Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 9

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Seine Bedeutung als Treffpunkt Athens und als Mittelpunkt des wirtschaftlich aufstrebenden Landes in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat der Platz der Einheit längst verloren. Sein großes Oval bleibt mit dem U-Bahnknoten und den vielen namhaften großen Straßen, die von ihm ausgehen, ein Verkehrsknoten und ist heute eher Mittelpunkt der multikulturellen Viertel mit bitterer Armut um ihn herum. Nur noch wenige Warenhäuser wie das Hondos gibt es, leer, wie die meisten Geschäfte rund um den Platz. In ihnen hausen – illegal – vornehmlich Migranten und zunehmend auch obdachlos gewordene Griechen. In den Stadtvierteln, die den Platz umgeben, leben über 60 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Fast 70 Prozent der jungen Menschen sind ohne Arbeit, behaupten die Statistiken. Gleich nordöstlich an den Omonia-Platz schmiegt sich der Stadtteil Metaxourgio, eine pittoreske Kulisse vom Platz aus gesehen, eine no go area, wie der neue Reiseführer mitteilt, den M in seiner Tasche hat.

„Ich wäre mit dir auch noch weiter über den Platz in die nördlichen Viertel gezogen, meinetwegen zum Aristoteles-Platz. Aber das erspare ich dir. Dort würdest du über das Elend des Drogenhandels, der Dealer und der Yuppies stolpern.“ Tobias schaut ihn traurig an und ahnt, es gäbe Gesichter des Elends, in die man nicht schauen könne. M erinnert sich, was er alles über den Görlitzer Park in Berlin gelesen hat, wohin er nie gegangen ist. Hier stellt er sich das alles in den eng gebauten Straßen noch viel schlimmer vor und verzichtet gerne auf eine Besichtigung. Der Niedergang des Landes schreit ihm bereits schrill genug auf dem Platz entgegen. Er sieht sie, die vielen fremd aussehenden Menschen, er sieht Prostituierte, scheue Gestalten, die nach Drogen suchen, er sieht die großen Gebäude, beraubt ihrer Bestimmung, er sieht die Unwirtlichkeit der Stadt, die gegen den Dreck, gegen ihren Verfall nicht mehr ankommt.

Viele Verwüstungen sind Folgen nächtlicher Plünderungen, bandenmäßiger Überfälle der Rechten. Auch die anarchistischen Gruppen haben auf dem Platz und um ihn herum ihre Hauptquartiere. Mittendrin, ohnmächtig und den Rivalitäten ausgesetzt, Flüchtlinge mit einem Bündel Decken unter dem Arm, Kinder ohne Schuhe. Karitative Hilfen kommen hier ebenso an ihre Grenzen wie die bewundernswerte Solidarität und gegenseitige Unterstützung in den Stadtvierteln. Auf diesem großen Platz stranden viele, für die nichts mehr geht, hier ist Endstation. „Dieser Platz war einmal das Symbol des griechischen Traums. Heute ist er das Symbol für ein verlierendes Land.“ Tobias und M haben sich für einen Kaffee nahe der U-Bahnstation niedergelassen. Zwei aufreizende Schönheiten pendeln vor ihnen auf und ab und bieten sich für 20 Euro an. Ein Junge, sicher nicht älter als 15 Jahre, schlurft auf sie zu und bietet ihnen Crack an, billig, wie er meint. Touristen sind nicht zu sehen. Die beiden sind Exoten, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. M ist froh, dass er einen Polizisten nicht weit von ihnen sieht, der Sichtkontakt hält. „Nachts sollten wir hier nicht sein.“ Das sagt Tobias, der seine Stadt so gut kennt und ihren Problemen nicht aus dem Weg geht.

