Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 8

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Als Mensch fühlt er sich gut mit seinem Begleiter. Tobias lässt sofort erkennen, dass er große Sympathien für die Syriza-Regierung hegt, die seit knapp vier Monaten das Land beherrscht. M verachtet diese neuen Regierungsvertreter, den Ministerpräsidenten, noch mehr den Finanzminister. „Sie verspielen die Zukunft dieses Landes“, macht er gegenüber Tobias gleich auf den ersten Kilometern ihrer Reise seine Position deutlich.

Tobias bleibt höflich und in seinen Worten vorsichtig. Er weiß, er ist in erster Linie Dienstleister. Er will, dass M zufrieden mit ihm ist und ist sicher, dass er als Begleiter große kulturelle Potenziale hat, die den Gästen stets imponieren. „Ich bin hier in Athen zu Hause wie ich in Berlin zu Hause bin. Ich versuche zu verstehen, was hier geschieht, und ich versuche zu verstehen, was die deutsche Regierung und Europa antreiben, ihre Politik gegenüber diesem Land so gnadenlos voranzutreiben.“

M hört sich das gewissenhaft an. Er beschließt, Tobias als Sparringspartner für seine ernsthaften politischen Gespräche zu nutzen. „Du musst verstehen lernen, dass wir gar nicht anders können, als dieser Regierung einen Riegel vorzuschieben. Sie nehmen, liefern aber nicht. Sie brauchen immer mehr und verachten uns. Sie haben keine Manieren und keinen Stil in der Politik.“ M versucht bewusst, in seinen Ton Schärfe zu legen. Er testet die Reaktionen.

„Schon wieder Geld für Griechenland. Wer kann das noch hören? Wer so die europäische Politik verkauft, wird der Lage hier nicht gerecht.“ Tobias bleibt sehr ruhig beim Sprechen. Aber auch er möchte klarmachen, dass er keiner politischen Diskussion aus dem Weg gehen wird. „Wir sehen die Entwicklungen halt verschieden. Das muss uns aber die gemeinsamen Tage nicht versauern“, fügt er hinzu. M lächelt und bestätigt: „Nichts lieber als das: Wir streiten und wir mögen uns.“ Schnell erreichen sie den Ortsteil Glyka Nera. Hier verlassen sie die Autobahn und fahren durch nun höher werdende Straßenschluchten in Richtung Innenstadt. Der Verkehr ist weiterhin fließend, nur wenige Autos sind auf den Straßen.

„Das soziale Problem ist einfach zu erklären“, meint Tobias. „Von den Krediten, die ihr vergebt, sehen die griechischen Normalbürger keinen Cent. Die kämpfen vielmehr mit enormen Einschränkungen und sind die Leidtragenden von Missständen und Versäumnissen, die sie gar nicht zu verantworten haben. Ihr tut so, als lebten die Griechen in Saus und Braus und lassen es sich wohlergehen auf ihren Hängematten. Du wirst sehen, es ist leider anders. Schuld tragen korrupte Politiker, vor allem die der früheren Regierungen, und die reichen Steuerflüchtlinge. Sie sind von den Maßnahmen so gut wie nicht betroffen. Hier muss sich riesig viel ändern, wenn das Land wieder auf die Beine kommen will. Das wissen die meisten Griechen. Aber das lässt sich nicht von heute auf morgen erreichen. Die deutsche Regierung sollte auf die Menschen hören und nicht auf die Bankenvorstände.“

Sie fahren nun durch Papagon und dann durch Kesariani. Die Häuser an den Straßen werden höher und stehen dichter. Kaum Autos fahren auf den Straßen. Früher wälzte man sich hier in unendlichen Schlangen Meter für Meter der Innenstadt entgegen, weiß Tobias zu berichten. Auf den Bürgersteigen wird es nun voller. M sieht sie nun auch, die Menschen mit einer Plastiktüte in der Hand, in ärmlicher Kleidung. Es mehren sich Kaffeehäuser und Restaurants. Ihre Tische auf den Bürgersteigen sind leer, viele haben geschlossen. Das Steinmeer Athen lässt nur wenige Blicke in Parks und Grünanlagen zu. In Zografos sieht M einen alten Park, grau schon im Frühling, mit vielen Menschen, die unter den Bäumen liegen. Die Beiden biegen nun ins Zentrum ein. Kurz taucht nicht weit von ihnen schon die erhabene Akropolis im nachmittäglichen Licht der tief stehenden Sonne auf. Sie erreichen die Vasilissis Amalias, und zur Linken sieht M das Parlamentsgebäude, das früher das königliche Schloss war. Es ist still. Der Platz ist leer, sauber, und die großartigen Anlagen des politischen Zentrums versöhnen M für einen Augenblick mit den vorangegangenen Eindrücken einer verlorenen Bürgerlichkeit der Jahrtausende alten Stadt.

