Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 7

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Der Fraktionsvorsitzende begann aufmunternd das Gespräch beim frischen Kaffee mit Fragen nach der Gesundheit von M. Er war stets gut informiert über die aktuellen Probleme seiner Fraktionsmitglieder und hatte für Persönliches ein sehr gutes Gedächtnis. „In unserem Job müssen wir höllisch aufpassen. Wir sind über Gebühr physisch und psychisch gefordert und verdrängen viele Zeichen, die uns eigentlich in die Hände der Ärzte drängen sollten. Ich hoffe, hinter der Krankmeldung vor Kurzem steht nichts Ernsthaftes.“

M lächelte zufrieden, dass sein Vorsitzender die Meldung seiner kurzen Auszeit vor wenigen Tagen so präsent hatte, und wertete das als Wertschätzung und kollegiale Fürsorge seiner Person. Zugleich wurde ihm klar, dass er selbst wohl nie Fraktionsvorsitzender werden könne, weil ihm gerade solche Eigenschaften völlig fehlten. Über ihn könnten nie Geschichten erzählt werden wie über den netten Mann, der ihm gegenüberstand, der den Seinen vor allem dann zur Seite trat, wenn Hilfe wirklich geboten war oder wenn sich jemand an den Rand seiner Kräfte gedrängt fühlte. M bedankte sich für die freundliche Nachfrage und beteuerte, dass er sich wieder sehr gesund fühle. Hin und wieder gebe es Probleme mit dem Magen. Aber um die müsse man sich keine Sorgen machen. Er habe sie im Griff.

„Mein Freund“, kam der Fraktionsvorsitzende mit Blick auf seine Uhr schnell zur Sache, „Sie haben eine hervorragende Arbeit geleistet, für die ich Ihnen aufrichtig zu danken habe. Mit Ihrem Bericht bin ich nun besser informiert, obgleich ich mir redliche Mühe geben musste, mich durch den Informationsdschungel zu schlagen. Kompliment, wie sie die klaren Linien aus Fakten und Schlussfolgerungen gezogen haben. Keine Frage, wir müssen einen solchen Vorgang sehr ernst nehmen. Da haben Sie völlig recht.“

M musste sich Mühe geben, seine Glücksgefühle nicht zu offen zu zeigen. Er hatte sich nach vorne gebeugt, um gekonnt die Tasse Kaffee wieder auf den niedrigen Besprechungstisch zu positionieren. In die kurze Sprechpause sagte er: „Wir müssen wohl lernen, getrennt voneinander stattfindende Ereignisse wie Attentate in Zusammenhängen zu sehen. Die Täter, ob im Irak, in Syrien, Libyen, Nigeria, Afghanistan oder in unserem Falle ein Co-Pilot eines Airbus-Flugzeuges, tun alle das Gleiche: Sie reißen unschuldige Menschen mit sich in den Tod. Allein deshalb müssen sie unsere Feinde sein.“

Der Fraktionsvorsitzende war verschlossener und ernster geworden. Nun kam die Phase – M ahnte es – in der das Konsensband gedehnt würde. Sein Gesprächspartner nahm den Ball von M auf und stellte nun, mit deutlich gepresster Stimme, seinerseits Reihen von Ereignissen zusammen, was Andreas Lubitz möglicherweise mit anderen Attentätern gemeinsam hatte, betonte aber auch solche Aspekte, wie sich die kriegerischen Anschläge der Islamisten von der Flugzeugkatastrophe unterscheiden lassen. Dem folgte M sehr aufmerksam, wobei in seinem Kopf gleichzeitig das Bild seiner Wahrsagerin lebendig war, wie sie ihm die Reihe zeitgeschichtlicher Katastrophen der Gegenwart aufgezählt hatte, in denen Politik versage, weil sie deren Zusammenhänge nicht erkennen würde. Der Fraktionsvorsitzende schloss aus seinen Aufzählungen: „Es gibt Katastrophen, die weit ins Politische reichen, keine Frage. Aber sie sind nicht strategisch verursacht, weil sie die Folge eines verrückten oder kranken Einzelgängers sind. Nehmen Sie unseren tapferen und pflichtbewussten Finanzminister. Er sitzt im Rollstuhl, weil er das Opfer eines Attentats ist. Aber der Täter war krank. Deshalb können wir doch nicht das Grundrecht der Versammlungsfreiheit suspendieren.“

„Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.“ M wollte nun wieder der meisterliche Taktiker sein. „Sie haben von mir einen Bericht gefordert, nur für Sie allein. Es geht mir nicht um ein öffentliches Statement, nicht um die Vorlage einer Presseerklärung. Ich wollte nichts anderes, als Ihnen höchstpersönlich ganz am Anfang einer Debatte, von der wir nicht wissen können, ob sie je zu Ende geführt wird, eine Richtungswertung nahelegen, mit der wir den Kreis unserer Gefährdungen erweitern und zugleich mit anderen Gefährdungspotenzialen verbinden, deren Hintergründe wir bereits besser durchschauen.“ Es gelang M nur schwer, seine Begriffe des Dämonischen, das aus dem Bösen des Menschen etwas Zwanghaftes mache, und des Terroristischen, das auf die Spuren von Taten hinweise, verständlich in eine politische Argumentation einzuführen. Er spürte, dass er mit dieser Essenz seines Berichts die klare Denkweise des Fraktionsvorsitzenden nicht erreichen würde.

Der kehrte überraschend in den anfänglichen Modus seiner Freundlichkeit zurück. Er betonte noch einmal, wie wertvoll dieser Bericht sei. Es solle Ausdruck einer besonderen persönlichen und politischen Beziehung zwischen ihm und M bleiben, dass diese Arbeit „strikt unter dem Deckel“ bleibt und die Brisanz behält, für die Probleme zu sensibilisieren, die in ihr aufgeworfen werden. „In diesem Sinne können Sie sicher sein“, meinte der Fraktionsvorsitzende, „dass Sie einen wichtigen Beitrag geleistet haben, dessen Kapital sich in der Zukunft erweisen wird. Sie haben ja recht, für das Böse sind technische Systeme eine riesige willkommene Herausforderung.“

M war sich in diesem Augenblick nicht sicher, ob ihm diese Bilanz schmeichelt oder ob sie eine freundliche Beerdigung seiner politischen Methode bedeutet. Seine Stimmung neigte dazu, die exklusive Nähe mit dem Fraktionsvorsitzenden auf dem Feld der Sicherheitspolitik als größten Erfolg seiner bisherigen parlamentarischen Laufbahn zu verbuchen.

„Mein Freund“, bog nun der Fraktionsvorsitzende mit weicher Stimme und seinem alemannischen Akzent in die Schlussrunde ihres Gespräches ein, „ich möchte Ihren Bericht auf meine persönliche Liste der Merkposten setzen. Mit dieser Liste arbeite ich an meinem politischen Netz, in dem ich die Verbindungen setze, die uns zu beschäftigen haben. Aus diesem Netz entstehen für mich die vertraulichen Beziehungen mit Kollegen, die gleichsam die DNA meiner Politik sind. Sie dürfen sicher sein, dass ich diese Vertraulichkeit mit Ihnen nicht missbrauchen werde und erwarte das im Gegenzug auch von Ihnen.“ Der Fraktionsvorsitzende wusste sehr genau, dass er mit diesem Angebot mögliche Widersprüche von M bereits im Kern aufgelöst hatte. Er erhob sich, ging an den Wandschrank und holte eine Flasche Mirabellenobstler und zwei kleine Gläser. Auch M erhob sich, als sein Freund mit den gefüllten Gläsern auf ihn zukam. „Trinken wir auf unsere Gesundheit und eine gute politische Zusammenarbeit.“

M bedankte sich für das Vertrauen, das er auch als natürliche Fortsetzung der Loyalität bewertet wissen wollte, die er stets seinem Fraktionsvorsitzenden gegenüber bewiesen habe. Sie setzten sich noch kurz, und der erfahrenere Politiker nutzte die Situation für eine kurze Bitte: „Bevor ich Ihren Bericht in meinem Ordner ablegen kann, möchte ich Ihnen dringend raten, zwei Begriffe aus Ihren Darlegungen zu streichen, die für mich eher kontraproduktiv sind. Sie sollten auf das Wort terroristisch verzichten. Das wollen wir uns für solche Attentate vorbehalten, von denen wir wissen oder annehmen können, mit welcher Absicht sie erfolgen. Und sie sollten den Begriff der Dämonie streichen. Dieses Wort taugt nicht für die Politik. Warum sollen wir die Geister beschwören? Das können wir nicht. Hinter der Dämonie steht etwas Pathologisches, und wir sollten dieses Feld den Psychologen überlassen. Mit diesen kleinen Streichungen erreichen wir eine analytische Geschlossenheit, mit der die mögliche Nähe einer so fürchterlichen Flugzeugkatastrophe zum Politischen viel deutlicher wird.“