Der Platz, der einmal das Tor für die Stadt Athen gewesen ist, liegt wüst und leer vor ihnen. Wie um ein großes U laufen die weiten Straßen um ihn. In der Mitte ist er betoniert, nur von großen Lüftungsschächten für die U-Bahn in seiner Öde gebrochen. Die großen Geschäfte sind weg. Mit ihnen diejenigen, die das Geld machten. Die verbliebene Mittelschicht hat ihre Kundschaft verloren, ist verarmt und arbeitslos geworden wie die vielen Arbeiter, die hier noch wohnen. Der Staat hat sie längst sich selbst überlassen. Jetzt sind die Flüchtlinge dazugekommen, weil immer mehr Räume leer stehen. Man schätzt ihre Zahl rund um den Platz auf 60.000, ungefähr ebenso viele wie die Griechen, die hier ursprünglich wohnten. Der Strukturwandel läuft ohne Programm. Zuerst kapituliert der Sozialstaat, dann auch der Rechtsstaat. Selbst die großen Proteste gibt es nicht hier, sondern vor dem Parlament am Syntagma-Platz. Wer hier lebt – und es sind sehr viele – ist sich selbst überlassen. Viel Geld ist in dieser Betonwüste vergraben worden. Die Lebensqualität ist kontinuierlich gesunken. Europa reicht nicht bis zum Omonia-Platz.

Hinunter in die Metro fahren Tobias und M mit der Linie 2 nach Ellinikon, dem ehemaligen Flughafen von Athen, nahe am Ägäischen Meer gelegen. Dort hatte Tobias mit dem deutsch sprechenden Arzt Georgis Vichas einen Gesprächstermin vereinbart. Seit 2001 ist der Flughafen geschlossen. Keiner der hochtrabenden Pläne, das Gelände in einen großen Freizeitpark umzuwandeln, ist je in Ansätzen umgesetzt worden. Das imposante Hauptgebäude des finnischen Architekten Eero Saarinen steht noch, leer – unter Denkmalschutz. Eine Tafel erinnert an das blutige Attentat vom 5. August 1973. Zwei Terroristen der Gruppe Schwarzer September hatten eine Lounge für Passagiere unter Feuer genommen. Drei Menschen starben, 55 wurden verletzt, zum Teil schwer. M war da noch ein Halbwüchsiger, der sich für die Beatles interessierte. Er registriert, wie lange es schon dieses tödliche Muster des bewaffneten Terrorismus gibt, dessen Opfer unschuldige Menschen sind, die sich in solchen Situationen nicht einmal wehren können. Nach diesem Muster läuft es immer wieder überall auf der Welt, zuletzt vor wenigen Wochen in Paris gegen Charlie Hebdo und gegen einen jüdischen Supermarkt. Die Bilder gehen M am Ellenikon durch den Kopf, und er fröstelt in der warmen Sonne am frühen Nachmittag im Süden Athens.

Das 620 Hektar große Gelände ist unübersichtlich. Es gibt ein Straßenbahndepot und offensichtlich gibt es zahlreiche Zwischennutzer in den Hallen. Was ins Auge sticht, sind riesige Müllberge, um die Hunde streunen. Hinweisschilder für Abflug und Ankunft stehen noch, trostlos in den leeren Weiten, auf die sie hinweisen. Tobias kennt sich hier offensichtlich aus. Der Fußmarsch ist nicht kurz. Schließlich stehen sie vor einer Halle, ähnlich einer Baracke. Hier warten viele Menschen, Kranke vor allem, am Ende der Kette aus Armut, Schwäche und Alter. Im Inneren ist Betriebsamkeit, spartanische Ordnung, freundliche Gesichter von Helfenden, viel Verzweiflung und Niedergeschlagenheit bei den Hilfesuchenden. M kommt sich vor wie in einer Halle in einem Flüchtlingslager, die als Krankenstation hergerichtet ist. Er bedauert die Menschen, die auf diesen Flugplatz kommen müssen. Wie hat es das Land so weit kommen lassen können, geht es durch seinen Kopf.

Georgis Vichas arbeitet hier mit etwa 200 weiteren Kolleginnen und Kollegen ohne Bezahlung. Seit vier Jahren haben sie gemeinsam ein medizinisches Versorgungszentrum aufgebaut, das ausschließlich mit Spenden arbeitet, ohne Banken, ohne staatliche Unterstützung. Der Doktor ist mit 53 Jahren ähnlich alt wie M. Der Empfang ist kühl, sachlich, ruhig, ohne griechisches Pathos. „Ich kultiviere hier auch meine in Deutschland erworbenen Eigenschaften“, lächelt er und fängt sofort mit seiner sachlichen Berichterstattung an. „Über 100 Patienten kommen täglich zu uns, eigentlich viel zu viel, um verantwortlich behandeln zu können. Früher war die medizinische Grundversorgung für die Griechen frei. Jetzt müssen sie 50 Prozent der Kosten selbst tragen. Wer arbeitslos ist, bekommt nach einem Jahr keine Unterstützung mehr. Fast die Hälfte der Griechen ist in keiner Krankenkasse. Sie sitzen jetzt in der Falle. Kreditkarten nützen nichts, wenn das Konto nicht gedeckt ist. Apotheken geben keine Medikamente aus, ist das Konto nicht gedeckt. Krankenhäuser nehmen keine Patienten auf, wenn nicht im Voraus gezahlt wird. Praxisärzte behandeln nur diejenigen in den Warteräumen, die noch zahlen können.“