Tobias nutzt die erhabene Kulisse des Augenblicks und erzählt M, wie sehr die Griechen unter den Bildern leiden, die deutsche Medien über ihr Land im Europa der Gegenwart malen. Er selbst wisse, wie auch die Deutschen inzwischen Angst befällt, weiterhin in dieses beliebte Reiseland zu fahren. „Du musst wissen, wie viel südländischen Stolz die Hellenen in sich tragen. Auch deshalb kamen wir aus dem Norden so gerne hierhin.“ Er meint, nicht nur die Antike und die Küsten des Lichts hätten Griechenland bei den deutschen Touristen so beliebt gemacht. Es seien auch die Menschen, ihre Bewegungen, ihre Musik, ihr Ausdruck im Tanz, ihr Glanz in den Augen, wenn von ihrer großen Geschichte die Rede ist. Es sei nun derselbe Stolz, der es so schwer mache, die europäischen Sparauflagen und vor allem den Tonfall hinzunehmen, wie von ihnen gefordert werde. In Ansehung des Syntagma-Platzes meint M nur kurz: „Jetzt nur nicht sentimental werden.“

Nur wenige Meter vom Syntagma entfernt hält Tobias in einer kleinen Straße, die schon den Hügel aufwärts in die Plaka führt, vor einem herrschaftlichen Hotel. Sie sind angekommen im Electra Pallace Athena. In Sichtweite stehen einige schwere Limousinen. Hier treffen sich die Großen. Das beflügelt M. Tobias fährt seinen kleinen Wagen in die Hotelvorfahrt und hält direkt vor dem Eingang. M ist es fast ein wenig peinlich, als Person des Zeitgeschehens in diesem vergleichsweise klapprigen Fuhrwerk ohne Krawatte den Blicken der Livrierten ausgesetzt zu sein. Freundlich nähert sich einer von ihnen, öffnet den Türschlag. „Welcome in Athens“ Tobias übergibt einem anderen Hoteldiener die Autoschlüssel. Das Gepäck wird in die klimatisierte Halle getragen. Eine freundliche Hostess kümmert sich um M. Auf seiner Zimmerkarte prangen die fünf Sterne des Hotels.

Gediegener Luxus in den Hotels ist M nicht fremd. Sein Zimmer im dritten Obergeschoss lässt nichts zu wünschen übrig. Es ist geräumig, angenehm temperiert. Das Badezimmer mit viel Marmor ist sauber, für alle kleinen Annehmlichkeiten ist gesorgt. Über ihm auf dem Dach ist ein Swimmingpool. Was aber über alles hinausragt, was er bisher kennengelernt hat, ist die Sicht von seinem Zimmerbalkon, die nach Westen geht. Er blickt auf die verwinkelten Häuser der Plaka, die wie angeklebt am Ostabhang der Akropolis dicht verschachtelt vor ihm liegen. Über ihnen glänzt im abtauchenden Abendlicht die Akropolis, fast zum Greifen nah. Erhaben schaut auf sie der Giebel des Parthenon hinab, noch immer wie seit Jahren sind Säulen in Teilen eingerüstet. Die oberen Teile der Propyläen sind zu sehen, der Niketempel, zu ahnen die Karyatiden vor dem Erechtheion, für M Inbegriff der Schönheit menschlicher Gestalten aus der Antike. Die mächtigen Burgmauern liegen bereits im Schatten der rasch aufziehenden Dämmerung. Aber die restlichen Sonnenstrahlen lassen die Akropolis noch glühen.

Für einen Augenblick ist M überwältigt M von dem Panorama. Er weiß, die Stadt kann er auf dieser Reise nicht genießen. Gerne wäre er jetzt gleich losgezogen, durch die Plaka den Burgberg hinauf bis zu den Propyläen, hätte sich auf die Stufen des Parthenon gesetzt und hätte die weiten Blicke über die Stadt zu den Bergen im Norden und zum Ägäischen Meer im Süden sowie Westen gleich am ersten Tag genossen. Er durfte solche Sentimentalitäten gar nicht erst zulassen und erledigt schnell seine wenigen Handgriffe, um sich in seinem neuen Reich einzurichten. Mit Tobias hatte er sich im Restaurant auf der Dachterrasse verabredet, wo sie gemeinsam ihr erstes Abendessen einnehmen wollten.

