Kitabı oku: «Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5», sayfa 4
Exkurs auf den Onkelkomplex
Kann eine Gesellschaft souveräner sein als sich ihre Menschen verhalten? Kann sie es (in Bedarfsfällen) werden, wenn sie sich von Unbedarften verkabeln läßt?
Kommen diese beiden Bedeutungen von Souveränität, als Unverfügbarkeit von Menschen für Zwecke, die ihren Interessen zuwider sind, und ihres Landes für ein anderes Land, das eventuell solche Zwecke verfolgt, in der jetzigen Lage der Bundesrepublik durch bloßen Zufall miteinander zur Deckung oder eine Einheit des Begriffs, die vergessen war, plötzlich zum Vorschein? Auffällig fügen Themen in diesen Fragen von selbst sich zusammen, die eine leitzordnerhafte Betrachtungsweise in der Regel in Deutschland getrennt anfaßt; lieber noch, da es heiße Eisen sind, gar nicht. So sich selbst überlassen, werden sie dann manchmal noch heißer. Einsehbar (wir können im Bild bleiben) ist das ihren Verschmelzungen förderlich.
In einem Zug hat das Raketen-Schisma eine solche Themenfusion an ihr Ziel und ans Licht gebracht. Wenn Souveränität nicht sogar in Deutschland, im Unterschied zu ihm selber, unteilbar wäre, woher rührte die Symmetrie eines Mangels an ihr, der in seinen beiden Erscheinungen chronisch ist? Da nur vorwärtsverteidigende Camouflage die Kalamität auf beiden Seiten verdecken kann, ist Symmetrie noch im Hohlklang der Fiktionen, die man für beide Seiten herbeibeschwor: für die Republik, da sie immer mit beim Gipfel ist, wenn die Großen Sieben des Westens sich qua Wirtschaftsgiganten wieder einmal zusammenfinden, daß sie auch in Ernstfällen, wenn es um ihre Existenz geht, wenigstens werde mitreden dürfen; für ihr Volk, daß es souverän genug sei, an seinem Grundgesetz sogar die Rechtsgarantien in den vierunddreißig Jahren in Kraft gesetzt zu haben, die es für diese Aufgabe hatte.
Das Neue, abermals Symmetrische ist, daß beide Camouflagen durchgescheuert sind und sich das zur gleichen Zeit zeigt. Aber die Einsicht, zu deren Verbreitung das dienen mag: daß der Mangel nicht auf einer seiner Seiten behoben und auf der andern verschont werden könnte, hat umso einschneidender zur Bedingung, daß auf ihn selbst volles Licht fällt: er als Rechtlosigkeit bundesdeutscher Bürger in Ernstfällen, alias Verfassungsverrat, nicht weniger evident wird als es die selbstverräterische Rechtlosigkeit ihrer Republik ist: dito im Ernstfall.
Vorgezogen wird diesem jetzt der Ausdruck Verteidigungsfall. Wie sähe der eigentlich aus, ist ein Sprachgebrauch von solcher Geläufigkeit, wenn sie in der Vorstellung der Menschen gerade diese Umstände verwischt, nicht schon Twospeak?
Wäre Twospeak seinem Idealtypus nach überhaupt vielleicht ein deutsches Idiom? Je näher, inzwischen ist es da, 1984 rückte, umso konsternierender festigte sich die Gewißheit, daß George Orwells Prophetie vor der Nase ihres Publikums in Erfüllung geht, das doch keineswegs klein war. Modell stand Stalins Rußland, inzwischen eher wieder ein Polizeistaat nach altrussischem Muster, als daß die Aggression permanenten Seelenterrors ihn kennzeichnete: daß die Prämisse der Orwell-Welt, die Verinnerlichung der Lüge auf seiten der gegängelten Menschen, immer weniger im Ostblock erfüllt ist, hat sich an Polen gezeigt. Als Herrschaftsform setzt Twospeak voraus, daß es mit der Verinnerlichung klappt, und da das nur unter der Vorbedingung einer funktionierenden Selbstzensur möglich ist: wo in der Welt funktionierte die verläßlicher als bei uns? Bis ins Physiognomische Bonner Sprüche hinein läßt der Sprachgestus des Twospeak völlig unverfroren sich inzwischen vernehmen: etwa wenn der Bundesminister des Innern, mit argumentloser Indifferenz gegen die entgegenstehenden Begründungen Martin Luther Kings, dessen Andenken ja auch von Bonn honoriert wird, »Gewaltloser Widerstand ist Gewalt« sagt46, merkt man offenbar nicht, daß das glatt schon aus ›1984‹ zitiert sein könnte: sitzt die Bundesrepublik auf den Ohren?
