Kitabı oku: «Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5», sayfa 5
Der fünfzehnte Geburtstag oder
Die Kulturkatastrophe1
Vorgesehen war der Staat von Bonn als Provisorium. Diese Genügsamkeit in seiner Befristung hatte man aus den Erfahrungen mit seinem Amtsvorgänger gelernt. Es war 1949, man lernte noch. Was aber ist ein Provisorium? Auf deutsch, ein Vorgesehenes (a rose is a rose is a rose). Da man so das Vorgesehene vor-, aber nicht einsah, daß man es nicht absehen konnte, sah man davon ab, etwas vorauszusehen, und nach Lehrkräften nicht beizeiten sich um. Darum haben alle Teenager nun das Nach-, nur die Eltern dieses einen kein Einsehen, die Party fällt flach, und die Jubilarin sieht danach aus.
Sie ist das heulende Elend. Aber da sie an Gewicht ständig zunimmt, ahnt ihre Familie nichts von dem Gram, der ihre Seele gerade auf der Waage beschleicht, sondern führt ihre Tränen auf eine Rührung zurück, die sie glaubt, von ihr erwarten zu dürfen, wenn die Familie beim Abendessen sitzt und auch Onkel Hans aus dem Ostland2 nichts sagt. Entweder überwältigt ihn die Vergangenheit oder der Schneider, bei dem er aufarbeiten läßt, hat wieder einmal nicht pünktlich geschickt, wie immer aber dem sei, er ist für die Unterhaltung verloren und kann Schlimmeres nicht verhüten; heute abend ist er vergangenheitslos. Die Jubilarin langweilt sich zu Tode. »Das zunehmende Gewicht unserer Bundesrepublik«, sagen die Eltern und kauen, »wird früher oder später nicht umhin können, sich in der Welt geltend zu machen. Noch etwas Sahnesoße für die Kartoffelbällchen, mein Kind?«, und dann muß sie wieder weinen. Wenn sie aber ihr Grundgesetz zieht, um sich die Tränen zu wischen, sagen sie »Pfui, doch nicht das gute, in Deinem Alter, Du solltest Dich wahrhaftig etwas schämen. Du verdirbst Onkel Samuels schönes Ziertüchelchen«, und verabfolgen ihr einen Notstandsentwurf.
Manchmal fragen sie sich doch, was sie eigentlich haben mag, ob etwa, wie sie selbst, schon einen völlig eigenen Geheimnisbereich, und das stimmt auch, aber es fällt ihr leicht, ihn gegen die Erwachsenen zu behaupten, die ja keine Ahnung haben, das merkt sie, wenn sie ihnen aus freien Stücken einmal etwas erzählt. Viel zu argwöhnisch sind sie, um, wenn sie sie ausfragen, zu bemerken, wie ihr Argwohn sich wie ein Vorhang zwischen sie und die Beargwöhnte senkt, ihre Rede ist ein Versteckspiel, ihre Welt ein ziemlich einheimischer Krimi, sie hören dem Kind gar nicht zu, sie hören es ab. »Wir hören Dich doch nicht ab«, sagen sie, wenn sie es sich schließlich verbittet, »Du undankbares Kind, aber schließlich tragen wir für Deinen Schutz vor Gott allein die Verantwortlichkeit. Wie kannst Du unsere Motive so verdächtigen, wo wir immer nur Dein Bestes gewollt haben, und dieser ganze Negativismus überhaupt, natürlich wissen wir schon, woher Du den hast.« Sie wissen immer schon alles und zeigen das mit Vorliebe, wenn Besuch kommt. Neulich kam ein netter junger Mann aus einem asiatischen Lande, bei Tisch aber saß auch der Botschafter, der die Unmündige in dem Lande vertritt, und der junge Mann sagte zu dem Botschafter: »Vielleicht sollten Sie einmal bei uns eine Klee-Ausstellung veranstalten?« »Ja, glauben Sie«, antwortete der Botschafter, wozu der Vater und die Mutter nur nicken konnten, »daß an einem solchen landwirtschaftlichen Spezialproblem bei Ihnen ausreichendes Interesse besteht?«
Da mußte die Bundesrepublik aber lachen, und sie konnte sich gar nicht beruhigen und lachte so lang und so laut, daß ihre Eltern ganz vergebens »Scht!« machten; denn sie vertragen ihr Lachen so wenig wie sie ihr Weinen verstehen wollen. Selbst Onkel Ludwig, der von der ganzen Gesellschaft immer noch der passabelste ist, schüttelte seinen wichtigsten Finger und sagte nur mehrmals hintereinander »Maßhalten, Bundesrepublik!«3, den Leitspruch, der in Gold auf seinem imposanten Geschenk steht, dem blaugemusterten Halbmeterteller, auf dem ihr die Kartoffelbällchen und die Sahnesoße immer serviert werden. Nach Tisch aber nahm sie den jungen Mann aus Asien beiseite, führte ihn auf ihr Zimmer und zeigte ihm aus ihrer Geheimsammlung, von der die Eltern gar nichts wissen, ein Bild. ›Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich‹4, stand unter dem Blatt, und der junge Mann aus Asien sagte: »Das kenne ich«, und die Bundesrepublik antwortete: »Aber nicht so gründlich wie ich.«
Aber viel zu selten kommen nette junge Herren aus exotischen Ländern ins Haus; sie langweilt sich maßlos und sehnt sich, nachts heißere Tränen als tags weinend, nach dem Umgang mit ihren Altersgenossen, der ihr gleichzeitig empfohlen und unter allen möglichen Vorwänden doch immer wieder, wenn sich eine praktische Gelegenheit zeigt, untersagt wird, wie ja auch die Party nun ausfällt, die man jeder andern Fünfzehnjährigen im Lande bei einem so reizenden Anlaß erlaubt. Umso reicher ist notgedrungen ihr Innenleben, das sich von dem der Erwachsenen in ihrer Familie aber ebensosehr durch jenen Reichtum wie durch diese Notgedrungenheit unterscheidet, nämlich nichts von sich wissen will; vielmehr arbeitet es jetzt schon, jeden Abend nach dem Zubettgehen, viele Stunden lang an Plänen (die sie ebenso sorgfältig schmiedet wie in ihrer Seele bewahrt), die Welt der Erwachsenen, für die sie nichts als Haß und Trauer empfindet, bis in ihre Schlupfwinkel hinein umzubauen, wenn sie, irgendwann einmal, so weit ist.