M hatte sich frisch gemacht, trug eine schwarze Hose und ein weißes offenes Hemd. Eine helle Jacke trug er locker über den Arm. Auf dem Balkon vor seinem Zimmer hatte er sich vergewissert, dass es einen warmen und windstillen Abend geben würde. Ihm tat dieses frühsommerliche, noch nicht zu heiße Wetter nach dem langen kühlen Winter im Norden sehr gut. Oben auf der Terrasse traf er Tobias, der mit zwei älteren Herren an einem Tisch in der Ecke der Terrasse saß, von dem aus man freie Sicht auf die Akropolis hatte. Es war ruhig hier oben, und erste elektrische Lichter hoben sich gegen den in tiefes Violett getauchten, dunkel werdenden Himmel ab. M wurde von Tobias den beiden vorgestellt. Der eine war Manager im Hafen von Piräus, der andere Direktor einer Versicherungsgesellschaft. Sie verständigten sich in Englisch, das alle vier nur leidlich beherrschten, sodass Tobias hin und wieder dolmetschte.

Der Hafenmanager gab schnell zu verstehen, dass er der neuen Regierung mehr vertraue als den vergangenen, die Griechenland tief in die Krise geführt hätten. Der Versicherungsdirektor hielt von der neuen Regierung nicht viel, weil ihre Mitglieder Populisten seien, Maulhelden, die in der Sache wenig Ahnung hätten. M fühlte sich ihm schnell besonders verbunden, obgleich ihm der Hafenmanager eigentlich sympathischer erschien. Es wurden prächtige Speisen aufgetischt, und auch der Wein war für den Weinkenner M vorzüglich. Den langen Abend sprachen sie nur über die Zustände in Griechenland, und M war froh, dass er nicht über andere Dinge ins Gespräch gezogen wurde. Der Blick über diesen Teil der Stadt stand im härtesten Kontrast zu ihren Gesprächen. Es war kaum ein anderer Ort vorstellbar, an dem sich die Kulturgeschichte der Menschheit mit den erhabenen Schönheiten der gestalteten Kultur auf so vollendete Weise vereinigte wie auf dieser Terrasse. Doch sie redeten in den Szenarien vom Untergang eines sich verlierenden Landes.

„Sie dürfen sich nicht irritieren lassen, wenn Sie lesen, dass hier deutsche Fahnen verbrannt werden, ihr Finanzminister verhöhnt und die große Bundeskanzlerin zu einer Karikatur verzerrt wird“, meinte der Hafenmanager. In einer so erhitzten Atmosphäre gäbe es solche widerlichen Ausreißer nun mal, und auch auf deutscher Seite gäbe es Scharfmacher, die nicht zimperlich mit der Würde und dem Stolz der Griechen umgingen. Der Versicherungsdirektor meinte, den Deutschen mangele es an Verständnis dafür, was den Griechen bereits alles abverlangt worden sei. Er stelle sich vor, es gäbe solche Einschnitte in Deutschland, wie würde dann wohl die Stimmung in der Bevölkerung sein?

M wusste, dass dieses Treffen nicht geplant war. Anders als in Deutschland ist es hier üblich, sich mit anderen an einen Tisch zu setzen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Er war froh, dass er gleich am ersten Abend zwei so wichtige Vertreter der Wirtschaft traf, um im Gespräch mit ihnen sein Geschick in seiner diplomatischen Rolle zu erproben. Als etwas misslich empfand er, dass er hier ohne Krawatte auftrat, weil ihm gegenüber so gut ausgestattete Anzugträger saßen. Umso freundlicher und Konfrontationen vermeidend parierte er die Statements seiner Tischnachbarn. Die Kanzlerin im Nazioutfit zu charakterisieren, fördere sicher nicht einen Abbau der Emotionen in diesem Streit, gab er zu verstehen, und außerdem könne man sich natürlich nicht vorstellen, dass es in Deutschland je derartige finanzpolitische Verwerfungen geben könne wie in Griechenland, weil das Verständnis von staatlicher Verwaltung und die Kontrolle des staatlichen Handelns in seinem Land vollständig anders ausgeprägt seien. M wollte mit seinen Beiträgen den Brennpunkt auf das Versagen des griechischen Staates lenken.