M wusste in diesem Augenblick natürlich, dass sein Bericht in den wesentlichen Schlussfolgerungen entwertet ist, die ihm so wichtig erscheinen. „Das ist der Preis meiner Methode, mit der ich arbeite“, sagte er sich. Aber im Augenblick war ihm kein Preis zu hoch, um die Nähe zu diesem bedeutenden Mann im Parlament zu gewinnen. Der Alkohol lockerte seine Stimme, als er sagte: „Vielleicht habe ich das infolge meiner Arbeit an dem Bericht etwas anders gesehen als Sie. Aber ich werde die Streichungen vornehmen, weil mir daran gelegen sein muss, dass Sie etwas mit meiner Arbeit anfangen können. In einer Zusammenarbeit muss es darum gehen, einen gemeinsamen Nenner zu finden und den in Sprache umzusetzen. Das nennt man wohl auch Kompromiss.“

M war überzeugt, nach genau 45 Minuten aus einem Gespräch zu gehen, in dem er seine diplomatische Feuertaufe bestanden hatte. Er musste sich zugestehen, dass der alte Fuchs noch cleverer sein Ziel erreicht hatte, als es M vermocht hätte. Die „Pathologie des Dämonischen“ blieb einstweilen aus der praktischen Politik ausgeschlossen. Das hinderte ihn nicht, seinen Weg als Einzelgänger weiterzugehen, dieser Pathologie auf der Spur zu bleiben und ihre Relationen zu erkunden. Er sagte sich, die Zeit sei noch nicht reif für die Methode, mit der er sich die Verbindungen des Pathologischen seiner Dämonenwelt mit dem Politischen erschloss. Aber seine Diplomatie mit dem Fraktionsvorsitzenden feierte er innerlich als einen Etappensieg seiner politischen Karriere. Möge er auch noch so weit hinten auf den Bänken des Deutschen Bundestages sitzen, so hebe ihn aus der großen Schar seiner Kolleginnen und Kollegen doch eine persönliche Stellung zum Machtzentrum der Fraktion hervor. Er war sich sicher, dass es für diese Konstellation auch eine Entsprechung im Gang der Sterne geben würde. Sein Lilith-Problem war ja durch Jupiter zugedeckt. So verstand er seine Wahrsagerin jetzt jedenfalls.

Unverstanden in einem verlierenden Land

Am 4. April flog M am Nachmittag von Frankfurt aus nach Athen. Die Reiseunterlagen hatte ihm Schatz liebevoll mit kurzen Kommentaren und Orientierungen zusammengestellt. Nach einer trübfeuchten Frühlingszeit war endlich wärmende Sonne zu verzeichnen, und der Wetterbericht versprach gutes Wetter für die Griechenlandreise. M fuhr nicht zum ersten Mal in dieses Land. In seinen jungen Jahren war er häufig auf den Inseln der Ägäis gewesen. Er liebte das helle Licht, das tiefblaue Meer, die schroffen Gebirge und die offene, gastfreundliche Art der Menschen, das leichte Leben mit Sonne, Wein und den vielen angenehmen Abwechslungen für das Gemüt.

Die Woche vor seiner Griechenlandreise hatte er in seinem Wahlkreis verbracht. Zu Hause fand er viel Zeit, sich über die finanzpolitischen Entwicklungen des kleinen Landes im Südosten Europas sachkundig zu machen. Von der Wirtschaft verstand er nicht allzu viel und ließ sich die anbahnende Katastrophe von seinem Freund erklären, der Direktor in der örtlichen Kreissparkasse war. Der neuen Syriza-Regierung misstraute M abgrundtief. Wie konnten die Griechen nur so verbohrte Ideologen wählen? Mit dem griechischen Finanzminister wäre er gerne mal zusammengetroffen, um ihm ins Gesicht zu sagen, dass er eine politisch unmögliche und provozierende Figur abgebe. M hatte sich vorgenommen, in Athen kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Seine Reise sei zwar eine private Angelegenheit, aber als Privatperson fahre er dennoch in diplomatischer Mission. In dieser Rolle fühlte er sich auch gestärkt durch die politische Aufwertung, die er glaubte, durch seinen Fraktionsvorsitzenden erfahren zu haben.