Georgis Vichas ist Teil einer breiten Bewegung der griechischen Ärzte. Mit dem Ausbrechen der Krise im Jahr 2010 sind landesweit über 50 provisorische Polikliniken entstanden, in denen Ärzte und Krankenschwestern ohne Bezahlung außerhalb ihres normalen Dienstes die immer größer werdende Zahl der Patienten behandeln, die sonst keine Versorgung mehr finden. Die Medikamente, die sie kostenfrei ausgeben, sind Spenden aus ganz Europa, in Ellinikon überwiegend aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Wir nehmen nur Sachspenden an, kein Geld. So bewahren wir uns vor Korruption und den Strukturen einer Hilfsorganisation. Wir wollen ausschließlich unseren hippokratischen Eid ernst nehmen.“ Vichas betont, dass er eigentlich keine Zeit für das Marketing, auch nicht einmal für ausführliche Gespräche habe. Aber er führe sie so viel er könne, weil er in ihnen um die Unterstützung seiner Klinik werbe. „Helfen Sie uns, dass möglichst bald, möglichst viele Medikamente aus Deutschland geliefert werden.“

M ist von dem bescheiden auftretenden Arzt mit der ruhigen Stimme beeindruckt. Er zückt seine Geldtasche und möchte ihm einen 100-Euro-Schein überreichen. Vichas lehnt die Annahme ab. „Verstehen Sie es nicht als Arroganz, wenn ich Ihr Geld nicht annehme. Ich setze darauf, dass Sie das Wissen mit nach Hause nehmen, dass Sie helfen können. Starten Sie doch in Ihrem Wahlkreis eine Sammelaktion für Medikamente. Wir brauchen alles. Ganz besonders benötigen wir die Impfstoffe für Babys. Sie sind uns fast ganz ausgegangen.“ M verspricht, sich für das Einsammeln solcher Spenden starkzumachen. Zugleich merkt er, wie schwer es sein wird, in der aufgewühlten öffentlichen Stimmung in seinem Wahlkreis die Unterstützung für eine solche Aktion zu finden. Er wird sich einiges einfallen lassen müssen.

Er fragt den Arzt, ob nicht manches in Griechenland leichter werden würde, verließe das Land den Euro und bewege sich dann in seiner eigenen Drachme-Währung. Zum ersten Mal verliert Georgis Vichas seine ausgleichende Ruhe. „Um Gottes Willen“, poltert er spontan los. Dann würde aus der Katastrophe das blanke Chaos, in dem solche Hilfen schnell erliegen werden. Darüber nachzudenken, müsse er sich verbieten, wolle nur einen Hinweis geben: Bisher spendeten viele Firmen auch in der Hoffnung, demnächst wieder Geschäfte auf dem griechischen Medikamentenmarkt machen zu können. Solche Geschäfte gingen nur noch über Euro oder Dollar. Wer wolle sich denn in Drachmen bezahlen lassen, fragt er rhetorisch und fügt hinzu, dass die Drachme am Ende der Auszehrung von Staat und Wirtschaft auf nicht absehbare Zeit keinen Wechselwert haben könne. Mit dieser Aussicht im Rücken würden auch die Spenden schnell versiegen.

M und Tobias redeten auf dem Rückweg in die Stadt fast kein Wort miteinander. Der Tag hatte sie sehr müde gemacht. Sie saßen in der überfüllten U-Bahn und schauten in viele abgespannte Gesichter, denen sie, wenn auch aus anderen Gründen, fast ähnlich sahen. Tobias war froh, dass er für den nächsten Tag ein entspannteres Programm vorgesehen hatte, auf dessen Tagesordnung die berühmten Sehenswürdigkeiten der Stadt standen. M grübelte darüber nach, wie er in seinem Wahlkreis eine Sammelinitiative für Medikamente starten kann und welche Zusammenhänge es zu beachten gibt, wenn man über einen Grexit oder über den Verbleib dieses sich verlierenden Landes im Euro diskutieren muss.