Tobias hielt sich in diesem Gespräch völlig zurück. Er vermittelte vor allem sprachlich und sorgte sich im Übrigen darum, dass der professionelle Service der Kellner lautlos funktionierte. Im Gespräch und beim Wein werden die drei zunehmend einander zugetan, fast verliebt in den Austausch ihrer Sätze. Der Versicherungsdirektor trägt zur Aufwertung von M bei, indem er seinen hohen Respekt vor der deutschen Politik äußert, wie sein Land finanziell unterstützt werde. „Ohne die Deutschen wäre hier längst alles zusammengebrochen und wir hätten eine Drachme, mit der wir Obst, Gemüse und Ouzo kaufen könnten, sonst aber nichts“, meint er. Er macht M Mut. Als Deutscher werde er in diesem Land auf viel freundliches Interesse stoßen. Als Deutscher sei man gerade dann hierzulande besonders willkommen, wenn man als persönliches Gegenbeispiel für die vermeintliche staatliche Abneigung Deutschlands gegen Griechenland angesehen werde. „Sie sind ja nicht ein Angestellter der Troika, sondern ein angesehener Parlamentarier.“

Vom Hafenmanager erfährt er noch, dass sein Gehalt jetzt bei 4.200 Euro monatlich gedeckelt sei. Viel mehr könne man als angestellter Manager in Griechenland zurzeit nicht mehr verdienen. Gegenüber früheren Zeiten bekomme er jetzt nur noch etwa ein Drittel, zahle aber genauso viele Steuern und Abgaben wie vorher. „Aber Sie sehen, mir geht es hier ja noch vergleichsweise gut. Das kann ich von der überwältigenden Mehrheit meiner Landsleute nun wirklich nicht mehr behaupten.“

M bemüht sich klarzustellen, dass natürlich keiner die Verelendung der Menschen wolle. Aber die müssten jetzt durch das Tal der Tränen gehen, damit überhaupt wieder ein geordneter wirtschaftlicher Aufschwung in Griechenland folgen könne. Arme und verzweifelte Menschen gäbe es auch in Deutschland. Künftig müsse den Griechen klar sein, dass es weitere Hilfsgelder aus Deutschland, auch aus den anderen europäischen Ländern, nicht mehr geben könne.

Sie sitzen an diesem warmen Abend auf der herrlichen Terrasse mit dem Blick auf die magisch leuchtende Akropolis noch bis tief in die Nacht. Mehrere Flaschen Wein werden geleert, und köstliche Speisen werden über die Stunden immer wieder frisch aufgetischt. Da bittet M Tobias, sich um die Rechnung zu kümmern, die M mit seiner Kreditkarte begleichen will. Tobias lächelt und antwortet in Deutsch – das die beiden Herren nicht verstehen – das gehe nicht, weil der Hafenmanager die Rechnung bereits beglichen habe. M ist das sichtlich peinlich, zumal er nichts von dem geheimen Minenspiel mitbekommen hat, über das diese Übereinkunft mit dem Kellner herbeigeführt worden war. Umso höflicher bedankt er sich bei den beiden für diesen aufschlussreichen Abend und die geistreiche Unterhaltung, die er mit ihnen gefunden habe. „Ich hoffe, Sie in besseren Zeiten als meine Gäste zu Hause in meinem Land begrüßen zu dürfen.“ Sie tauschen noch ihre Visitenkarten und verabschieden sich brüderlich herzlich.

