Kitabı oku: «Mara und der Feuerbringer», sayfa 4

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Kapitel 6


So, dann sind wir ja komplett, wunderbar.«

Schon auf dem Parkplatz hatte Mara bemerkt, wie gut dieser Mann mit seiner Stimme umzugehen wusste. Es war weniger der Klang, sondern vielmehr das, was er sagte und wie er es sagte. Dieser Mann würde einem an der Tür eine bemalte Pappscheibe als Plasmafernseher verkaufen.

Im Moment allerdings verkaufte er erst mal nichts außer sich selbst. Und das tat er ebenso perfekt.

»Liebe Seminarteilnehmerinnen und lieber Herr Teilnehmer«, sprach Thurisaz gerade und salutierte salopp zu Professor Weissinger hinüber. »Die nächsten Tage werden für Sie alle sehr ungewöhnlich. Aber mir scheint, genau deswegen sind Sie alle ja hier, nicht wahr?«

Er grinste in die Runde und Mara musste sich zusammenreißen, um nicht blöd zurückzugrinsen. Sie schaffte es gerade so.

»Nun, wie Sie meiner ausnehmend unansehnlichen Broschüre schon entnehmen konnten, geht es hier um sogenannte Rückführungen. Bitte verzeihen Sie, dass das Infoblatt so stümperhaft zusammengeschustert aussieht, aber das liegt daran, dass es stümperhaft zusammengeschustert ist. Und zwar von mir selbst.« Wieder lachte er und man musste einfach mitlachen. Mara konnte sich immerhin beim zweiten »ha« stoppen, als sie in das ausdruckslose Gesicht von Professor Weissinger sah. Er hatte sich verdammt gut im Griff und zeigte kaum eine Regung. Wow.

Dr. Thurisaz holte einen Stapel kleiner Kärtchen hervor und legte ein paar auf jeden der drei Tische. »Den Satz auf diesen Kärtchen kennen Sie vielleicht auch schon von meinem Infoblatt.«

Mara wusste genau, welchen Vers er meinte, und als sie die Worte schwarz auf weiß auf dem Kärtchen stehen sah, durchzuckte sie ein brennender Schmerz.

Nur eine Erinnerung an ihren Kampf mit dem Feuerbringer oder real?

Sie sah hinüber zu Professor Weissinger, der dummerweise am Nebentisch saß. Auch ihm war die Anspannung deutlich anzumerken. Würden sie nun endlich eine Antwort bekommen, warum diese Verse dem Feuerwesen namens Loge eine solch unglaubliche Macht verliehen?

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte Thurisaz. »Dieser Vers ist nicht von mir.«

»Ach was«, brummelte der Professor leise, aber hörbar unter seinem Bart hervor.

Thurisaz drehte sich zu ihm und lächelte. »Ah, ein Wagnerianer, vermute ich?«

»Nicht direkt, aber dafür reicht es«, antwortete Professor Weissinger knapp.

Thurisaz lachte. »Ich geb’s ja zu, alles nur geklaut! Wenn Sie aber jetzt die Polizei verständigen, ist das Seminar zu Ende.«

Wieder lachten die Wiccas huhnig und der Professor enthielt sich einer Antwort. Sicher nicht, weil ihm keine einfiel – ganz im Gegenteil.

»Ich bekenne mich also schuldig, verehrte Damen. Dieser Vers ist aus dem Libretto von Wagners Ring-Zyklus. Richard Wagner war nun mal der bessere Dichter von uns beiden. Und im Gegensatz zum Meister kann ich auch keine Opern komponieren, sondern nur welche quatschen.«

Netter Gag, dachte Mara, aber uns wickelst du nicht so schnell ein.

Da bemerkte sie, dass sie immer noch lachte, und klappte schnell den Mund wieder zu.