Gestärkt durch einen wunderschönen Tag auf der Akropolis und entlang der Route durch das antike Athen, erfrischt durch einen erholsamen Abend in einer touristisch arbeitenden Taverne in der Plaka, kam nach einem Bad auf der Terrasse und einem kräftigenden Frühstück im Hotel der Termin mit dem Regierungssprecher nahe, zu dem M in den Sitz des Ministerpräsidenten geladen war. Zum ersten Mal traf er Tobias mit Jacke und offenem weißen Hemd gekleidet. Er selbst hatte einen dunkelgrauen Anzug angezogen, trug darunter ein taubenblaues Hemd und hatte sich eine dezente Krawatte um den Hals gebunden. Ans Revers seiner Jacke hatte er eine Nadel mit einem Wappen gesteckt, in das die Nationalfarben seines Landes eingefügt waren. Es war eine Auszeichnung des örtlichen Winzervereins in seinem Wahlkreis. Es fehlten nur die Fotografen und Mikrofone, als die beiden wie Staatsgäste die zehn Stufen zum Amtssitz hoch schritten.

Das „Villa Maximos“ genannte Gebäude liegt in der Irodou Attikou Straße am großen Nationalpark hinter dem Parlamentsgebäude am Syntagma-Platz. Sie hätten vom Hotel aus zu Fuß laufen können. Doch Tobias bevorzugte das Auto, um die Schuhe nicht zu staubig werden zu lassen. Das Auto parkten sie nebenan um die Ecke in der Lykeios Straße, um nicht die Blicke der Staatsdiener in der Regierungsvilla auf dieses Schmuckstück von Auto zu lenken. Der Amtssitz von Alexis Tsipras wurde im neoklassizistischen Stil 1912 auf den früheren königlichen Gemüsebeeten gebaut. Sein erster Bewohner war Dimitrios Maximos, Gouverneur der griechischen Nationalbank. Die Stufen führen in den Eingangsbereich, dessen Dach sechs Säulen stützen, die beiden inneren im ionischen Stil. Ein roter Teppich führt in das Vestibül. Dort wartet bereits Gavriil Sakellaridis, der Sprecher der Regierung, auf sie. Die Begrüßung und der Händedruck sind herzlich. M lächelt freundlich, und nun gibt es doch einen hauseigenen Fotografen, dem M mit staatsmännischer Geste in die Blitzlichter zulächelt. Das geschieht am Donnerstag, dem 7. April. Es ist genau 10.00 Uhr, wie das Foto festhält, das M ausgeliefert wird, als er zwei Stunden später den herrschaftlichen Amtssitz wieder verlässt.

„Als Abgeordneten des Deutschen Bundestages heiße ich Sie bei uns sehr herzlich willkommen. Unsere Regierung sucht das Gespräch mit den Parlamentariern in Europa. Ja, es ist wahr, mit ihnen können wir freier sprechen als mit den Vertretern der Institutionen, die regierungstechnische Funktionen erfüllen, aber keine demokratische Legitimation haben.“ So beginnt der Regierungssprecher die Unterhaltung auf dem Weg in einen kleinen Besprechungsraum, der gediegen, aber nicht überschäumend staatstragend eingerichtet ist.

M hört die Spitze in dieser Begrüßung, während er mit scheinbar gespannter Aufmerksamkeit die zahlreichen modernen Gemälde betrachtet, die an den Wänden hängen. Das Gebäude wirkt von innen viel nüchterner als von außen und gibt M die Gelegenheit, ebenfalls mit einer Spitze in das Gespräch zu ziehen: „Ich freue mich sehr auf unsere Unterhaltung und bekenne, dass die Bescheidenheit Ihrer Kanzleiräume einen Rahmen schafft, in dem es leichter fällt, offen alle Probleme Ihres Landes anzusprechen.“

„Die ja auch Probleme Europas und Ihres Landes sind“, weiß der Regierungssprecher schnell zu parieren.