Tobias hatte ihm einen Ablaufplan gegeben, auf dem die Tage in Athen mit den vorgesehenen Unternehmungen zeitgenau vermerkt waren. Am kommenden Tag werde Tobias in der Hotelhalle um zehn Uhr auf M warten und mit ihm einen Spaziergang durch die Innenstadt machen. M ging schnell ins Bett und schlief fest. Am Morgen genoss er vor dem reichhaltigen Frühstück ein erfrischendes Bad im Pool auf der Dachterrasse des Hotels. Er fühlte sich gut und gestärkt. Mit der heiteren Gelassenheit eines Gentlemans reagierte M lächelnd auf die ängstliche Frage von Tobias, ob er sich am vergangenen Abend durch die Anwesenheit der beiden Herren überfahren gefühlt habe. Es sei nun mal in Griechenland üblich, dass man sich nicht getrennt an einen freien Tisch setze, wenn direkt nebenan Menschen sitzen, die einem sympathisch erscheinen. Für M war der Abend ein hervorragender Einstieg. Er merkte bereits, dass hier alle Gespräche sehr schnell im Politischen landen. Ressentiments hatte er nicht wahrgenommen, und auch sonst entsprachen die beiden Herren seinen Erwartungen an kultivierte und ebenbürtige Gesprächspartner. Dass sie ihn von der Begleichung der Rechnung ausgeschlossen hatten, fand er nicht richtig. Tobias war über die Reaktion erleichtert und empfand Sympathie für seinen zu betreuenden Gast, obgleich er wusste, wie unterschiedlich ihre beiden Köpfe tickten. Sie gingen zu Fuß. Die Sonne schien, doch es war nicht sehr heiß. Die Luft war klar, und die Häuser der Plaka strahlten gediegene Bürgerlichkeit und stellenweise die innerstädtische, im 18. und 19. Jahrhundert geprägte Pracht der Stadt aus.

Die Straßen sind eng, die vielen Restaurants und Cafés am Vormittag noch nicht bevölkert. Sie ziehen durch die kleinen Gassen über den römischen Markt und sind bald auf dem Mitropoli Platz mit den beiden kleinen byzantinischen Kirchen. Tobias taucht in die Geschichte und erzählt über die Bauweise der Kreuzkirchen, die genau vorgegebenen Baumustern folgte, wo immer das byzantinische Reich seine Macht entfaltet hatte. Erst auf der Ermou kommen sie in die Stadt der vielen kleinen Läden und Handwerker.

Der Bahnhof Monastiraki gibt M einen ersten Einblick in das Aussehen der sozialen Krise im Land. Graffitis häufen sich, Menschen durchsuchen die Papierkörbe und Bettler aus allen möglichen Ländern lagern um die Eingänge. M beeindrucken die Säulen der Hadriansbibliothek, wo bereits die ersten Touristengruppen aufgelaufen sind. Boutiquen reihen sich dicht aneinander. Nur wenige haben geöffnet und die Läden sind leer. Die meisten Auslagen bleiben verdeckt, denn die schweren Eisengitter sind heruntergezogen. Die Straße war einmal ein Paradies für Shoppinggäste. Heute ist sie eher leer und die Zeichen der Verwahrlosung sind unverkennbar. Die Straße ist eng und eine Fußgängerzone. Die älteren Häuser sind drei Stockwerke hoch gebaut, neuere Häuser erreichen die doppelte Höhe. Tobias merkt an, dass die meisten Bewohner die Mieten nicht mehr bezahlen können. Es gäbe sehr viele Leerstände, was die Touristen kaum bemerken würden.

Ein Stück weit gehen sie die Ermou nach links hinunter, biegen aber schnell nach rechts in das dicht gebaute alte Psirri-Viertel, unser Kreuzberg in Athen, wie Tobias meint. Den Theseustempel und den Kerameikos-Friedhof lassen sie links liegen. „Das antike Athen zeige ich dir an einem anderen Tag“, entschuldigt Tobias seine Routenwahl, wohl wissend, welche Anziehung die alten Säulen und Skulpturen auf die Athenneugierigen ausüben. Das Sonnenlicht strahlt nur selten bis auf das Straßenpflaster in den engen Gassen von Psirri. Hier noch bis vor kurzer Zeit die vielen Handwerker und Haushaltswarenläden zu Hause, in denen es nach Gewürzen roch und immer das Hämmern von Kupferblechen oder bei der Eisenbearbeitung zu hören war. Heute ist es ruhig in den Läden und Werkstätten. Auch hier sind die meisten geschlossen. Es gibt keine Kunden mehr.

Aber nicht erst jetzt, schon in der Vergangenheit war dieses Viertel ein Zentrum der Widerspenstigen, ein Schmelztiegel der Ethnien und Kulturen. M fallen die vielen Sprüche an den Hauswänden auf, aufgesprüht und mit Karikaturen in bunten Farben geschmückt, die über aktuelle Akteure in der Krisenzeit erzählen. Auch Köpfe aus Deutschland findet er hier an den Wänden. Dieses Viertel ist schon immer eine Hochburg der Syriza gewesen, erfährt M. Er merkt, wie er sich vergewissert, dass seine Geldbörse fest in der Hosentasche steckt. Richtig wohlfühlen kann er sich nicht in den pittoresken Gassen, und allein wäre er hier nicht gerne unterwegs.