»Dieser Vers hat eigentlich nur einen einzigen Sinn: Er soll für Sie in den nächsten Tagen und vielleicht auch für längere Zeit als eine Art Mantra dienen. Nur wenn wir alle im Einklang miteinander sind, werden wir stark genug sein, um hinüberzuwechseln in die … Zwischenwelt

Irgendetwas an dem Wort gefiel Mara ganz und gar nicht. Anscheinend gefiel es auch Thurisaz nicht besonders. »Ja, ich weiß – das klingt ein bisschen nach Fantasykitsch von der Resterampe. Wenn Ihnen das besser gefällt, können wir es auch gerne Transit Lounge nennen. Das passt sowieso besser und ich kann es Ihnen mithilfe eines Flughafens wunderbar erklären: In der Transit Lounge warten verschiedene Flugzeuge, die jeweils einen bestimmten Abschnitt Ihres Seelenlebens anfliegen. Leider können Sie aber keine Tickets kaufen, sondern müssen in den Flieger einsteigen, dessen Gate gerade geöffnet wird, wenn Sie verstehen. Versteht das jemand nicht?«

Keiner meldete sich. Außer Professor Weissinger. Thurisaz nickte ihm höflich zu und der Professor räusperte sich erst einmal, bevor er sprach: »Verstehe ich Sie richtig? Wir sprechen diesen – nebenbei nicht ganz originalgetreuen – Wagnervers und gelangen so in eine Zwischenwelt. Dort erhalten wir Zugang zu unseren früheren Leben und können in eines dieser Leben zurückreisen.«

»Ganz genau.«

»So einfach geht das?«

»So einfach, ja.«

Der Professor war sichtlich baff. »Nun … da bin ich jetzt aber mal gespannt«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Mit Recht, mit Recht«, lachte Thurisaz und genehmigte sich einen Schluck stilles Wasser aus einer PET-Flasche. Dann sah er auf seine Armbanduhr und klatschte tatkräftig in die Hände. »So, wollen wir?«

Da meldete sich Walburga zu Wort. »Aber, aber … wollen wir uns denn nicht erst einmal reinigen?«

»Wenn Sie sich vorher noch einmal die Hände waschen wollen, nur zu«, antwortete Thurisaz mit freundlichem Spott und alle lachten. Außer Walburga. Und außer Professor Weissinger, natürlich.

»Aber nein, das meinte ich nicht. Ich spreche natürlich von energetischer Reinigung. Wobei es mir hier nicht um mich selbst geht, ich trage ja immer meinen Chalzedon bei mir.«

Walburga zog an einem Lederband, das sie um den Hals trug, und ein kleiner blauer Stein ploppte aus ihrem Dekolleté. »Damit kann ich negative Verwirbelungen meiner Aura ableiten«, fügte sie in Richtung des Professors hinzu.

Der rang sich ein Lächeln ab und nickte etwas zu langsam.

»Aber selbstverständlich dürfen Sie alle Vorbereitungen treffen, die Sie selbst für nötig erachten, meine Damen und der bärtige Herr«, antwortete Thurisaz, ohne mit der Wimper zu zucken. »Bitte nehmen Sie sich doch ein paar Minuten Zeit dafür, denn dann habe ich auch die Gelegenheit, vorher noch etwas … ähm … abzuleiten. Bis gleich!« Unter dem gackernden Gelächter der Wiccas drehte er sich herum und ging hinaus.

Das, was nun folgte, kannte Mara schon von anderen Treffen mit Mamas Wicca-Gruppe und darum behielt sie Professor Weissinger im Auge.

Schade, dass ich mein Handy im Zimmer hab, dachte sie. Das wäre jetzt gleich sicher ein Foto wert.

Ein paar Minuten später hätte Mara vermutlich ihre gesamte Speicherkarte vollgeknipst. Der Anblick von Professor Weissinger inmitten einer Schar von Frauen, die alle ihr ganz eigenes Auren-Hygiene-Programm absolvierten, war schlichtweg unbezahlbar.

Alle Wiccas waren sofort aufgesprungen, hatten sich in der überschaubaren Gaststube ein Plätzchen mit genug Ellbogenfreiheit gesucht und dann ging es auch schon los: Die einen prusteten mehr oder weniger rhythmisch und vollführten dabei mit ihren Armen Bewegungen, die entfernt an Kugelstoßen erinnerten. Andere drehten sich langsam im Kreis wie ein Tanzbär und hoben langsam ihre Arme.

Professor Weissinger hob nur die Augenbrauen, als Maras Mutter die Hände über den Kopf hob und dabei einen so hochfrequenten Singsang von sich gab, dass der Professor Angst um seine Brillengläser haben musste.

Da sehen Sie es, dachte Mara grimmig. Mama ist nichts für Sie. Daran hat sich Papa schon vor Jahren die Zähne ausgebissen.