In seiner Heimat fühlte er sich wohl. Wie immer genoss er Aufmerksamkeit und Achtung. Irritationen über die steigenden Flüchtlingszahlen wusste er mit markigen Sprüchen zu besänftigen. In Berlin werde man es nicht zulassen, dass Italien oder Griechenland die dort gestrandeten Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan oder aus afrikanischen Ländern einfach nach Deutschland weiterschicken können. „Das verbieten unsere europäischen Verträge“, antwortete er dann kurz. Es gab eine dichte Folge an Besprechungen in seinem Wahlkreisbüro und Termine, zu denen er sich mit seinen Getreuen verabredete. Stets verwies er in seinen Gesprächen darauf, wie leid es ihm tue, so wenig Zeit vor Ort verbringen zu können, denn er wisse sehr genau, dass es die Probleme in seinem Wahlkreis seien, die seine Arbeit in Berlin so notwendig machen. Aber er vergaß auch nie darauf hinzuweisen, wie hart die Arbeit im Deutschen Bundestag sei. Um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, erfolgreicher Botschafter des Wahlkreises im deutschen Parlament zu sein, müsse er sich so einbringen, dass auf ihn gehört werde, wenn er sich für die ortsnahen Projekte stark mache. „Und“, so pflegte er dann zu sagen, „Sie können sicher sein, dass auf mich zunehmend gehört wird.“ Dann dachte er an sein großes Projekt, die Hochbrücke über den Fluss.

Schwierigkeiten bereitete im Augenblick ein altes Problem, zwei lästige Ortsdurchfahrten in seinem Wahlkreis durch großzügige Umgehungsstraßen zu entlasten. Das waren Forderungen, die seit vielen Jahren gestellt wurden, und die er sich mit seiner Wahl in den Deutschen Bundestag voll zu eigen gemacht hatte. Nur wenige Tage vor seiner Fahrt aus Berlin in den Wahlkreis war die Entscheidung gefallen, diese Forderungen nicht in die aktuelle Verkehrswegeplanung einfließen zu lassen. Diese Entscheidung des Ministers schmerzte M bis in die Knochen. Er musste sich deswegen zu Hause sehr emotionale Reaktionen anhören, zumal er keine zwingende Erklärung beisteuern konnte, wie es zu der Entscheidung im Ministerium gekommen sei. Seine Hinweise, alle Politiker seien angehalten, dem Ziel des Finanzministers zuzuarbeiten, einen schuldenfreien Haushalt zu erreichen, überzeugten nur wenige. M gab aber zu erkennen, alles zu tun, damit die Projekte eine höhere Priorität auf der zeitlich folgenden Liste finden würden. „Wenn wir unsere überzeugenden Argumente noch beharrlicher vertreten, sehe ich die Chance, dass wir in absehbarer Zeit doch noch zum Zug kommen“, besänftigte er die örtlichen Politiker und machte ihnen klar, dass er vertrauenswürdig sei. Er habe bereits den Fraktionsvorsitzenden auf seine Seite gezogen und der Verkehrsminister stehe ihm ja auch politisch nahe. Das notwenige Netz werde also jetzt schon immer enger geknüpft. Er werde das Ziel erreichen.

M entging nicht, dass seine örtlichen Gesprächspartner, ganz besonders die in seinem Wahlkampfbüro, seine lange Abwesenheit in Berlin nur eingeschränkt verstehen konnten. Früher war er öfter und vor allem regelmäßiger in seinem Wahlkreis gewesen. Stets hatte M betont: „Mein Zuhause ist unsere Region.“ Nun auf einmal baute sich Distanz zwischen ihm und den Seinen auf. Er hatte sich die Gebärden eines Staatsmannes angewöhnt, wenn er über die großen Aufgaben in Berlin redete, denen er sich stellen müsse. Er verwies gerne auf ein besonderes Vertrauensverhältnis mit führenden Politikern in Berlin und ließ seine Gesprächspartner in dem Glauben, dass seine Partei noch Großes mit ihm vorhabe. Er spürte die Distanz zu ihm nahestehenden Menschen im Wahlkreis und hielt sie für ein Ergebnis seiner wachsenden politischen Bedeutung im fernen Berlin. Er war nicht unglücklich darüber, dass die alten Kumpaneien einem Verhalten wichen, das er für seine Rolle als angemessen betrachtete.