Sie tut es, und das mehrt die Wahrscheinlichkeit, daß Twospeak ein deutsches Idiom sei. Umso irriger wäre der Schluß, daß nun auch der Große Bruder dem deutschen Bewußtsein stets vorschwebe; das tut er nicht. Anders als Orwells Heimat hat Deutschland diese Figur in der Leibhaftigkeit des Führers erfahren, dann die Erfahrung verdrängt, daher kann einer, den es definiert, daß er den Augen des Publikums so entzogen bleibt wie dessen Ohren stets nahe, nicht als Projektionsfigur für die Angst in Betracht kommen, der diese Verdrängung gelang. Desto sicherer muß, wo ein Großer Bruder so verwüstend und so sichtbar dabei schon gewirkt hat, auch ein Vater aber längst unglaubwürdig, da entweder zu diskreditiert ist oder in zu verhangener Ferne weilt, die ganze Familie in Sicht kommen: schließlich gibt es auch noch andere, psychohistorisch weniger verbrauchte Verwandtschaftsgrade. Als inkarniertes Sowohl-als-auch steht zwischen Vater und Bruder der Vaterbruder, und seine genealogische Ausgewogenheit kann uns begreifen lehren, daß in den Projektionen des deutschen Unbewußten der Große Bruder in einen Onkel verwandelt ist: wo und so lange er waltet, ist man für sich selbst nur so beschränkt verantwortlich wie es der Landesgeschichte entgegenkommt.
Denn das tradierte deutsche Interesse ist nicht etwa eines am Leben, sondern daß es mit dem Tod seine Ordnung habe; daher werden für die Nachbarwelt deutsche Ordnungen selbst so leicht tödlich, daß nur ihr eigener früher Tod das Problem bisher zu lösen vermocht hat. Noch das menschlich Nächste, den eigenen Lebenswillen, hat man als Traditionsträger des historischen Landsknechts so restlos an des Oheims Führungsmacht delegiert, wie es die Schlachtschweingeschichte aus dem hessischen Hattenbach aus Versehen 1981 ans Licht brachte47. In dieser Gemeinde nahe der Grenze zur DDR erfährt eine Lehrerin von einem Film des amerikanischen Militärs, der realistisch den Eventualfall eines Atomkriegs in Mitteleuropa behandelt: das um Hattenbach zentrierte Geschehen läßt von diesem selbst und seinen Bewohnern nichts übrig. Diese wackere Lehrerin bringt es zuwege, daß der Film nach Hattenbach kommt, prospektiven Opfern gezeigt wird, gegen den Widerstand des Bürgermeisters, von dem der Ausspruch in der Presse gemeldet wird, auch einem Schwein werde vorher nicht mitgeteilt, daß man es schlachten wolle. Der Vergleich von Menschen mit Schweinen, wie immer seine Schnödigkeit uns empören mag, ist dennoch in dieser Äußerung eines deutschen Bürgermeisters nicht das am tiefsten Erstaunliche. Vielmehr besteht dieses darin, daß der Bürgermeister selbst in der Rolle des von ihm beschworenen armen Schweins ist und das offenbar gar nicht merkt.