Sie erinnerte sich noch gut, wie er eines Tages mit diesem großen Kopfhörer nach Hause gekommen war. Als Mama mal wieder mit ihrer täglichen Seelenhygiene begann, legte er demonstrativ eine seiner alten Schallplatten auf und hörte sie in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Mara kannte alle Platten von Pink Floyd so gut wie auswendig. Allerdings nur in diesem quäkenden Sound, den man vernahm, wenn jemand neben einem den Kopfhörer auf Tausend gedreht hatte. Irgendwie passte Mamas irres Gesinge auch ganz gut zu dem einen oder anderen Song der Psychedelic Band.

Als Dr. Thurisaz ein paar Minuten später zurückkam, hatten sich die Wiccas wieder einigermaßen beruhigt. Er wirkte zwar nicht direkt, als wäre er in Eile, aber sein Auftreten hatte für Mara doch etwas Drängelndes.

»So, dann nehme ich mal an, alle Auren sind gereinigt und müssen auch nicht mehr zum Trocknen rausgehängt werden? Sehr schön. Bitte nehmen Sie nun die Zettelchen mit dem Vers zur Hand und legen dann die Arme verschränkt auf den Tisch.«

Alle folgten der Anweisung, auch Mara und der Professor.

»Fein, und jetzt betten Sie bitte Ihre Häupter bequem auf die Arme. Wir wollen doch nicht, dass Sie nachher mit einer Beule aufwachen oder der eine oder andere Dickschädel vielleicht gar die hübschen Echtholztische beschädigt.«

Das ging eindeutig an den Professor, obwohl Thurisaz noch nicht einmal ansatzweise in dessen Richtung geblickt hatte. So langsam ging Mara das dauernde Gescherze doch ein wenig auf die Nerven.

Der macht hier Witze und ich hab die Götterdämmerung am Hals, dachte sie. Jetzt zeig endlich, was du draufhast.

»So, wenn jetzt alle, die Ihren Kopf nicht in Blickrichtung des Zettelchens gebettet haben, diesen kleinen Missstand noch korrigieren wollen.«

Ein paar der Wiccas kicherten peinlich berührt, unter anderem Walburga, und wendeten sich den Zetteln zu.

»Sehr gut, ich bin stolz auf Sie. Also, bitte sprechen Sie nun mit mir, und zwar so synchron wie möglich«, sagte Thurisaz und wurde dabei immer leiser.

Mara war immer noch mulmig, als sie auf den Zettel mit dem unheimlichen Vers blickte. Sie bemerkte, dass Thurisaz wieder auf seine Uhr sah und ein paar Sekunden wartete. Schließlich begann er zu sprechen und sah auffordernd in die Runde. Die Wiccas stimmten eine nach der anderen mit ein:

Hohen Mut verleiht deine Macht;

grimmig und groß wächst in dir die Kraft!

Zur leckenden Lohe dich wieder zu wandeln,

spürst du die lockende Lust …

Mara sah zum Professor und ihm war anzumerken, dass es ihm auch nicht viel besser ging.

Hohen Mut verleiht deine Macht;

grimmig und groß wächst in dir die Kraft!

Sie glaubte zu erkennen, dass er nur die Lippen bewegte und gar nicht wirklich mitsprach.

Zur leckenden Lohe dich wieder zu wandeln,

spürst du die lockende Lust …

Sie beschloss, auch nur so zu tun, als ob sie den V…

Alles war weiß.

Erstaunt sah Mara sich um. Aber egal, wohin sie blickte, die Gaststube war verschwunden, als hätte jemand einen magischen Lichtschalter bedient. Stattdessen starrte sie in milchiges Nichts.

Nebel?

Sie hob ihre Hand und sah sie klar und deutlich vor sich.

Kein Nebel.

Sie wollte ein paar Schritte gehen und stellte fest, dass es nichts gab, worauf man laufen konnte. Trotzdem bewegte sie sich … vielleicht. Oder auch nicht. Wie konnte man das schon so genau sagen, wenn man sich an nichts vorbeibewegte und auch keinen Lufthauch spürte? Ohne Bezug zu irgendwas gab es auch keine Bewegung. Oder doch?

Mara wurde schwindelig, als sie versuchte, den Gedanken zu Ende zu denken. Also blieb sie stehen oder auch nicht und sah sich noch einmal um.

Nichts.


Von wegen »Flughafen«, schimpfte sie in sich hinein, hier ist überhaupt nix, wo man einsteigen könnte. Hier ist sogar so wenig irgendwas, dass es schon wieder viel ist. Viel nix nämlich!