In diesen Tagen seiner Anwesenheit im Wahlkreis redete er auch ausführlich über seine bevorstehende Griechenlandreise. Er mache diese auf eigene Faust, sei nicht Teil einer Delegation und bezahle sie deshalb auch aus der eigenen Tasche. Dieser Hinweis schien ihm immer dann besonders wichtig, wenn er annehmen konnte, dass auch Vertreter der örtlichen Presse – eine inzwischen sehr klein gewordene Gruppe von Journalisten – daran interessiert waren, was ihr Bundestagsabgeordneter gerade mache. Aber M vermied das Wort Privatreise. Stattdessen sprach er von einer politischen Mission, an der vor allem auch der Fraktionsvorsitzende ein großes Interesse gezeigt habe. Tatsächlich hatte dieser in ihrem letzten gemeinsamen Gespräch gesagt: „Mein Freund, ich finde es sehr gut, dass Sie auf eigene Faust in dieses Land fahren, das uns bis zur Unerträglichkeit auf der Nase herumtanzt. Halten Sie die Augen offen, reden Sie mit vielen und stellen Sie sich vor, mit denen Geschäfte und Verträge machen zu müssen.“

M nahm sich während seines Zwischenaufenthaltes zu Hause viel Zeit, um in den Informationsfluten über die Griechenlandkrise einen Überblick zu gewinnen. Einfache Grundhaltungen halfen ihm dabei. Die neue Syriza-Regierung war ihm zutiefst zuwider. Den Ministerpräsidenten, der stets so überlegen lächelte, nannte er gerne einen „falschen Fuffziger“. Im Gespräch sagte M zur Zufriedenheit seiner Gesprächspartner: „Wir dachten, mit Kommunisten nie mehr verhandeln zu müssen. Jetzt sitzen die uns schon wieder gegenüber.“ Den griechischen Finanzminister mit seinem unmöglichen Auftreten und den intellektuellen Phrasen bezeichnete er als „Saloncroupier“ und wollte damit seinen Abscheu zum Ausdruck bringen, wie der den anderen Europäern das Geld aus der Tasche zockte. Da verwies M gerne auf den deutschen Finanzminister und lächelte entspannt, wenn er die hohe Achtung seiner Gesprächspartner entgegennahm. „Einen besseren Finanzminister können wir uns gar nicht vorstellen.“ So schloss er meistens diesen Teil der Erörterungen ab. Mit der Rückendeckung der noch immer ungebrochenen Autorität der Bundeskanzlerin und des Finanzministers in seiner Wahlkreisbevölkerung achtete er darauf, Grundsätze seiner Regierung unverändert klar zu vertreten: „Griechenland gehört zum Euro und es gibt kein Europa ohne Griechenland.“

In seinem Wahlkampfbüro gab es viel Arbeit. Zunehmend kamen auch Hinweise aus der Verwaltung, dass immer mehr Asylanträge eingingen und mit ihnen Flüchtlinge, die man nicht unterzubringen wusste. M legte Wert darauf, sich im Wahlkampfbüro auf die großen Linien der Eurokrise zu konzentrieren und keinen „Blumenstrauß aller politischen Wehwehchen zu binden“, wie er sich in diesen Tagen noch einmal ausdrückte. Er wünschte sich mit seinen Büros eine starke und handlungsfähige Sammelstelle für die Auswertung der ständigen politischen Manöver in diesem Konflikt. Formal hatte er die Leitung für diese Sammelstelle an Madame übertragen, mit der er täglich einmal telefonierte. Wie immer bemühte sich Madame um eine distanzierte Betrachtungsweise der Vorgänge und der Veröffentlichungen über die „Griechenlandpolitik“, wie er die aktuellen Aufgaben seiner Mission im Wahlkreis nannte. Die beiden Mitarbeiterinnen im heimischen Wahlkampfbüro kooperierten gut mit ihrer Kollegin in Berlin, neigten allerdings zu einer deftigeren Bewertung der Dinge und nutzten gerne die Sprache, die sich in den öffentlichen Verlautbarungen zunehmend Bahn brach. M verhielt sich gegenüber den beiden Büros wie ein vorsichtiger Diplomat. In dieser Rolle zu üben, konnte für ihn längerfristig nur von Vorteil sein. Er hatte beschlossen, sich in der Griechenlandfrage an die Sichtweise zweier Leitmedien zu halten, die ihm ziemlich genau deutlich machten, wie seine Übersicht beschaffen sein sollte, mit der er seine Reise antreten würde. Er bewunderte die täglichen Leistungen des ARD-Korrespondenten in Brüssel und las jeden Tag mit hoher Zustimmung die begleitenden Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Madame hatte noch eine weitere Aufgabe, die sie in kurzer Zeit zu seiner vollen Zufriedenheit löste. Sie sollte ihm ein Dossier über seinen Gesprächspartner, den griechischen Regierungssprecher zusammenstellen. Kaum 35 Jahre alt, hatte der eine steile Karriere gemacht. Noch ein Jahr vorher war er im Kampf um das Amt des Oberbürgermeisters von Athen unterlegen gewesen. Da hatte er sich vor allem für weniger Polizei und mehr Freiräume für Lebensstile eingesetzt, die eine moderne europäische Großstadt prägen sollen. Dem gelernten Ökonomen wurden große rhetorische Fähigkeiten nachgesagt, mit denen er dann sein Mandat bei den letzten Nationalwahlen im Januar 2015 bravourös gewonnen hatte. Der neue Syriza Ministerpräsident Alexis Tsipras machte ihn unverzüglich zum Regierungssprecher. M war klar, dass er es mit einem schweren Gegner zu tun haben würde. Er nahm sich fest vor, sehr ruhig zuzuhören, um dann mit klaren Worten deutlich zu machen, an welchen Grenzen die neue griechische Politik scheitern müsse. In seine Kladde notierte er sich die wesentlichen Informationen und Bewertungen, die seine politische Rolle in Athen begründen sollten. Dabei griff er auf die Vorlagen des ARD-Korrespondenten und der FAZ zurück, die im Wesentlichen auch das zum Ausdruck brachten, was in seiner Fraktion, vor allem vom Fraktionsvorsitzenden, vorgetragen wurde.

