beugte sich aber gleich wieder über die Staffelei und pinselte weiter das Gestänge ab auf der Suche nach Fingerabdrücken.

Rieder unternahm einen zweiten Versuch. Langsam tauchte er den Fuß ins Wasser. Er hoffte, dass sich so sein Körper besser an die Temperatur gewöhnen würde. Es schien auch zu klappen. Er senkte auch den zweiten Fuß in den Bodden. Das Wasser war so flach, dass es ihm nicht mal bis zu den Knien reichte. Langsam stapfte er los. Seine Füße durchschnitten das Wasser. Trotz der Wathose kroch die Kälte des Wassers langsam an den Beinen empor. Rieder schaute sich um und achtete dabei nicht, wohin er gerade trat. Sein Fuß erwischte einen Stein, rutschte ab. Er wedelte mit den Armen und konnte nur durch hektisches Springen von einem Bein auf das andere das Gleichgewicht halten. Wasserspritzer durchnässten sein Hemd. Rieder fluchte. Vom Ufer hallte lautes Lachen. Rieder schaute ins Wasser. Der Stein war der einzige weit und breit. Sonst war hier nur Schlick und Sand. Er griff in das kalte Wasser und holte einen quadratischen roten Backstein heraus. Rieder erinnerte sich, neben der Staffelei eine Lücke in der Kaikante unbewusst wahrgenommen zu haben, als er den Fundort der Leiche inspiziert hatte. Er betrachtete den nassen Stein, drehte ihn zwischen seinen Händen hin und her. Langsam ging er zurück zum Ufer. Seine Kollegen spendeten übertrieben Beifall.

„Echt super Fund!“, rief ihm Holm Behm zu. Doch Rieder ließ sich nicht beirren. Er ging zum Kai und drückte den Stein in den Spalt in der Kaimauer neben der Staffelei. Er passte wie angegossen. „Das könnte die Mordwaffe sein“, erklärte er. Holm Behm kam näher und kniete sich hin. „Kann schon sein. Aber Spuren kannste vergessen. Das Salzwasser hat den Stein saubergewaschen. Höchstens das Spurenbild am Kopf des Opfers kann beweisen, dass er mit dem Stein erschlagen wurde.“ Der Spurensicherer sah das enttäuschte Gesicht Rieders. „Naja, besser als nichts“, tröstete ihn Behm, löste dann den Stein wieder aus der Lücke und legte ihn zu den anderen Fundstücken. Rieder war wieder losgelaufen, aber auf dem Grund des ehemaligen Hafenbeckens fand sich nichts mehr. Er lief nun auf den rechten Schilfstreifen zu. Ein paar Blässhühner flogen schreiend auf. Zwischen den Schilfpflanzen entdeckte Rieder eine Plastikfolie. Sie hatte sich um ein einige Stängel gewickelt. Offenbar war sie vom Wind hierhingeweht worden. Sie wies ein paar bunte Flecken auf. Rieder hob sie vorsichtig an und trug sie wie eine Trophäe zum Ufer. Er zeigte Behm und Damp die Farbspuren. „Das ist schon besser“, meinte Behm anerkennend. Er winkte seinen Assistenten Sascha heran. Gemeinsam rollten sie die Plane in eine spezielle Folie. Aber das Bild dazu blieb verschwunden.

Wenig später saß Rieder beim Neuendorfer Hafenmeister Franz Plewe. Da die Gaststätten in Neuendorf noch nicht geöffnet hatten, war es der einzige Ort, wo sich der Polizist aufwärmen konnte. Plewe hatte Tee gekocht und einen Eimer mit heißem Wasser gefüllt. Rieder ließ seine Füße hineingleiten. Langsam kamen die Lebensgeister zurück. Sein Hemd hing über einem Stuhl, der vor einem bullernden Kanonenofen stand. Plewe warf alle paar Minuten ein Holzscheit hinein. Das Feuer loderte dann richtig auf. „Das ist der Teer“, bemerkte Plewe. „Die alten Reusenstangen sind ja alle noch geteert. Das brennt wie Zunder.“

Rieder wollte besser nicht über den Brandschutz nachdenken. Er war von Malte gewohnt, dass die Hiddenseer mit allem heizten, was irgendwie brannte. Rieder war froh, nicht mehr zu frieren. Plewe hatte dafür gesorgt, dass Behm und sein Assistent Sascha mit einem der flachen Fischerkähne auf den Bodden rausgefahren waren, um weiter nach dem Bild zu suchen. „So viel Wind war ja nun auch nicht. Also wenn da noch was ist, dann ist es auch noch da“, hatte Plewe verkündet. „Das dauert, bis so was bis nach Rügen getrieben ist.“ Damp hatte sich abgeseilt, um seine Farbe nach Hause zu bringen. Danach wollte er seine Kollegen wieder einsammeln, um zu Kempes Haus in der Dünenheide zu fahren. Wie erwartet, wusste er, wo es war.