Mara wartete einen Moment, aber nichts änderte sich. Schließlich beschloss sie, wieder aufzuwachen. Inzwischen hatte sie ja Übung im Visionen abschalten und wusste, dass sie sich einfach nur auf das Ziel konzentrieren musste – in diesem Fall: die Eckbank im Stüberl des Forsthauses.

Mara fokussierte ihre Gedanken und schon passierte … nichts.

Verdammt, was ist denn los? Warum geht das denn jetzt nicht wie sonst?

Mara runzelte die Stirn. Doch da durchzuckte sie ein Gedanke, der ihr so gar nicht gefiel: War vielleicht etwas schiefgegangen? War sie etwa irgendwo anders gelandet?

Urplötzlich schnürte es Mara die Kehle zu und sie spürte Panik in sich aufsteigen!

Hatte Thurisaz vielleicht sogar erkannt, dass sie nur da war, um ihn auszuspionieren, und hatte sie darum hier geparkt? Verdammt, warum war sie nur so naiv gewesen!

Da bemerkte sie, wie sich etwas vor ihr im Nichts abzeichnete und langsam an Kontur gewann. Mara erkannte die Umrisse sofort wieder, denn wer sonst hatte die Form einer Socke voller Götterspeise?

Klar und deutlich schälte sich die blaugrau schillernde Geistergestalt von Walburga aus dem nebellosen Nebel.

Und schon folgten ihr auch die anderen Wiccas. Mara erkannte Mama etwas weiter weg und zu ihrem Erstaunen auch Professor Weissinger – und zwar direkt daneben.

Hey, der saß doch vorhin gar nicht direkt neben Mama, wie hat er denn das jetzt angestellt?

Doch Mara bremste sich sofort wieder, denn sie hatte jetzt wirklich wichtigere Themen als das.

Stattdessen zwang sie sich dazu, die sie umgebenden Geistergestalten genauer zu mustern, und stellte fest, dass die im Gegensatz zu ihr alle die Augen geschlossen hatten. Alle schliefen tief und fest – außer Mara.

MAMA, rief Mara und bemerkte erschrocken, dass sie keinen Ton von sich gegeben hatte!

Sie rannte zu ihrer Mutter und bewegte sich doch keinen Zentimeter vom Fleck!

MAMA, schrie Mara noch einmal und konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, irgendwie zu ihr zu gelangen. Sie ruderte mit den Armen, strampelte mit den Füßen und brüllte tonlos wie verrückt in das Nichts hinein. Aber Mama blieb unerreichbar und reagierte nicht. Mara fühlte sich mit einem Schlag völlig hilflos. Gleichzeitig stieg eine maßlose Wut auf Thurisaz in ihr auf, wie sie es noch nie zuvor in ihrem Leben empfunden hatte.

»Du Saukerl, wenn du Mama was antust, reiß ich dir für immer das Lachen aus dem Gesicht!«, kreischte Mara wie von Sinnen und spürte nur die Schmerzen in ihrem Hals.

Doch was war das? Bei Mama tat sich wieder etwas.

Mara kniff die Augen zusammen und wischte sich hastig den Tränenschleier weg. Ja, Mama sah ganz eindeutig nicht mehr erschrocken aus, sondern … verzückt! Mama lächelte.

Erschöpft vom Wechselbad der Gefühle, sah Mara zu, wie eine Wicca nach der anderen ebenfalls zusammenzuckte und im ersten Moment aussah, als würden sie in den Schlund der Hölle blicken … doch dann entspannte sich ihr Gesichtsausdruck und zurück blieb ein seliges Lächeln. Wie es schien, sahen sie alle etwas völlig anderes als Mara. Und es sah ganz so aus, als hätte Thurisaz zumindest teilweise die Wahrheit gesagt: Alle Teilnehmer außer Mara waren eingeschlafen und stiegen nun in irgendwelche Welten, Zeiten, Träume oder Wasauchimmers ein, die ihnen offensichtlich sehr real vorkamen.

Mara blickte zum Professor und konnte dort das Gleiche beobachten: Er fuhr als Letzter erschrocken herum, hob sogar seine Fäuste, als würde er angegriffen, entspannte sich aber im nächsten Moment, ließ die Hände sinken und sah sich dann um, als würde er irgendein Alpenpanorama bestaunen.

Auch alle anderen Wiccas verhielten sich so, als wären sie in einer anderen Welt, wo man sah, hörte, roch und schmeckte. Nur Mara blieb im Nirgendwo.