Ohne Verspätung landete M im warmen Licht des späten Nachmittags auf dem Flugplatz in Athen. Der neue Flughafen Eleftherios Venizelos liegt am Rande der Stadt, die durch nahe Hügel abgeschirmt bleibt. Er war noch in den 90er Jahren geplant worden und wurde das größte Investitionsprojekt der jüngeren griechischen Geschichte. Die Federführung des Baukonsortiums lag bei dem deutschen Konzern Hochtief. Die Bauarbeiten verliefen zügig, schon 2001 konnte die Anlage in Betrieb gehen. Geräuschlos und effektiv abgewickelte Großprojekte imponieren M. Da können Deutsche nur staunen, die das Debakel mit dem Berliner Flughafen nun schon bald fünf Jahre nach der geplanten Eröffnung mit Spott und Hohn ertragen müssen. Die Größenordnungen beider Flughäfen sind annähernd gleich, entnimmt M den Informationen, die ihm Madame zusammengestellt hatte.

Gut zwei Milliarden Euro waren in den Bau geflossen, nur etwa die Hälfte seines Berliner Bruders. Der Staat hatte sich mit privaten Investoren zusammengetan, um die Finanzierung stemmen zu können. Die Kredite waren leicht zu erhalten und sollten dann aus den laufenden Einnahmen refinanziert werden. Am Flughafen ist Griechenland nicht pleitegegangen, das wusste M. Er würde den griechischen Politikern nie ihren neuen Flughafen vorwerfen. Viel teurer hingegen waren die mit dem Flughafen verbundenen und für die Olympischen Spiele in Athen 2004 fertig umgesetzten Investitionen in den Nahverkehr. Damals begannen die gigantischen Verschuldungen Griechenlands. Allein die Autobahn A6, die „Attiki Odos“ vom Flughafen in nördlicher Stadtumgehung an den Golf von Korinth führend und dann über den Peloponnes bis nach Kalamata gezogen, verschlang 3,6 Mrd. Euro. Etwa ebenso viel ihre Zubringerstrecken in die Athener Innenstadt. Dazu der Ausbau der U-Bahn zum Flughafen sowie weitere Verkehrsprojekte – Gesamtinvestitionen rund 10 Milliarden Euro, wie in Ms Unterlagen stand. Sie waren in den laufenden Etats des Staates nicht enthalten, hätten also nicht getätigt werden dürfen. Doch die Kreditgeber, allen voran die aus Deutschland und Frankreich, standen Schlange und liehen gerne – blieb doch alles in Europa.

Für seine Gespräche in Griechenland hatte sich M in seiner Kladde einige handfeste Argumente und Zahlen aufgeschrieben. Er war überzeugt, dass in jenen Jahren das eigentliche Elend der Überschuldung begonnen hatte. Am 1. Januar 2002 war Griechenland Euroland geworden – erschlichen durch die Vorlage falscher finanzieller Voraussetzungen, wie es in der Kladde von M hieß. Griechenland erlebte die Jahre als boomendes Aufstiegsland im dauernden emotionalen Glückstaumel. Die Kredite flossen und die Kreditgeber drängten das Geld den Griechen förmlich auf. Feuerwerke gehörten zur nationalen Eventkultur jener Jahre. Zuerst gewannen die Griechen 2004 die Fußball-Europameisterschaft. Dann durchströmte der Olympiaglanz das Land. Wer wollte da kleinlich rechnen? Man baute sich Häuser und Villen auf Kredit, pflanzte ein paar Olivenbäume und Weinstöcke in die Gärten und kassierte Steuerermäßigung und staatliche Zuschüsse als landwirtschaftliche Betriebe. Gäste kamen so viele wie noch nie, und die meisten Menschen waren mit der neuen Zeit in Europa sehr zufrieden.