Kaffee, Tee, Wasser und Kekse stehen bereits auf dem Tisch, um den sich die drei setzen. Eine freundlich bedienende Frau fragt nach den Wünschen und verlässt schnell wieder den Raum. Gavriil Sakellarides ist um einiges jünger als M, ein selbstsicherer junger Mann, offensichtlich sehr eloquent, mit kurzen, dunklen, nach hinten gekämmten Haaren und einem gestutzten Vollbart um das lange Gesicht mit hoher Stirn. Ein Grieche wie aus dem Bilderbuch, denkt M. Fast muss er lächeln, wie er sieht, dass sein Partner beim Reden die Hände vor sich zur Raute faltet, ähnlich wie es die Bundeskanzlerin tut. Der Regierungssprecher hat seine Jacke über den Stuhl gelegt. Das weiße Hemd trägt er offen ohne Krawatte, die Ärmel hat er sich ein wenig hochgekrempelt. Das machen sie von der Syriza wohl alle so, denkt M, als sei es ihr Markenzeichen bei politischen Auftritten.

„Wir können über alles reden“, nimmt Sakellarides den Faden wieder auf, „ganz besonders darüber, warum die Verhandlungen in Brüssel stocken.“ Er beginnt mit einem Statement, in dem er zu erklären versucht, dass Europa in einem Dilemma steckt, das nicht das Ergebnis der erst vier Monate alten neuen Regierung sei, sondern die Folge einer verfehlten, fünf Jahre dauernden Sanierungspolitik des drastischen Sparens, „einer bitteren, leider nicht helfenden Medizin, die uns die europäischen Institutionen verordnet haben.“ Die Folgen dieser Politik seien zu offensichtlich und schrien nach einer neuen Justierung. Man könne vielleicht einen ausgeglichenen Staatshaushalt erreichen, aber die Bedingungen dafür seien katastrophal. Die Wirtschaft sei um ein Viertel eingebrochen. Die Einkommen seien über 30 Prozent gesunken, mit lebensgefährdenden Folgen in den unteren Einkommensbereichen. Die Arbeitslosigkeit liege zwischenzeitlich nahe 30 Prozent, und jeder zweite der jüngeren Menschen habe keinerlei Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Banken, die vor nicht allzu langer Zeit das Land leichtfertig mit Milliarden Euro an Krediten geflutet hätten, diktierten nun die Bedingungen in Europa, um ihr Geld in viel zu kurzer Zeit wieder von dem Land zurückzubekommen. Europa habe die privaten Gläubiger der Banken freigekauft und begleiche nun deren Rechnung mit horrenden Milliarden, für die alle Steuerzahler in Europa haften sollten. „Das ist doch absurd, finden Sie nicht auch? Für die Menschen in diesem Land bleibt kein Cent, im Gegenteil, sie zahlen durch Verarmung die Zeche.“

Der Regierungssprecher redet engagiert und emotional, fast wie auf einer Volksversammlung, findet M. Das griechische Temperament ist für einen Mitteleuropäer irritierend, entschuldigt sich M, weil es ihm nicht gelingt, den Redefluss seines Partners durch Fragen oder gegensätzliche Einschätzungen zu unterbrechen. „Sie wollen sicher gerne wissen, was unsere Regierung anders macht als die abgewählten Regierungen. Ich sage Ihnen, wir achten sehr genau darauf, dass rote Linien nicht überschritten werden, die beachtet werden müssen, soll unsere Gesellschaft nicht zugrunde gehen und das Land im Chaos versinken. Das versuchen wir unseren europäischen Partnern deutlich zu machen, den Politikern, den Demokraten. Die Funktionäre der Institutionen haben andere Ziele, müssen sich mit unseren Argumenten nicht auseinandersetzen, tun es auch nicht. Aber die Politiker, die Demokraten! Wollen wir uns in Europa wirklich von Technokraten und Bankdirektoren regieren lassen?“

M räuspert sich, muss jetzt unterbrechen, weil er in den Zwischentönen des Regierungssprechers den sozialistischen Klang hört, der ihm bei den Linken im Bundestag so zuwider ist: „Nur eine Bemerkung, verehrter Herr Sakellarides. Wir haben im Bundestag über den Rahmen der Hilfspakete für Ihr Land abgestimmt, mit viel Bauchschmerzen. Auch wir sind Demokraten und müssen unseren Wählern begründen, warum wir so viel Geld in die Rettung der griechischen Finanzen stecken. Auch gegenüber unseren Wählern gibt es rote Linien.“