Also gut, anscheinend verlief bei den anderen wohl alles nach Plan – nur eben bei ihr nicht. Typisch. Was sahen die anderen alle, was Mara nicht sah? Und warum sahen alle etwas und nur sie selbst nicht? Wer war denn hier eigentlich die Seherin, verdammt!

Sie wollte gerade versuchen, sich hinzusetzen und einfach zu warten, bis sie alle wieder aufwachten, als schon wieder etwas Unvorhergesehenes passierte: Alle, außer Mara, begannen, langsam nach oben wegzuschweben.

Nein, Moment, ganz im Gegenteil – Mara sank! Etwas zog sie nach unten … und sie wurde immer schneller!

»Stopp! Lass mich los!«, brüllte Mara, strampelte mit den Füßen, als würde sie jemanden abschütteln, und ruderte mit den Armen, um sich irgendwo festzuhalten. Aber nichts war zu treten, nichts zu greifen. Mara sank weiter und konnte nur hilflos zusehen, wie sich Mama, der Professor und die Wiccas in rasender Geschwindigkeit von ihr entfernten. Schon sah sie nicht viel mehr von ihnen als kleine Punkte im nebligen Weiß und dann auch schon nichts mehr außer ihren eigenen, nach oben gereckten Händen.

Ein Aufschlag nahm Mara die Luft zum Atmen und das Hirn zum Denken.

Kapitel 7


Mara atmete scharf ein und musste sofort husten. Mund und Hals fühlten sich an wie nach einem Glas Mehl. Sie tastete mit den Händen über den Boden und spürte feinen Staub. Weiter hustend öffnete Mara die Augen, rappelte sich auf und stellte fest, dass sie aussah, als hätte man sie durch einen Kamin gezogen.

Mara stand in einer Wüste aus feinster Asche und vor ihr war nichts zu sehen außer einer grauschwarzen Düne nach der anderen. Nur da, wo sie gelegen hatte, zeichnete sich ihre Form ab wie ein Schnee-Engel.

Maras Atem beschleunigte sich, als das beklemmende Gefühl der Angst wieder nach ihrem Hals griff …

Nein, ganz ruhig jetzt, dachte Mara, nicht wieder durchdrehen. Das hat vorhin nicht geholfen und wird jetzt auch nichts bringen! Reiß dich zusammen, du Seherin!

Sie zwang sich, die Augen noch einmal zu schließen, und atmete dann so langsam, wie sie konnte, durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Immer wieder.

Ruhig bleiben … ganz ruhig …

Mara spürte, wie sich ihr Herz beruhigte und der Körper entkrampfte. Schließlich atmete sie auch wieder halbwegs normal und hörte auf, die Luft geräuschvoll durch die Nase zu ziehen.

Okay, also dann. Versuchen wir es noch mal, dachte sie und konzentrierte sich auf die Stube im Forsthaus. Wieder geschah nichts.

Verdammt.

Mara öffnete die Augen und erschrak so sehr, dass sie laut aufschrie, ihre Beine einknickten wie Pudding und sie hart zu Boden fiel.

Über ihr thronte auf einem fürchterlich dürren, aschfahlen Körper, der nur zum Teil von einer schwarzen Tunika bedeckt war, der Kopf eines Geschöpfes, wie es Mara noch nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen begegnet war!

Die Gestalt hatte kein Gesicht, keine Augen, keine Nase, keine Ohren und war völlig kahl. Nur an der Stelle, wo beim Menschen der Mund war, öffnete sich nun ein breiter Schlitz mit rasiermesserscharfen Zähnen. Dahinter lauerte eine blutrote Zunge wie eine Gefangene, bereit zum Ausbruch.

Panisch zitternd robbte Mara wie ein Krebs rückwärts über den Ascheboden, aber die Gestalt folgte ihr mühelos, ohne dabei den Boden zu berühren. Dann sprach sie und Maras Blut gefror …

Hör die Rede, Kind Heimdalls, befolge den Rat!

Gut ist dran getan, gehst du hier nicht fehl.

Im Totenreich bist du, der Taten genug,

keine Schlachten sind nun mehr zu schlagen.

Mara vernahm die zischelnde, heisere Stimme sowohl über die Ohren als auch direkt im Kopf. Sie kannte diesen Effekt, denn alle übernatürlichen oder götterartigen Wesen konnten auf diese Weise zu ihr sprechen.