Sie erreichen die Odos Athinas. Diese Straße ist M früher so gerne auf und ab gegangen. Er erzählt Tobias, wie er als junger Mensch dem Charme der Stadt aus Musik, Wein und frischem Essen gerade in dieser alten Straße erlegen war. Hier habe er mit Lust die Vereinigung des Okzidents mit dem Orient gespürt. Diese Straße sei für ihn so etwas wie ein Symbol für das Land gewesen, nicht richtig durchschaubar, aber ungemein anziehend für einen, der es aus dem kühlen Norden gekommen genossen habe, dass die Ordnungen hier nicht so gelten wie zu Hause. Aber jetzt müsse er sehend zur Kenntnis nehmen, dass er damals wohl einer romantischen Sicht erlegen sei. Nun habe die alte Stadt ihre Patina verloren und die Armseligkeit von Improvisation und Stillstand präge ihr Gesicht. Auf der schnurgeraden Straße habe es früher unzählige Straßenhändler und Schuhputzer gegeben. Nun sehe man keine mehr. In den Läden und Werkstätten, die dicht an dicht die Straße säumen, sei es laut und geschäftig wie auf einem Basar zugegangen. Heute sei es dagegen mucksmäuschenstill. Gleich würden sie zu den Markthallen kommen, da sollten sie einen Kaffee trinken. Er könne sich noch gut erinnern, was es da alles zu kaufen gegeben habe. Solche Auffahrten an Fleisch und Fisch habe er nie wieder in seinem Leben gesehen. Meerestiere, Muscheln und Oktopus verbinde er heute noch mit diesen Hallen, in denen die Händler ohrenbetäubend für die Aufmerksamkeit der Augen und Nasen geworben hätten.

Nur wenige Schritte die Athinas hinunter, und schon sind sie bei den Hallen angekommen. Großartig findet M auch heute das Wiedertreffen mit ihren Gebäuden. Aber es ist wenig Betrieb auf den Märkten. Es gibt sie zwar noch, die Stände mit den Gewürzen, Nüssen, Oliven, die Hallen für Fisch und Fleisch. Aber Betrieb ist nur bei den einfachen Ständen, die Obst, Gemüse und vor allem Kartoffeln, Zwiebeln und Tomaten verkaufen. Es ist sehr leise in den Hallen. Viele Menschen eilen mit ihren Plastiktüten vorbei. Den Marktschreiern ist die Stimme abhandengekommen, und viele Menschen tragen tiefe Schatten unter ihren Augen. Nur am Ausgang zur Aristogitanos, wo die Ouzo-, Wein- und Likörfässer auf den eiligen Gast warten, ist es etwas lebhafter. Da sitzen auf den Stühlen die alten Männer und lassen in ihren Händen die Kugeln der Bernsteinketten gleiten. Da sitzen und hocken viele, die sehnsüchtig darauf warten, dass ihnen etwas abgegeben wird.

Die Beiden verlassen die Markthalle östlich zur kleinen Aioloustraße mit ihren vielen Kaffees und Restaurants. Nur wenige nahe der Markthalle sind geöffnet, und an den Tischen sitzen Touristen. Tobias und M setzen sich zu ihnen mit dem Blick in die enge Straße in nördliche Richtung. An den Fassaden ist lange nichts mehr renoviert worden und auch die Bürgersteige sind brüchig. „Für so etwas gibt es kein Geld mehr, und viele Handwerker verlieren auch deshalb ihre Arbeit“, merkt Tobias an, weil M etwas voreilig gemeint hatte, hier täten Sanierungen aber wirklich not. „Je weiter wir die Straße hochkommen in Richtung Omonia-Platz, desto verwahrloster wird die Stadt, desto trauriger ist die Situation der Menschen“, hört M von Tobias.

M fällt es schwer, Bilder und Eindrücke in klaren Aussagen zu summieren. Der Zerfall der Stadt ist offensichtlich. Allerdings gibt es Städte in Europa, deren Erscheinungsbild noch viel armseliger ist. Auch Athen hatte wie das ganze Land ständig über seine Verhältnisse gelebt, sagte er sich. Er suchte nach Vergleichen mit Städten im Süden Italiens, sogar mit Marseille. Viele Menschen, die er sieht, dauern ihn in ihrer Hilflosigkeit und in ihrem offensichtlichen Elend. Doch sieht er die nicht auch in Berlin, gehören sie nicht zu jeder großen Stadt in der globalen Welt? Er stärkt sich in der Auffassung, dass dieses traurige Schicksal einer Verliererschicht der Menschen nicht zum Instrument der Erpressung für eine Politik des Pumps auf Kosten anderer Länder gemacht werden darf. Das Bild seines Finanzministers im Rollstuhl geht ihm durch den Kopf und dessen Aussage, ein kühler Kopf sei jetzt wichtiger als ein heißes Herz. „Und dann noch die vielen Migranten und Flüchtlinge auf den Straßen“, sagt er zu Tobias. „Armut zieht Elend an, und der Strudel nach unten beginnt.“