„Ich verstehe Sie. Sicher wäre es auch für Sie leichter“, antwortet der Regierungssprecher, „Sie könnten Ihren Wählern nachweisen, dass die Gelder Früchte bringen – in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesundheitspolitik, in den Sozialsystemen. Zugegeben, da liegt sehr vieles bei uns im Argen, um es vorsichtig auszudrücken. Aber Sie nehmen uns die Luft zum Atmen für wirkliche Reformen. Stattdessen wurden alle Spardiktate an einem einzigen Maßstab ausgerichtet: Die Rückzahlung von Krediten an die Banken. Was da gefordert wird, kann das Land beim besten Willen nicht leisten. Wir geraten immer tiefer in die Rezession, und Europa verspielt das Kapital dieses Landes, die Menschen.“

M spürt das enorme intellektuelle Potenzial seines Partners, das, getarnt durch Temperament und rhetorische Wendungen, ihn einengt, in die Verteidigung drängt, wo die objektive Situation doch eine genau umgekehrte Rollenverteilung nahelegt. So ist M nun entschlossen, seine Pfeile aus dem Köcher zu ziehen. Er verweist darauf, dass der Euro mit Regeln verbunden sei, die auch für Griechenland gelten, dass die Hilfspakete in Verträgen ausgehandelt seien, die für Griechenland bindend seien, dass die griechische Regierung in Europa in einem Maße isoliert sei, wie das keine andere Regierung vor ihr passiert sei, dass weitere Hilfspakete anstünden, von denen keiner wisse, wie man sie durch die nationalen Parlamente durchbekommen werde. „Nicht wir“, so fasst er nun zusammen, bemüht, auch von seiner Seite aus Emotionen in die Auseinandersetzung einfließen zu lassen, „nicht wir müssen liefern, sondern Griechenland muss liefern.“

Die beiden Politiker verlieren jetzt alle diplomatischen Rücksichtnahmen, reden laut und emotionalisiert. M versucht, seine Sicht auf die Dinge aus der Perspektive vorzutragen, der Sicherheit des Euros die höchste Priorität einzuräumen. Der Grieche Sakellarides hingegen bestreitet die Legitimation der europäischen Institutionen, wenn sie als Interessenvertreter des Euros seinem Land die politischen Entscheidungen vorschreiben. „Was ist das eigentlich für eine europäische Institution, die Eurogruppe, in deren Namen bei uns die Europapolitik vollzogen wird?“, fragt er aufbrausend. Dieser Club sei nirgendwo vertraglich gegründet worden, habe keine Satzung, keine Geschäftsordnung, werde von keinem Parlament kontrolliert und sei nur deshalb übermächtig, weil sich die 19 Finanzminister der Eurozone dieses Instrument geschaffen hätten. „De facto ist es aber so, dass dieser Club unser Land regiert“, wirft er M zu Füßen.

M kennt sich in diesem europäischen Räderwerk der politischen Macht zu wenig aus, um einer ernsthaften Diskussion solcher Grundsatzprobleme gewachsen zu sein. Er muss unwillig die Belehrungen durch seinen Gesprächspartner über sich ergehen lassen, gleichzeitig seine emotionale Abneigung überdeutlich in seinem Gesicht zeigen. Er wird nicht mit eigenen sprachlichen Einlassungen auf seinen Partner eingehen, will ihn ins Leere laufen lassen, während er sich dessen Kommentar über Europa anhören muss. Nicht nur formal, auch aus demokratischen Gründen habe die Eurogruppe eigentlich überhaupt keine Entscheidungsgewalt, wiederholt sein Gesprächspartner. Tatsächlich aber entscheide sie über das Schicksal von Millionen Menschen in Europa. Die Eurogruppe sei es, die mit den riesigen Notkrediten die Gläubiger bediene, um ihre eigenen Banken vor Verlusten zu schützen. Das erreichen sie, indem sie die Bürger Griechenlands gegen alle wirtschaftliche Vernunft mit gnadenlosen Sparprogrammen in die Knie zwängen. Dieses verhängnisvolle Rezept werde in der Eurogruppe mit der Macht der Stärkeren gegen die Schwächsten des Schuldenkomplexes durchgekämpft. Dafür haben sie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erschaffen, der nichts anderes sei als eine Staatsbank außerhalb der EU-Verträge, in der allein die Vertreter der Eurogruppe als Gouverneure das Sagen haben – ohne öffentliche Kontrolle, ohne das lästige EU-Parlament. Sakellarides war jetzt wirklich erregt, hob hart den rechten Zeigefinger und droht: „Noch einmal so eine EU-Antwort auf eine massive Krise in Europa, der Laden explodiert und alle verlieren, auch ihr Deutschen.“