M wird in zwei Tagen über das Olympiagelände im Stadtteil Marousi gehen. Der Park ist riesig groß und verwahrlost. Nur wenige Menschen verirren sich auf das Olympiagelände an einem sonnigen warmen Frühlingstag. Jetzt, da die Farbenpracht der Wiesen und Bäume in Griechenland verführerisch gegen den strahlenden blauen Himmel leuchtet, sieht M die längst verdorrten Bäume, sieht die verfallenden und versiegten Fontänen, die ausgetrockneten braunen Rasenflächen in dem weitläufigen Gelände. Kein Imbiss weit und breit, kein Kaffenion. Staub und ungemütlicher Wind macht das Gehen zur Qual. Im Schwimmstadion steht noch der Zehnmeterspringturm. Im Becken ist kein Wasser. Über 10.000 Sportlerinnen und Sportler aus 200 Ländern waren hier in einem farbenfrohen Sommer, 30.000 Journalisten berichteten in alle Welt, hunderttausende Besucher belebten den Park, über 6 Millionen Tickets wurden verkauft. Elf Jahre später nagt der Rost an der kühnen Dachkonstruktion des Stadions, das der Stararchitekt Santiago Calatrava aus Spanien entworfen hatte.

Der Bahnhof der Athener Vorortbahn am Olympiastadion heißt Irini, was Frieden bedeutet. Die Bahn verbindet den Olympiapark mit dem Küstenort Faliron, wo früher der alte Flughafen lag, eine einst blühende Stadtlandschaft auf dem Weg von Piräus ans Kap Sunion. M wird mit der Bahn diese Strecke fahren und in knapp einer halben Stunde das zweite Ballungsgebiet der Olympiade erreichen.

Faliron wird noch öder und herunter gekommener sein, als er es in Marousi empfinden musste. Trostlose Brachen, soweit das Auge reicht. Den Griechen war versprochen worden, hier würden die Spiele für alle Zeiten herrliche, ökologisch geprägte Parks, Schwimmbäder und Freizeiteinrichtungen hinterlassen. Nichts haben sie hinterlassen als einen Küstenabschnitt, der trostloser in einem verlassenen Teil des Flugfeldes nicht sein kann. Flüchtlinge und aus der griechischen Gesellschaft Gefallene sind die neuen Olympioniken.

Dieses zweite Olympiagebiet ist die Müllkippe Athens geworden. M wird hier die Menschen sehen, die ungeordnet wie in Slums zu überleben versuchen, Flüchtlinge aus Syrien und Roma aus Balkanländern. Die Athener nennen das Gebiet die Sahara. 25 Hektar völlig heruntergekommenes Stadtgebiet, wie es M noch nie in seinem Leben in Europa gesehen hat – und das an einem der schönsten und kostbarsten Küsten des Kontinents. M neigt dazu, diese Olympiahinterlassenschaften als Symbol der Unfähigkeiten des griechischen Staates zu bewerten. In seinen Gesprächen wird es viel Streit um diese Bewertung geben.

Der Verfall der Olympiastätten wird für M der eindrucksvollste Anschauungsunterricht für die Schuldenkatastrophe des Landes sein. Das hat sich M in seine Kladde notiert und für die Besichtigung dieser Stätten einen ganzen Tag seiner Griechenlandreise geopfert. Dazu hat er sich Zahlen notiert. Offiziell sollen die Olympischen Spiele 4,6 Milliarden Euro gekostet haben. Aber diese Zahl ist frisiert wie auch die Zahlen frisiert waren, mit denen Griechenland Unterschlupf in der Eingangshalle zum Euro gefunden hatte. Andere Rechnungen kommen zu viel höheren Zahlen. Die Spiele sollen mindestens 11 Milliarden Schulden gekostet haben, es können aber auch 20 Milliarden gewesen sein. Damals, 2004, stieg die Staatsverschuldung in dem kleinen Land mit elf Millionen Einwohnern von 182 auf 201 Milliarden Euro. So schnell kann das gehen. Doch wirtschaftliche Entwicklungen, die zur Minderung dieses Berges hätten führen können, blieben aus. Woher hätten die auch kommen sollen? 2008 erschütterte die weltweite Finanzkrise auch dieses Land. Für M steht fest: Die Krise ist die Folge einer falschen Ausgabenpolitik. Also sind alle Auflagen richtig, die bei den Ausgaben ansetzen. Und – so notiert sich M in seine Kladde: „Nicht weich werden, wenn die Griechen nun Europa, vor allem Deutschland, die Schuld für die katastrophale Lage zuschieben wollen.“