Da das Geschöpf zu ihr sprach und nicht kreischend über sie herfiel, beruhigte Mara sich zumindest so weit, dass sie wieder ein paar klare Gedanken fassen konnte. Man hatte sie in den letzten Tagen schon mit so vielen seltsamen Bezeichnungen angesprochen, dass sie sich über das »Kind Heimdalls« schon gar nicht mehr wunderte. Außerdem gab es da noch ein paar deutlich beunruhigendere Details: Sie war also in einem Totenreich und das Monster dachte anscheinend, Mara wäre tot.

Mara fühlte sich aber nach wie vor sehr lebendig, nahm darum all ihren Mut zusammen, räusperte sich und sprach: »Also … ich glaube, da muss irgendwas schiefgelaufen sein, denn ich bin gar nicht tot und …«

Doch schon wurde sie rüde unterbrochen, als hätte ihr die Gestalt gar nicht zugehört.

Hör die Rede, Kind Heimdalls, befolge den Rat!

Gut ist dran getan, gehst du hier nicht fehl.

Befolge die Weisung, wisse, von wem sie gesprochen,

die Hel bin ich und Herrin der Toten.

Hel, Hel … wo hab ich das schon mal gehört? Maras Gedanken rasten. Denk nach, Mara, denk, denk …

Und da fiel es ihr siedendheiß ein. »Hel, natürlich, die Herrscherin des Totenreichs! Du bist Lokis Tochter!« Mara schluckte, als sie bemerkte, dass sie gerade die Herrscherin der nordisch-germanischen Hölle geduzt hatte. »Ähm, ich meine natürlich Sie sind … Ihr seid? … Entschuldigung? … Also, ich bin gar nicht tot, sondern nur zufällig hier gelandet, irgendwie. Ach ja, und ich kenne Euren Vater und er kennt mich! Ich hab ihm sogar geholfen, als …«

Mara erschrak, als die Hel nun ohne Versmaß zu ihr sprach und es klang, als würde sie innerlich glühen vor Wut. »Du wagst, Menschlein, Worte der Lüge? Zerreißen will ich dich, zu strafen die zischelnde Zunge!« Dazu streckte sie ihre knochigen Krallen nach Mara aus und bleckte fauchend die nadelspitzen Zähne.


Mara wusste, dass es überhaupt keinen Sinn machen würde, wegzulaufen. »Verehrte Hel, bitte glauben Sie mir! Ich bin nicht tot!«, rief Mara. »Und ich kenne wirklich Euren Vater! Ich war bei Loki in der Höhle! Es geht ihm gut!« Sie hielt inne. So konnte man das ja auch wieder nicht sagen. »Okay, natürlich ist er immer noch gefesselt, aber sonst geht es ihm … na ja, da ist natürlich immer noch die Schlange, die auf ihn runtersabbert, aber von der jetzt mal abgesehen, geht es ihm … ich meine, es tut natürlich immer noch schlimm weh, wenn sich der Speichel durch ihn durchfrisst, und dann schreit er auch immer furchtbar doll … aber … ansonsten geht es ihm echt gut … den Umständen entsprechend. Er hat sogar einen Arm befreit und ich hab ihm auch Sigyn zurückgebracht, damit sie wieder die Schale … halten … kann … Hallo?«

Schneller als ein Gedanke packte die Hel Mara am Kragen und zog sie so nah an sich heran, dass Mara den fauligen Atem spürte. »Strafen will ich die Lügen, die dreisten – und laben will ich mich an jungfrischem Blut! Noch toter als tot bist du, wenn die Todesgöttin dich verzehrt!«

»Nein! Bitte nicht! Hilfe!«, schrie Mara. Panisch trat sie nun um sich, versuchte, den Griff der Hel zu lockern, und schlug wie von Sinnen auf die Todesgöttin ein.

Doch die schien das gar nicht zu bemerken und riss stattdessen ihr Maul weit auf. Mara starrte in einen tiefschwarzen Schlund, der nichts anderes bedeutete als das sichere, absolute, endgültige Ende. Ein Ende weit, weit schlimmer als der Tod …

Gleißendes Licht blendete sie beide. Mara riss schützend die Arme vors Gesicht, hörte noch, wie die Hel wütend fauchte, und wurde auch schon davongeschleudert wie ein lästiges Bündel. Ungelenk landete Mara ein paar Meter weiter im Staub und ihr Gesicht grub sich durch die Asche wie ein Schneepflug. Wer auch immer gerade das Licht angemacht hatte – dieser jemand hatte sie gerettet. Zumindest für den Moment.