Tobias ist als Dolmetscher in keiner beneidenswerten Position. Sprachlich ist er den aufbrechenden Emotionen durchaus gewachsen, aber er muss sich sehr bemühen, seine Übersetzungen in einem möglichst sachlichen Ton hin- und her zuleiten. Doch ohne die ursprüngliche Tonlage, ohne das Engagement der Stimmen klingen seine Sätze fade und unvollständig. Fast, so scheint es ihm, verstehen sich die beiden in ihren jeweiligen Muttersprachen vollständig, ohne dass er übersetzen muss. Allerdings muss er in dieser Eskalation bei M zurückfragen, weil der fast wütend dem Regierungssprecher entgegnet, das soziale Level in Griechenland sei trotz trauriger Einzelfälle immer noch zu hoch, höher jedenfalls als in vielen anderen Ländern Europas. M ergänzt das: „Die Rentner in den baltischen Ländern, in der Slowakei, in Bulgarien und Rumänien können von den Renten in Griechenland nur träumen, selbst deutsche Staatsbedienstete sind in ihrem Alter nicht so gut gebettet wie ihre griechischen Kolleginnen und Kollegen.“

Sakellarides hat wieder die Würde diplomatischer Beherrschung zurückgewonnen, sitzt aufrecht zurückgelehnt auf seinem Stuhl, beide Hände ordentlich auf den Tisch gelegt. Er lässt nun sein politisches Herz sprechen: „Als Sozialist kann ich Ihnen nur sagen, die soziale Schieflage in einem Land Europas darf politisch nicht durch den Hinweis auf ein Land benutzt werden, in dem soziale Probleme vielleicht noch größer sind. Wollen Sie, dass Griechenland wie Bulgarien und wie Rumänien wird? Wollen Sie, dass wir nicht mehr zu den Euroländern gehören? Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie die soziale Lage in unserem Land beschönigen oder relativieren. Was wäre in Deutschland los, hätte die Bevölkerung in den letzten fünf Jahren eine so rasante Talfahrt durchleiden müssen wie die Griechen? Würden Sie dann auch argumentieren, dass die Renten in den baltischen Ländern noch niedriger sind? Für den größten Teil der Rentner stimmen Ihre Vergleiche ohnehin nicht.“

Das Gespräch läuft Gefahr, in eine Konfrontation zu geraten, an der Sakellarides amtlich nicht gelegen sein kann. Er merkt das, zeigt wieder sein freundliches Lächeln und macht M das Kompliment, mit ihm hart, aber fair, diskutieren zu können. Das sei aber angesichts der Situation auch ganz natürlich. Ebenso wichtig sei ihm aber auch die Übereinstimmung, überzeugte Europäer zu sein, verantwortungsvolle Europäer, die nie aufgeben würden, Kompromisse auch in der aussichtslosesten Lage zu finden. Seine Regierung werde sich ihrer Verantwortung nicht entziehen, in Brüssel Kompromisse zu finden und sie im eigenen Land gegen harte Widerstände auch umzusetzen. Dazu sei es allerdings nun endlich Zeit, das sogenannte griechische Problem als europäisches Problem anzuerkennen. Die gemeinsame Euro-Währung könne nur Bestand haben, wenn sie sozialpolitisch und wirtschaftspolitisch abgesichert wird. Allein durch finanzpolitische Werkzeuge sei der Euro nicht zu retten, nicht in Griechenland, nicht in den anderen Staaten rund ums Mittelmeer und letztlich auch nicht in Frankreich oder Deutschland. Alle europäischen Politiker müssen ihren Wählern klarmachen, dass sie aus den letzten fünf schlimmen Jahren gelernt hätten.