Als M mit seinem Gepäck in die Ausgangshalle kam, sah er bereits das Schild „Tobias“ von einem etwa 35-jährigen, nicht sehr großen Mann in die Höhe gehalten. Er fand einen freundlichen, gut organisierten, sachkundigen und auf Anhieb sympathischen Begleiter. M war froh, sich nicht auf eigene Faust in der neuen Umgebung zurechtfinden zu müssen. Tobias hatte einen kleinen Korb mitgebracht, in dem Oliven, Apfelsinen und Wasser waren. Er reichte den Korb mit netten Worten an M und nahm dessen Trolley mit einem herzerfrischenden „Willkommen in Griechenland“. Genau zehn Jahre war es her, dass M zum letzten Mal griechischen Boden betreten hatte. Davor war er mehrere Male in dem herrlichen Sonnenland mit den bezaubernden Inseln gewesen. Damals hätte er sich nicht erträumen können, dass es in diesem Land zu derartigen Verwerfungen kommen würde. Aber er drängte die aufkommenden Selbstzweifel beiseite, damals irgendetwas nicht richtig wahrgenommen zu haben, waren seine Reisen doch gerade in die Zeit gefallen, die er aus heutiger Sicht als den universalen Sündenfall des Landes anprangern musste. Im Flughafengebäude war ihm aufgefallen, dass trotz aller Modernität die Farbe Grau vorherrschte. Das Leben, der Betrieb, der Wohlstand im Frankfurter Flughafen, den er gerade erst vor zwei Stunden verlassen hatte, waren aus einer anderen Welt.

Tobias hatte seinen PKW, einen alten Focus-Diesel, nahe am Ausgang postiert. Der weite Parkplatz war nur spärlich besetzt, ungewöhnlich für Parkplätze so nahe an dem Flughafengebäude. Tobias war eifrig um seinen Gast bemüht und erzählte ihm, wie es jetzt zur Unterbringung weitergehen würde. Über die Autobahn würden sie bis in den Bezirk Glyka Nera fahren, um dann über die Straße ins Zentrum zu kommen. M wohne in dem renommierten Electra Palace Hotel Athena, das nahe am Syntagma-Platz am Rande der Plaka liege. Bis dahin seien es 32 Kilometer. Noch bevor sie in das Auto eingestiegen waren, hatten sie sich verständigt, sich während der Reisezeit zu duzen. Unkompliziert und natürlich, wie Tobias war, fühlte sich M in seiner Gesellschaft sehr wohl. Im Auto nahm er sich die Krawatte ab.

Sie fuhren zunächst über die A6, eine wunderschön anzusehende Autobahn mit Blumenrabatten auf dem Mittelstreifen und hellen Randsteinen an den Seiten. Wo gab es in Deutschland eine so die Augen einladende Autobahn, fragte sich M? Für die Stadtautobahn müssen sie Maut bezahlen. Im späten Sonnenlicht fahren sie im alten Auto wie auf einer Spazierfahrt über das Land. Es gibt fast keinen Verkehr. Schon bald ziehen die ersten Häuser an ihnen vorbei. Die Stadt begrüßt M mit einer heiteren Eleganz, die ungebrochene, hellenische Lebenslust ausstrahlt. Er sieht zunächst nur die Gebäude. Straßen huschen an ihm vorbei, ziemlich leer, meistens ohne Bäume, aber nicht sonderlich verarmt, schon gar nicht Zeugnisse eines Landes am Rande einer Katastrophe. Seine Augen fühlen sich wohl, die warme Luft tut so gut. Aber er hat sich vorgenommen, immer wieder klarzumachen, dass es keine weiteren Hilfsgelder geben dürfe, dass mit seinem Land nicht bedingungslos über Hilfe zu verhandeln sei. Griechenland, so sein Mantra, habe es versäumt, die verabredeten Reformen umzusetzen. Es erhalte bereits jetzt schon viel zu viel Geld ohne Gegenleistungen. Das will er immer wieder monieren. Als Politiker muss er anders argumentieren, als er als Mensch fühlt.

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