Der Onkelkomplex ist damit eingeführt. Da die Psychoanalyse ihn noch nicht kennt: ist es nicht Zeit, daß sie diesen Terminus aufgreift, der zwar mutmaßlich für die Individualtherapie weiterhin keine erhebliche Rolle spielt, für jede Ausweitung des psychoanalytischen Focus aber – auf die Lebensgeschichte einer ganzen politischen Kultur oder auch Unkultur, wie sie ohnehin dieser Forschungsrichtung ins Haus steht – eine offenbar umso drastischere? Ein Onkel, obendrein ein siegreicher, was einem angestammten Respekt vor der Macht des Faktischen wie der Faktizität der Macht von allem Anfang entgegenkam, konnte, ja mußte einspringen, wo es nichts mehr war mit den beiden andern, was den Deutschen im westlichen Landesteil damals Halt versprach, aber die Perversion der totalen Selbstentmündigung, die auch daraus inzwischen wieder – nach dem Hattenbacher Aufschluß – geworden ist, legt die deutsche Wirklichkeit einer Pathologie nahe, die der traditionelleren ödipalen, die viel verwickelter ist, dennoch an Schwere nicht nachsteht, denn wie könnte deren Kriterium nicht die Realitätsverkennung sein, die der Fall involviert? Daß die Nato-Verträge auf Kriegsfälle in Europa beschränkt sind, macht das Sicherheitsgefühl täuschender, das ein schirmender Onkel, keineswegs muß das seine eigene Absicht sein, ausströmt: wenn es irgendwo im fernsten Asien zwischen Amerikanern und Russen zum Krieg kommt, spielt diese Ursache, die die Bundesrepublik gar nicht tangiert, keine Rolle mehr, der Verteidigungsfall ist dann da, automatisch, und die Schutzmacht allein kann über den Einsatz ihrer Raketen verfügen, die Moskau und Leningrad in Minuten auslöschen können; was den Russen bekannt ist.
Nicht stünde es in ihrer Macht, die Bundesrepublik als politische Einheit von der willenlos einer fremden Macht verfügbaren Angriffsrampe praktisch zu unterscheiden, mit der ihr Gebiet im Begriff ist, identisch zu werden. Zum ersten Mal kann das deutsche Volk damit anläßlich eines Konfliktes aus der Geschichte verschwinden, an dem es gar nicht beteiligt war.
Was eine solche Beunruhigung steigern muß, ist die selbstzerstörerische Wut, mit der die Bundesrepublik sich in Fiktionen verbeißt, die außer ihr selbst niemand ernstnimmt. Mit der Hallstein-Doktrin48 fing das an, mit Grund redet von ihr, die einen Rechtsanspruch proklamiert hatte, kein Mensch mehr, aber wurde er widerrufen, und gibt es darüber auch nur die Spur einer öffentlich klärenden Rechenschaft, geschweige eine, die in Proportion zu der Emphase stünde, mit der der Anspruch verkündet war? Wo diese Diskontinuität des Bewußtseins, strukturell dessen einziges Kontinuierliches, sich mit Geschichtsunbildung paart, zur Gedächtnisschwäche auch noch für Fakten wird (für die es doch äußerstenfalls auch Archive gibt), werden erst die Argumente von stolzester Selbstsicherheit möglich, die man in Bonn für einen Sonderstatus des Verhältnisses zur DDR ins Gefecht führt49. Sie darf keinen Staatsangehörigen haben, weil dieser damit in der Bundesrepublik seines Bürgerrechts als Deutscher verlustig wäre, und der Verkehr mit ihr darf sich über Diplomaten im normalen Sinn des Begriffs nicht vollziehen. Beides ist schlichter Nonsens. Die deutsche Staatsangehörigkeit ergab sich noch im Kaiserreich selbst erst aus derjenigen zu einem von den einzelnen Bundesstaaten, ohne daß das außerhalb des jeweiligen eigenen zu irgendeiner Verkürzung von Rechten führte, ergo bedürfte es bloß der Phantasieleistung eines einfachen Bonner Gesetzes, DDR-Angehörigen, die es dann gäbe, ihr Bürgerrecht auch in der Bundesrepublik zu gewährleisten. Gleich grotesk ist die offizielle Begründung der angeblichen diplomatischen Schwierigkeit. Ebenfalls im Deutschen Reich gab es noch einen normalen bayerischen Gesandten in Berlin und einen Preußens in München. Die Einheit des Reiches gefährdete das nicht im geringsten, erst recht also gefährdete ein Pendant dazu jetzt nicht einmal dessen gespenstisches Fortbestehen nach dem bekannten Spruch aus Karlsruhe50.