Die Gesprächszeit sollte schon längst vorbei sein, doch die beiden stecken ihre Horizonte immer noch weiter ab. Sie wissen, dass der eine den anderen nicht überzeugen kann. Ob sie wirklich eine gemeinsame Grundlage haben, von der aus ihre Kontroversen im Einzelnen Sinn haben, bleibt zumindest für M unklar. So brillant ihm der Regierungssprecher in der Rhetorik erscheint und so aufgehoben er sich als ernst genommener Politiker hier in der Staatskanzlei fühlt, M traut diesem Mann nicht, empfindet es als Gefahr, ihm auf den Leim gehen zu können. Als Sakellarides auf die Uhr schaut, ein Signal, das Gespräch zu seinem Ende zu bringen, holt M zu seinem, wie er meint, finalen Schlag aus: „Hat die griechische Regierung einen Plan B, wie sie aus dem Euro herausfindet, wenn die Verhandlungen platzen, weil, wie Sie sagen, die rote Linie überschritten wird?“

Der Regierungssprecher fixiert seine Hände auffallend lange und antwortet dann mit sehr ruhiger Stimme, die einzelnen Worte sehr deutlich artikulierend: „Griechenland ist ein Land in Europa. Es wird den Euro nicht verlassen. Es wird sich auch nicht aus dem Euro hinausdrängen lassen. Für uns gibt es keinen Grexit, auch nicht in der von Ihrem Finanzminister angedachten Form. Halten Sie die Augen und Ohren in diesem Land auf, Sie werden kaum jemanden finden, der aus dem Euro will. Wenn Sie hingegen meinen, ob wir an Szenarien arbeiten, was geschehen muss, wenn wir vom Euro abgeschnitten werden, so sage ich Ihnen: Natürlich arbeiten wir auch an solchen Szenarien. Darüber werde ich mit Ihnen aber nicht sprechen. Sie führen uns im Ergebnis umso klarer vor Augen, bei unserer grundsätzlichen Haltung zu bleiben und für ein Griechenland in der Eurozone zu kämpfen. Das Volk wird uns in diesem Kampf unterstützen, da sollten Sie sicher sein.“

Die Verabschiedung verlief ebenso herzlich, wie die Begrüßung gewesen war. Auf der Straße nimmt sich M seine Krawatte ab und lädt Tobias noch zu einem Kaffee in ein nahes, überwiegend von Regierungsangestellten frequentiertes Kafenion ein. „Das war ein spannendes und anstrengendes Gespräch, sicher auch für dich“, wendet er sich an seinen Begleiter. Er will nun von Tobias wissen, wie er vor allem die letzten Ausführungen über seine Frage nach einem möglichen Grexit beurteile.

Tobias ist von den zwei Stunden sichtlich ermüdet und hat es schwer, mit M auf der Ebene weiter zu diskutieren, auf der er eben als Dolmetscher gefragt war. „Ich kann da auch nur spekulieren“, meint er. „Ich könnte mir vorstellen, dass der Ministerpräsident das Volk abstimmen lassen wird, wenn es in Brüssel für ihn zu eng wird. Dann wäre er innenpolitisch durch eine breite Mehrheit für seine Position in Europa gestärkt. Aber das ist von mir eine reine Spekulation.“

„Ich will dir gegenüber auch ganz offen sein. Ich bin eigentlich für einen Grexit, je früher, desto besser. Auch die meisten in meiner Partei würden das am ehesten wollen, und der Finanzminister lässt entsprechende Szenarien prüfen. Die Bundeskanzlerin wird diese Haltung nicht in der Runde der europäischen Regierungschefs vertreten. Aber sie wird umso unerbittlicher weiterhin die Einsparpolitik fordern und durchsetzen. Das weiß auch die griechische Regierung. Was für Szenarien könnte sie in einer solchen Situation entwickeln? Noch einmal sind deine Spekulationen gefragt.“

Tobias fühlt sich in dieser Rolle nicht wohl. Er verliert einen Teil seiner fröhlichen Höflichkeit gegenüber seinem Gast, was sich in der etwas gequälten Stimme niederschlägt, mit der er M antwortet: „Also zunächst mal die Zuständigkeit: Solche Szenarien müssten ja wohl im Finanzministerium bei dem von euch so gehassten Yanis Varoufakis liegen. Der ist wissenschaftlicher Spezialist in der Spieltheorie. Da kann man sich vielleicht vorstellen, dass er an Möglichkeiten denkt, wie man die Daten im Steuersystem sammelt und neu mischt, um sie in ein neu aufzubauendes Bankensystem zu transferieren, das dann parallel zu den an den alten Euro gebundenen Banken mit einer Geldeinheit arbeitet, die man getrost auch Drachmen nennen kann. Das Problem wird dann aber sein, wie man an die Steuerdaten herankommt. Denn den einzigen Zugriff auf diese Daten haben bisher die Institutionen, die wir früher Troika nannten.“

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