Sie gehen durch die Sophoklesstraße. Auf den Mauervorsprüngen oder schlicht auf dem Boden sitzen in den überdachten Arkaden dutzende arabisch Aussehende und Schwarze oder ziehen unruhig hin und her. An einem kleinen Park verdichten sich die Menschen. Kostenlos wird dort Essen verteilt – von Menschen, wie Tobias anmerkt, die selbst kaum noch etwas zu essen haben. Wenige Meter weiter gehen sie an einer langen Schlange vorbei. M sieht die erste Suppenküche in seinem Leben, in der die Stadt Athen die Ärmsten der Armen am Leben hält. Sie sind nicht weit, nur fünf Häuserblöcke von der Stadiou entfernt, einer Prachtstraße Athens, in der die Banken, Konzerne und Ministerien ihre protzigen Gebäude haben. Das soziale Rückgrat in der Stadt sind die Nachbarschaften, erklärt Tobias das aggressionsfreie Treiben an diesem sozialen Brennpunkt, an dem schon die soziale Katastrophe zu Hause ist und das Leben ohne einen einzigen Euro weitergehen muss. „Würden die Griechen auf den Staat setzen wie in Deutschland, wäre das Land längst untergegangen“, meint Tobias und fügt hinzu: „Die Milliarden werden hier nämlich nie ankommen.“

M erkundigt sich, wie viele Flüchtlinge es in Griechenland gäbe. Genaue Zahlen gäbe es nicht, erfährt er, aber 500.000 seien es mindestens, wahrscheinlich eher eine Million, fast alle nicht registriert, illegal. „Warum schickt sie der Staat nicht wieder zurück“?, fragt M. „Für 11,4 Millionen Einwohner sind das doch viel zu viele.“

Mal abgesehen davon, dass der Staat wie bei vielen anderen Aufgaben bei diesem Problem völlig überfordert sei, gäbe es bis auf die kleine Gruppe der Nazis bei den Griechen eher das Gefühl und die Tradition, Fremden helfen zu müssen, als sie vor die Tür zu setzen, meint Tobias. „Das gehört sich in diesem Land einfach nicht, um es mal unpolitisch zu sagen“, fügt er hinzu. Außerdem sei es nicht so, dass der Staat passiv sei. Gerade vor wenigen Monaten sei die Polizeiaktion „Xenios Zeus“ gelaufen. Da machten in Athen Hundertschaften von Polizisten Jagd auf Flüchtlinge. 16.000 wurden vorübergehend festgenommen, 2.000 wurden abgeschoben. Die Aktion sei dann aber am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. Nun kommen täglich immer mehr Flüchtlinge in die Stadt. Die Behörden würden pro Woche aber nur 20 Anträge bearbeiten, ein Tropfen auf den heißen Stein. Hilfe vom Staat gäbe es nicht. Es würden keine Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Das Flüchtlingsproblem laufe in Griechenland in völlig anderen Bahnen als in Deutschland. „Aber warte nur, bald werden sie euer Land fluten.“ M muss lächeln.

M ist das Thema Flüchtlinge peinlich. Er weiß, dass Europa ihnen gegenüber versagt. Er unterdrückt die Behauptung, nicht nur Griechenland könne in der Asylfrage eigentlich von Deutschland viel lernen, aber er verweist auf die Parallele, dass hier wie dort politisch von den Flüchtlingsproblemen nur die Rechten profitieren. Wenn M vor irgendetwas Angst hat, dann vor einer Machtverschiebung in der Gesellschaft zu einer Partei rechts von seiner. Das Argument nimmt Tobias gerne auf, als sie in die Sokratesstraße einbiegen, die nach Norden Richtung Omonia-Platz führt. Die Polizei ist hierzulande geächtet, weil zu viele ihrer Mitglieder eng verbunden mit der Chrysi Avgi, der Goldenen Morgenröte seien, die Nazipartei in Griechenland, die bei den Wahlen im Januar mit gut 6 Prozent der Stimmen ins Parlament gezogen war. Gerade diese Quartiere, durch die sie gerade gehen, seien ihre bevorzugten Aktionsgebiete. Nachts zögen sie durch die Straßen, vor allem mit ihren Motorrädern, laut und Schrecken verbreitend, und überfielen die wehrlos in den Straßen lebenden Flüchtlinge. Von der Polizei gäbe es nur in seltenen Fällen eine Reaktion. Die Rowdies in der Nacht mit ihrer Jagd auf Menschen seien in der Regel die Faschisten aus den Reihen der Chrysi Avgi.