Mit dessen Erwähnung kann unser Blick in das Absurditätenkabinett bundesdeutscher Rechtspositionen geschlossen werden. Umso fälliger bleibt einer in eine andere, verheimlichte Rumpelkammer, in die die Unsouveränität der Gesellschaft so die Grundfreiheiten ihrer eigenen Staatsbürger abschiebt, daß es sie in Ernstfällen rechtlos macht; wie diese Betrachtung vorwegnahm. Der Nachweis kann seinen Ausgang von der Kontroverse zwischen Günter Grass und Martin Kriele nehmen, in der dieser jenem nach einem ›Spiegel‹-Bericht »Perversion des Denkens« vorwarf.51 Grass, der dem Widerstand gegen Instrumente des Völkermords auf deutschem Boden das Wort geredet hatte, verkehre das Widerstandsrecht zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung zu einem Widerstandsrecht gegen sie. Wie meist bei deutschen Kontroversen, lag das Epizentrum dieses Bebens unter dessen unauffälligstem, gar nicht erwogenen Punkt. Die stille Voraussetzung der Position Krieles, sonst ist sie nämlich auch »formaliter« nicht im Recht, ist, daß die verfassungsmäßige Ordnung in Kraft ist; was durchaus zwar auch Sache einer erfolgten allgemeinen Verkündigung ihres Geltens ist, eben dies aber, was denn hieße sonst Kraft, einzig unter der selbstverständlichen Grundbedingung, daß sie dann auch in Wirklichkeit gilt.
Davon kann leider keine Rede sein. Einige Beispiele:
Der Lehrer Thomas Bürger52 bekennt sich nicht bloß zum Grundgesetz als »oberstem Prinzip und Maßstab« aller seiner Handlungen, sondern in tiefer Mißachtung ältester Traditionen der Heimat praktiziert er, wozu er sich bekennt: weigert sich, einem Verfassungsbruch seiner Dienstbehörde Beihilfe zu leisten, die gegen GG-Artikel 3, 3 ihn je nach seiner politischen Überzeugung »bevorzugen oder benachteiligen« möchte, denn wieso sonst würde sie gerade dies von ihm wissen wollen? Ihre reine Vermutung, er gehöre der DKP an, reicht dann zu dem Bescheid aus, ihn demnächst aus dem Beamtendienst zu entlassen; vor dem Hintergrund eines Grundgesetzbruches in Permanenz, wie es mit seinen Verstößen gegen vier Verfassungsartikel unverändert der Radikalenerlaß selbst ist, kommt es bezeichnenderweise auf einen weiteren, der das Prinzip nachzuweisender Schuld betrifft, nicht mehr an.
Wäre das Grundgesetz in Kraft, suspendiert würde wegen verfassungswidrigen Verhaltens die vorgesetzte Behörde, nicht Bürger. Wäre es in Kraft, die Zurückhaltung vom Flick-Untersuchungsausschuß des Bundestages angeforderter Akten und Schwärzung von Stellen in andern durch das Bundesfinanzministerium53 hätte ihm eine Verfassungsklage zugezogen, mittels Berufung auf nachgeordnete Steuergesetzgebung die Kontrollfunktion der Legislative zu sabotieren.
Wäre es in Kraft: das Kontaktsperregesetz54 wäre es nicht, denn es treibt mit Grundrechten Schindluder. Wäre es in Kraft, den Dichter Peter-Paul Zahl hätte keinesfalls ein Urteil ereilt, dessen rechtskräftiges Strafmaß, von ursprünglich vier Jahren auf fünfzehn springend, sich mit unverschämter Ausdrücklichkeit mit seiner politischen Gesinnung begründete; zu welcher Perversion rechtsstaatlichen Denkens, die schon »Weimar« unterminiert hat, kein Kriele krähte.
Aber während damals die Konspiration der Staatsjuristen von Beginn der Republik an, SPD-toleriert, deren Sabotage ins Werk setzte, ist zwar Verfassungswirklichkeit bloß deutsches Twospeak für Verfassungsbruch, der zur Gewohnheit sich einschliff, die Frage aber, die das aufwirft, berührt im ganzen nicht mehr die Republik-Loyalität, wie sie deutsche Staatsjuristen begreifen. Sie reduziert sich auf die simplere, ob Verfassungsrechte überhaupt in einem Lande, dem seine Bürgerrevolution mißglückte, verstanden werden; verstanden werden können, wenn sie nach ihrem zweiten Import in diesem Jahrhundert nicht weniger sang- und klanglos auf der deutschen Strecke bleiben als die Vögel des Waldes.