Hustend und spuckend hob Mara den Kopf und wischte sich hektisch die Augen. Zwischen ihr und der Todesgöttin stand ein Mann und leuchtete wie eine Sonne. Außerdem hatte er die Arme ausgebreitet und hielt die Hel damit auf Abstand. Dann sprach er in einem ähnlichen Vers wie vorhin die Todesgöttin.

Ich fordere, Hel, hör an meine Frage!

Musst Antwort mir geben, denn Gott bin ich noch.

Ist so groß deine Angst, vor diesem Mädchen,

du das Leben ihr nimmst und dazu noch den Tod?

Einen Moment lang sah es so aus, als würde sich die Hel einen feuchten Dreck darum scheren, was der Lichtmann sagte. Aber dann ließ sie die Krallen sinken.

Mara atmete auf. Doch der bösartige Sarkasmus der Hel verhieß nichts Gutes. »Wie könnt ich dem Balder widerstehen, dessen Untergang die ganze Welt beweinte? Oder soll ich sagen, fast die ganze Welt?«

Mara schluckte. Der Sonnenmann war also tatsächlich Balder? Der Gott? Professor Weissinger hatte ihr erzählt, dass Loki schuld war an dessen Tod und sogar dafür gesorgt hatte, dass Balder nicht wieder aus dem Totenreich zurückkehren konnte! Da war er aber bestimmt mächtig sauer auf Loki und vielleicht war es gar keine so gute Idee, ihm von ihrem Treffen mit dem Halbgott zu erzählen …

Aber wie es schien, hatte Balder etwas mit Loki gemeinsam. Er hatte hier unten im Totenreich die Jahrhunderte überdauert, ganz genauso wie sein Widersacher Loki in der Höhle am Rande der Zeit! War Balder vielleicht sogar Maras geheimnisvoller Auftraggeber und schützte sie deswegen vor der Hel?

Mara schob ihre Gedanken beiseite. Sie musste sich konzentrieren und weiter zuhören. Denn schließlich diskutierte man gerade ihr Überleben.

»Ja, es stimmt, einer der Asen bist du und immer noch mächtig«, sprach die Todesgöttin gerade. »Und doch bewegt deine Macht jenseits dieser Aschehügel nicht mehr als ein letztes Lüftchen aus dem Arsch eines sterbenden Greises.«

Mara musste unwillkürlich an die Jungs in ihrer Klasse denken, die immer sofort loskicherten, wenn irgendwas auch nur entfernt nach »Pipikacka« klang. Allerdings bezweifelte sie sehr, dass sie auch hier gelacht hätten.

»Ich weiß, dass ich hier nicht viel vermag, verehrte Hel, und dankbar bin ich für deine Gastfreundschaft«, erwiderte Balder und lächelte.

Mara wusste nicht, ob er das ernst meinte. Zumindest hatte er nicht ironisch geklungen.

Da wendete sich der leuchtende Gott an Mara und fragte mit seiner samtweichen Stimme: »Also, sprich selbst, Kind. Wer bist du und wie kamst du hierher?«

Mara war ein wenig davon überrumpelt, dass nun nicht mehr über sie, sondern mit ihr gesprochen wurde, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »Mein Name ist Mara Lorbeer und ich bin eine Spákona. Lok… lockerer nennt man mich auch gerne Litilvölva.«

Sie hatte sich gerade entschieden, dass es vielleicht doch eine saudumme Idee war, in Balders Gegenwart von Loki zu sprechen. Der Gott hatte wohl nichts bemerkt, verzog keine Miene und wartete darauf, dass sie weitersprach.

»Ähm, ich weiß nicht genau, wie ich hierherkam. Auf jeden Fall war ich gerade eben noch in einem milchig weißen Nichts irgendwo da oben. Ich wollte weg, aber es klappte nicht. Dann hat mich irgendwas plötzlich hinuntergezogen und darum bin ich da drüben gelandet, wo man noch meinen Abdruck sieht.« Mara hatte absichtlich verschwiegen, dass irgendwo da oben noch andere im Nebeldings hingen. Man konnte ja nie wissen.