„Kannten Sie den Kempe?“, fragte Rieder, während er seine Füße trockenrubbelte.

Plewe ließ sich mit der Antwort Zeit, stopfte seine Pfeife und starrte aus dem Fenster auf den Neuendorfer Hafen. „Was heißt schon kennen“, sagte er wie nebenbei. Er steckte seine Pfeife in den Mund und kramte in seiner alten schwarzen Cordjacke nach Streichhölzern. Genüsslich setzte er den Tabak in Brand. Er machte zwei, drei Züge, und sofort erfüllte das einzige Zimmer aromatischer Geruch. „Prestige Vanille, noch gute alte DDR-Ware“, meinte der Hafenmeister als er sah, wie Rieder schnupperte. „Rauche ich seit meinen Lehrlingsjahren auf ‚Vit 46‘, Ende der sechziger Jahre.“

„Gibt’s denn den Tabak noch?“

Plewe nickte. „Hier, im Konsum. Die haben für mich immer einen Vorrat.“

Rieder wollte weniger über Pfeifentabak plaudern, sondern mehr über Hans Kempe erfahren. Aber bei den Hiddenseern war es nicht klug, zu drängen. Man musste Geduld haben. Geduld brachte Vertrauen. Ohne Vertrauen biss man bei den Insulanern auf Granit. Plewe schaute noch immer auf den Hafen und rauchte seine Pfeife. Es schien, als habe er Rieders Frage vergessen. Doch plötzlich nahm er die Pfeife aus dem Mund, formte die Lippen zu einem Kreis und blies den Rauch in kleinen Ringen in die Luft. Sie schwebten durch den Raum wie Seifenblasen, bevor sie sich langsam auflösten. Rieder schenkte Plewe den erwarteten bewundernden Blick. „Also Kempe war schon ein komischer Kauz“, bedankte sich der Hafenmeister für Rieders stillen Beifall und seine Geduld. „Wissen Sie, früher, in den alten Zeiten, da kam der immer mal, wollte mit uns rausfahren, sehen, wie wir arbeiten. Da hat er immer Fotos gemacht.“ Plewe nahm wieder einen Zug, stopfte die Pfeife nach. „Die waren Vorlagen für seine hübschen Bilder. Wie sie so gewünscht waren. Kennen Sie die?“

Rieder schüttelte den Kopf. „Ach bestimmt, aus dem Malunterricht in der Schule. Sie sind doch von hier.“ Rieder nickte. Plewe begann leicht zu lächeln. Die Erinnerung schien ihn zu erheitern. „Die Fischer kämpfen um den Fisch und natürlich für den Sozialismus. Da drüben“, Plewe deutete mit seiner Pfeife auf den Schuppen der Fischereigenossenschaft auf der anderen Seite des Neuendorfer Hafenbeckens, „da mussten wir uns mal alle hinsetzen. Wir mussten so tun, als wenn wir Netze flicken würden, und einer saß davor und las in der Zeitung. ‚Fischer studieren die Beschlüsse der Partei‘, hat er das genannt.“ Plewe lachte auf. „Das hat in Stralsund gehangen, im Kultursaal der Gewerkschaft. Wir waren doch alle im FDGB. Alle anderen Fischer von Rügen und selbst die aus Vitte haben sich schiefgelacht über uns. Die wussten doch alle, dass wir die Zeitung nur zum Einwickeln der Fische nehmen. Nun ist das Bild weg, und Hiddenseer Fischer gibt’s bald auch nicht mehr.“ Plewe widmete sich wieder seiner Pfeife.

„Aber das ist ja schon einige Zeit her“, flocht Rieder vorsichtig ein, um das Gespräch in Gang zu halten.

Plewe nickte stumm. „Nach der Wende hat er umgesattelt. Statt sozialistischem Realismus gab’s nun Hiddenseer Idylle. Du musst mal zum Eckardt rübergehen, vom ‚Haus am Strand‘. Der hat Kempe immer seinen Zaun als Schaufenster geborgt. Gezahlt hat er dafür wahrscheinlich nichts. Der war ja ein knuckriger Zeitgenosse. Und da hing dann der Leuchtturm Gellen mit Strand. Leuchtturm Gellen zwischen den Strandkiefern. Hafen Neuendorf mit Schiffen. Hafen Neuendorf ohne Schiffe. Seglerhafen. Schabernack.“ Plewe schob seine Mütze in den Nacken. „Das war eine richtige Serienproduktion. Aber die Geschäfte liefen nicht so gut. Hier kommen zu wenige Touristen vorbei. Wer hier in Neuendorf wohnt, ist sowieso eine besondere Urlaubersorte. Der hat die Insel im Herzen. Der braucht keine Bilder.“

Rieder hatte den alten Hotelier Eckardt bei seinem ersten Fall auf der Insel kennengelernt. Bei ihm hatte ein Kunsthistoriker Quartier genommen, der am Gellenstrand ermordet worden war. Das war bald ein Jahr her. Seitdem hatte er Eckardt nicht wieder getroffen. „Wie geht es Herrn Eckardt?“, fragte Rieder.