Vielleicht, wer hätte das gedacht, müssen erst die, was davon noch zu retten ist, jetzt verstanden sein, sollen so höchst exotische Beschwingte aus der westlichen Welt, wo sie authentisch ist, hier noch Chancen haben. Insofern müßte der Weg der Grünen, gerade weil er in jener Art Verständnis seinen Anfang hatte, nicht in ihr enden.
Und wie sollten sie auch, da sei Schily vor, in ihrer Erschließung immer neuer Themenkreise die Leiden des Rechtsstaats verfehlen können? Wie ein kritischer Angriff auf den Seinsordnungsharmonismus, mit dem eine halbfeudale Justiz noch die Welt verfälscht, nicht ihnen helfen, ihre eigenen Ontologiereste, die weder begründbar noch praktisch sind, auszuwachsen, und wie könnte ihre Parlamentarismus-Debatte55 sich auf das Studienmodell einer ziemlich tristen Kopie beschränken, wo die Originale zu prüfen wären?
Ohne selbst noch die Spur eines schlechten Zustands zu tragen, glückt keine Auflehnung gegen ihn; und zumindest gegen den Onkelkomplex, seine NS-Chromosomen und seine tödliche Ordnung scheint als erstes Massenphänomen seit der Republik-Gründung die Friedensbewegung im ganzen so immun, daß sie gegen ihn Chancen hat. Mag auch immer noch, wie jene Ordnung es will, ein Meineidbauer einen Verfassungseid schwören56 und dann zufällig, wie der Tod spielt, ein Asylsucher aus der Türkei aus dem Fenster springen, die Tage des »weinerlichen Schwerenöters«. (Wedekind)57 scheinen gezählt.
An den Gehegen des Megamords, sterbenden Wäldern und Millionen von Arbeitslosen müssen Bekenntnisse abgleiten, die eine gegenläufige Praxis zum Twospeak macht. Breitet die Gegenbewegung sich weiter aus, wird Brechts Wort von 1953, die Regierung müsse nun das Volk auflösen, mit einer Phasenverschiebung von dreißig Jahren auf der westdeutschen Szene akut.
Oder besteht vielleicht ein Zweifel, daß die Bundesregierung, wenn sie auch zu vornehm ist, es zu sagen, längst ein anderes Bundesvolk brauchen könnte als das, das sie hat? Wer weiß, wird es erst so unbrauchbar, daß noch vor Ende des Zweiten Jahrtausends das Gesetz einer verkorksten Geschichte gebrochen wäre, könnte das Dritte (wenn es überhaupt noch kommt) mit der Aussicht rechnen, von deutschen Kindern begrüßt zu werden.
Diese Chance kann abgewürgt werden. Bevor wir zum Schluß kommen, muß mit Nachdruck, aus wahrhaft warnendem Anlaß, an den erwähnten Martin Luther King, seine gewaltfreie Widerstandslehre, erinnert werden: gerade hat der Parteitag der CDU in Hamburg, mit gleichfalls erwähntem Kriele in seiner Kanalarbeit an den Normen der Demokratie völlig einig, gewaltlosen Widerstand in einem demokratischen Rechtsstaat so feierlich für unzulässig erklärt, daß es unheimlichste deutsche Geschichtserinnerungen aufscheucht: was haben die vor? Ist die Republik erst gestürzt, was schon zu Caesars (und Hitlers) Zeit ihre formelle Abschaffung keineswegs vorbedingt, hat nach dem heutigen Stand exekutiver Mittel selbst widerständige Gewalt keine Chance mehr, also muß Widerstand den Anfängen wehren, aus denen sich eine Machtergreifung vollzieht. Die Endphase der Weimarer Republik fiel nicht auf den bekannten 30. Januar, sondern ging ihm voraus; und so deckt der Beschluß der CDU den konsequent vorausplanenden Sinn einer zwölf Jahre alten Klitterung deutscher Geschichte auf, die uns unausweichlich nochmals zu den Umständen des Radikalenerlasses zurückbringt.