Balder nickte Mara überraschend freundlich zu und drehte sich dann lächelnd um zur Hel. »Siehst du, meine teure Aschekönigin? Das ist des Rätsels Lösung. Sie ist eine kleine Völva und darum konnte sie sehen in den weißen Nebeln. Zudem kennt sie noch ihren Namen, hat also auch ihr Leben nicht zurückgelassen in den Hvitmyrkr.«

Dieses seltsame Wort klang für Mara wie ein Schreibfehler, aber sie konnte sich zusammenreimen, dass damit wohl das seltsame weiße Nichts gemeint war.

Die Todesgöttin hatte nicht geantwortet. Ihr ausdrucksstarkes Schweigen gefiel Mara allerdings noch weniger.

Dafür trat Balder jetzt ganz nah an die Hel heran. »Du kennst die Regeln, Herrin der Asche. Jeder Sterbliche ist dein, den der Strohtod ereilt. Und jeder auf dem Feld Gefallene ist ebenfalls dein, wenn die valkyrjar ihn nicht wählen für Odins Heer. Was jedoch nicht dein ist, sind die Lebenden.«

Gespannt wartete Mara, was die Todesgöttin sagen würde. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass die Hel so plötzlich neben ihr stand, als wäre sie die ganze Zeit nirgendwo anders gewesen. Bevor Mara irgendetwas tun konnte, hatte die Todesgöttin schon ihren Arm gepackt und die Handfläche grob nach oben gedreht. Fast gleichzeitig spürte Mara einen brennenden Schmerz und starrte schockiert auf eine tiefe, ringförmige Wunde an ihrem Unterarm. Blut quoll daraus hervor und sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Diesen Triumph wollte sie der Hel auf keinen Fall gönnen.

»Das Mal Draupnirs«, hörte sie den Lichtgott sagen.

Auch er stand nun neben ihr und blickte auf die Wunde. Ohne ein weiteres Wort ergriff auch er Maras Arm, aber er tat es so sanft, dass sie gar nicht auf die Idee kam, sich zu wehren.

Balder umschloss die blutende Stelle mit beiden Händen und schloss seine Augen. Auch Mara musste die Augen schließen, als seine Hände in einem solch hellen Licht erstrahlten, dass sie es sogar durch die geschlossenen Lider hindurch sehen konnte.

Als das Licht wieder schwächer wurde, ließ Balder Maras Arm los. Die Wunde war geschlossen und vernarbt. Auch der Schmerz war verschwunden und die Stelle sah nun so aus, als hätte sich Mara vor Jahren einmal bei irgendeinem Unfall verletzt. Der einzige Unterschied war, dass die Narbe nicht rötlich war, sondern tiefschwarz.

»Danke«, flüsterte Mara und der Lichtgott strich ihr beruhigend über die Schulter, bevor er sich wieder der Hel zuwendete. »Das Mal Draupnirs ist nicht leichtfertig zu vergeben. Was bezweckst du damit, Schlangenschwester?«

Anstelle einer Antwort streckte die Hel nur ihre Hand aus. Eine Aschewolke schwebte vom Boden hinauf und sammelte sich auf ihrer Handfläche. Sie schloss die krallenartigen Finger und presste sie kurz zusammen. Mara glaubte, ein leises Knirschen zu hören. Und obwohl es nicht so aussah, als müsse die Hel sich sonderlich anstrengen, wusste sie doch, was für eine unfassbare Kraft hier gerade am Werk war. Als die Todesgöttin die Hand wieder öffnete, war die Asche verschwunden. Stattdessen lag dort ein schwarz glänzender Edelstein.

Mit einem Gesichtsausdruck, der vielleicht ein Grinsen sein sollte, hielt die Hel Mara den Edelstein entgegen. »Überbringe das dem Loki, meinem Vater, wenn du vermagst.«

Bei der Erwähnung von Loki schielte Mara vorsichtig zu Balder hinüber, doch der blieb regungslos.

Vorsichtig nahm sie den schwarzen Stein aus der Hand der Hel. Er war so groß, dass sie ihn gerade so mit ihrer Hand umschließen konnte, aber klein genug, um ihn in die Hosentasche zu stopfen. Genau das tat Mara nun auch und zwar genauso beiläufig, als würde sie ein Päckchen Kaugummi einstecken. Die sollte jetzt bloß nicht denken, dass sie beeindruckt war von diesem Kunststückchen.

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22 aralık 2023
Hacim:
342 s. 37 illüstrasyon
ISBN:
9783964260420
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