M hat eine Abneigung gegen die Bezeichnungen Nazis und Faschisten. Er will nicht gelten lassen, dass Menschen, die in die unangenehmen Ränder der Rechten abdriften, als Erbe von Hitler und seiner Gefolgschaft gerückt werden. Fremdenfeindlichkeit erscheint ihm als eine notwendige, wenn auch traurige Folge einer offenen Asylpolitik. Aber er kann Tobias nicht widersprechen, als der meint, dass Fremdenfeindlichkeit umso gefährlicher werde, je straffer organisiert ihr eine Partei zur Seite stünde, wie es die Goldene Morgenröte nun einmal sei. „Du wirst hoffentlich nicht das Bedürfnis haben, dich mit Herrn Michaloliakos, ihrem Führer, zu treffen.“

Nein, dieses Bedürfnis hat er nicht und darf es auch aus Parteidisziplin nicht haben. Dass es auch auf Seiten der Flüchtlinge einige gibt, die kriminell sind, bestreitet in diesen Stadtvierteln keiner, weil alle miterleben, was vor ihrer Haustüre geschieht. Aber Kriminalität sei nicht ethisch oder kulturell bedingt. Sie gedeihe ebenso unter den verarmten Griechen, die zunehmend ihre Wohnungen verlieren und keinerlei finanzielle Unterstützung haben. Drogen und Prostitution seien das markanteste Feld dieser Kriminalität. Selbst in einem Sozialstaat wie Deutschland sei das so. Wenn Tobias so spricht, schaut M sprachlos ins Weite. Solche Gedanken passen nicht in sein Bild von Politik.

Sie kommen an einem kleinen Markt vorbei, wo zahlreiche Tische aufgestellt sind, auf denen es alle nur denkbaren Waren gibt, auch Tische mit Obst und Gemüse. Sie werden von Bauern betrieben, die ihre Ware in die Stadt bringen und zu sehr niedrigen Preisen verkaufen, da sie keine Handelsspannen berechnen. Ansonsten gibt es nur Tauschgeschäfte. Computer wechseln den Besitzer für Kleidung, Kartoffeln und Tomaten für einen Tisch und Stühle. Griechen und Migranten arbeiten auf diesen Märkten und in den Tauschringen zusammen, Nachbarschaften finden Kommunikation und Geschäfte auf Gegenseitigkeit. Viele Spenden kommen auf diese Märkte, auf denen fast nie mit Geld gehandelt wird.

Es gibt nur wenige Blickkontakte für M, als sie an diesem Markt entlangschlendern. Die Geschäftigkeit absorbiert das Nachdenken über morgen. Heute zu überleben, ist das Gebot des Augenblicks. Das ist ja immer noch der Anfang allen Übels, geht es M durch den Kopf. Es wird sie noch schlimmer treffen, ahnt er. Und wenn er dennoch hin und wieder den Gesichtsausdruck von Männern und Frauen erhascht, dann meint er Angst in den ernsten Gesichtern zu sehen, Angst, die sie hier alle eint. Mit Angst kann M nicht umgehen, er versteht sie nicht, er geht ihr aus dem Weg. Die Angst prägt immer die Gesichter der Menschen, je mehr sie sich dem Omonia nähern. Die Häuser sind nun stattlicher, und ihr in Teilen jämmerlicher Zustand wird durch vielfach übergesprühte Graffiti gedämpft, die jäh in die Augen springen. Der Verkehr herumlaufender Menschen wird stärker, wenngleich der Strom der Autos, die über die Stadioustraße auf den Platz rollen, überschaubar bleibt. Diese Straße biegen sie nun zu dem großen Platz ein, auf den die breiten Achsen und kleinen Straßen aus Ost und West, aus Nord und Süd zusammenlaufen.

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