Sorgfältig unterschlug die Radikalenlegende, daß es der Staatsapparat selbst war, die konspirierende Generalität der Reichswehr, die Staatsjuristen und die Präsidialspitze, die den Führer der NSDAP an die Macht brachten: samt ihrem Anhang in den privilegierten Gesellschaftskreisen, da waren die führenden Junkerfamilien, die die drohende Aufdeckung des Osthilfeskandals, die Hitler dann untersagte, zu fürchten hatten, und da waren die Wirtschaftsführer, ihre Namen sind so bekannt wie das Datum ihres ausschlaggebenden Treffens zwei Wochen vor Toresschluß, deren Familien, sanktionslos, bis heute ihre Positionen bewahren konnten, und von denen über Jahre jener Partei die Finanzmittel zuströmten, die ihren Aufstieg ermöglicht haben. Einer heutigen Partei, die all das unterschlägt, sind Wiederholungen, wären es nun auch Abwandlungen, ja wäre das dabei Planende ihr nur halbwegs überhaupt selber bewußt, schließlich in aller Nüchternheit zuzutrauen; daß die SPD darauf hereinfiel, als sie jenen Erlaß unterschrieben hat, fügt sich nahtlos nur in die Ahnungslosigkeit, unkritische Indifferenz für deutsche Geschichte ein, einschließlich ihrer eigenen – auffallend sogar zumal ihrer eigenen –, in der sie perseveriert.
Wie alle deutschen Rückstellungen des Geschichtszeigers (schon mit der Bewilligung der Kriegskredite 1914 hat die Sozialdemokratie vor ihnen kapituliert) gerierte sich auch die Radikalenlegende als abendländische Abwehr gegen den Despotismus des Ostens; und daß sie dabei – wie jede ihresgleichen, die es gegeben hat: mit der stillen Ironie eines unfehlbaren dialektischen Kobolds – das Land selber östlicher machte, wird verständlich, bedenken wir, daß die Bestimmung von Geschichtsschreibung als eine in die Vergangenheit gerichtete Politik ein altes russisches Sprichwort ist.
Offenbar sollte in Zukunft sogar die SPD solche Klitterungen, statt in Exekutivfunktionen zu ihnen zu nicken, etwas näher prüfen und ihres umsichtig bereiteten Schwindels sie dann bündig, in größtmöglicher Öffentlichkeit, überführen: es sind keine Spezialistenmaterien. Es sind sorgfältig gelegte Schienenstränge für einen nächstfälligen Schnellzug ins Nichts – und, wer weiß!, vielleicht fährt er schon.
Womöglich läßt er sich ja, wenn sie das nur endlich einsieht, noch stoppen.
Jedenfalls wächst die Wahrscheinlichkeit, daß die nächsten zwanzig Jahre der Einübung des Ungehorsams in Deutschland, die keine Sache der SPD sein kann, mit der prinzipiellen Möglichkeit ihrer endlichen Selbsterkenntnis aber auch die nicht ausschließt, daß sie daran zunehmend teilnimmt, sich durch ungewöhnliches Gelände, ja eins von verwirrender, fremdartigster Phantastik bewegen werden. Zur Orientierung in solchen Gefährnissen, deren Bilderflut schon jetzt etwas Überschwemmendes hat, das beschleunigt sich steigern dürfte, sei darum nochmals an die Hilfsbereitschaft eines hinhörend unterscheidenden Ohrs erinnert, dessen Stunde erst anfängt.
Denn die möglichen Verhängnisse künftiger Politik, denen die Unwiderrufbarkeit des Todes dann innewohnte, zeichnen zunehmend absehbar sich im Verschleimten, Verdinglichten oder Diffamatorischen eines Gebrauches von Sprache vor, der ihrer Durchsetzung zuarbeitet, und als Beanspruchung eben von Sprache kann sich kein solcher vernehmen lassen, ohne daß er sich ihren Eingriffen aussetzt. Sind jene Entscheidungen erst vollzogen, läßt sich in gar nichts mehr eingreifen: ehe der Wiederholungszwang der verpaßten Gelegenheiten, der sich stur durch die deutsche Geschichte zieht, enden kann, endete der Mechanismus je akuter Sprachlosigkeiten, die er quittiert hat.