Plewe wiegte den Kopf hin und her. „Man sieht ihn kaum noch. Man wird ja nicht jünger. Seinen kleinen Nebenerwerb habt ihr ihm ja genommen.“ Eckardt hatte seine Zimmer immer noch vermietet. Natürlich schwarz. Durch den toten Kunsthistoriker war die Sache aufgeflogen. Auch wenn Rieder es nicht beweisen konnte, hatte wahrscheinlich Damp dem Finanzamt einen Tipp gegeben.

Die Pfeife war aufgeraucht. Plewe klopfte sie an seinem Stiefel aus und kratzte die Asche aus dem Pfeifenkopf. „In den letzten Jahren hat er das auch nicht mehr gemacht mit der Sommergalerie. Ich frage mich, wovon der Kempe gelebt hat.“

„Haben Sie ihn mal mit dem Herrn Gilde gesehen?“

„Mit Suppen-Gilde? Unserem großen Inselgönner? Der uns jetzt ein Museum schenkt?“

Rieder war kurz irritiert. Von einem Museum hatten weder die Witwe noch der Sohn Gildes erzählt. „Welches Museum?“

Plewe drehte sich zu seinem Tisch. Dort lagen ein paar alte Ausgaben der „Ostsee-Zeitung“. Er sah eine nach der anderen durch. „Muss so vor zwei Wochen gewesen sein. Da stand es drin. Kleine Notiz, aber wenn du hier den ganzen Tag sitzt, liest du den Kram von vorn bis hinten. Ich krieg’ sie umsonst. Die von der Stralsunder Fähre bringen mir immer die Zeitung mit. Jetzt fährt sie endlich wieder. Im Winter ist Ebbe.“

Plewe hielt Rieder eine Zeitung hin und zeigte mit dem Zeigefinger auf eine kleine Nachricht auf der ersten Seite. Nicht mehr als fünf Zeilen. Die Überschrift lautete: „Neues Museum auf Hiddensee?“ Darunter war zu lesen: „Wie die Lokalredaktion aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr, will der Unternehmer Werner Gilde seine Gemäldesammlung mit Werken des Hiddenseer Künstlerinnenbundes nach seinem Tod der Öffentlichkeit zugänglich machen. Als Ausstellungsort sei das ehemalige Strahleninstitut der Universität Greifswald in Kloster geplant. Gespräche über den Ankauf des Gebäudes würden auf informeller Ebene bereits laufen. Eine Bestätigung steht noch aus.“ Dahinter stand in Klammern nur das Kürzel „GK“.

„Kann ich das mitnehmen?“

Plewe nickte. „Warum nicht? Ich brauch’ es nicht mehr. Fisch wird nicht mehr in Zeitungen eingewickelt. Jetzt gibt es Plastiktüten.“

„Nochmal zurück zu Kempe und Gilde.“ Rieder faltete die Zeitung sorgsam zusammen. „Haben Sie die beiden mal miteinander gesehen?“

Plewe schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich mich erinnern kann. Aber Gilde machte mit seinem Kahn auch nicht hier in Neuendorf Station. Zu wenig Publikum. Der brauchte die große Bühne beim Einlaufen. Und die hat man nur in Kloster.“

„Haben Sie Kempe vielleicht gestern gesehen?“

„Auf die Frage habe ich schon die ganze Zeit gewartet. Aber ich steh’ nun auch nicht den ganzen Tag vor der Tür und starre, wer kommt und wer geht. Von hier fährt eh keiner mit dem Rad zum Schwarzen Peter. Da ist der Deich zu schlecht. Die kommen alle durchs Dorf und dann bei …“, Plewe zögerte kurz. „Die fahren dann alle da beim ‚Strandcafé‘ rum, dort, wo Charlotte gewohnt hat.“ Offenbar wusste Plewe wie jeder auf der Insel von Rieders gescheiterter Beziehung zur Wirtin des „Strandcafés“.

Ole Damp trat durch die Tür. „Na, wieder warm?“

Rieder stutzte über das plötzliche Mitgefühl. „So langsam. Schon was von Behm gehört?“

„Sind auf dem Rückweg. Haben nichts gefunden. Sie sind mehrfach über den Bodden gekreuzt vom Schwarzen Peter bis zum Hafen Neuendorf. Waren fast bis zur Öhe drüben bei Schaprode.“

„Dann gibt es auch nichts zu finden“, warf Plewe ein.

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