Obwohl Spätentwicklerin, wird auch sie demnächst pubertieren; ein Traum von einer »Gegen-Stellung« sucht sie jetzt schon des öfteren heim, und bei aller Schäbigkeit einer Erziehung, welche die Eltern ganz vernachlässigt haben, hat sie das Wort jetzt doch herausgefunden, das für eine Gegen-Stellung im Lateinischen steht. Nicht lang mehr, so wird sie, soweit das eben vorgesehen ist für ihr Geschlecht, die Stimme wechseln, der Autor sofort aber, wie es der Traum der Jubilarin fordert, den Ton, denn die Gegen- Stellung ist da, sie regt sich, sie ist mindestens möglich, und die Zukunft kann nur ihre sein: wie sehr immer das Milieu auch ihre Sache jetzt, und ihre Wortführer, diffamiert.
Die Diffamierung des Dagegenseins,
unter Berücksichtigung ihrer Vorteile für den Knecht
Die Hoffnung der Opposition in Deutschland, wie immer hoffnungsvoll, ist nicht oppositionell. Für den chancenreichsten Gegner einer Regierung, die zwanzig Jahre nach Stalingrad es den jungen Leuten endlich wieder möglich macht, ihre Zukunft auf eine Affenschaukel zu setzen, findet sie, das ist das Beunruhigende, viel zu wenig Reiz darin, es zu sein. Unschlüssigkeit, wie sie eine in Züchten ergrauende Konsistorialratstochter umfangen mag, der ihr Sylter Ferienprogramm eine Strandwanderung zu Deutschlands nördlichsten Leuchttürmen so eisern zur Bildungspflicht macht, daß sie nur durch pflichtwidrige Abweichung in die Dünen um die abessinischen Abschnitte der sehenswerten Küste1 herumkäme, befällt die Hoffnung der Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, spricht man sie auf ihren natürlichen Status als Kristallisationskern des Dagegenseins an, mit den Anzeichen dieser gemeinsamen Seelennot aber endet die Parallele zwischen der Sonnensucherin auf ihrer physikalischen Insel und der Oppositionshoffnung auf ihrer politischen. Wird in jener doch bald schon der Imperativ der pädagogischen Pflicht alle Furcht vor dem Unausdenklichen mit unbeirrbarer Bravour in die Flucht schlagen – wie aber in Brandt2? Die Frage, ob die Politik, also das nackte Interesse der Menschlichkeit und ihrer Vernunft in ihm siegen werde oder aber jene überlieferte, widerlegte, fatale Bedenklichkeit, die immer statt zu denken sowohl einerseits »sowohl als auch« als auch anderseits »einerseits – anderseits« sagt, ist zu reichlich später Stunde noch offen.
Das ist nicht in erster Linie seine Schuld; es würde es nur, in erster und in jeder Linie, bliebe es auch in Zukunft dabei, ja schon im kommenden Wahljahr3, in dem sich erweisen muß, ob er weiterhin bereit ist, seiner Partei als jovialer, sich aber abnutzender Star der Popularitätsklasse Schmeling-Albers zu dienen oder den damit unvereinbaren Willen zu entfalten, sie politisch zu führen: aus der Immobilität, dem Apparatdenken, dem Leisetritt all des Scheußlichen zwischen Kiel und Altötting heraus. Dafür, daß die Partei ihn emportrug, hat er schwer an ihr tragen müssen; sie kann ihn längst nicht mehr fallen lassen, anderseits kann auch er seine Möglichkeit, sich gegen ihren Dumpfsinn in ihr durchzusetzen, nicht länger auf Eis legen, ohne daß sie erfröre: sie selbst und die Hoffnung, der er von Zeit zu Zeit Nahrung gibt, mit. Falsch ist das Argument, die Sozialdemokratie, da in vier Bundesländern regierend4, könne in ihrer politischen Erscheinung in Westdeutschland nicht bloß Opposition sein: als habe Vergleichbares in den Vereinigten Staaten, wo der Oppositionsführer häufig regiert, nämlich Gouverneur in seinem Bundesstaat ist, dessen Rolle in Washington je zum Schaden seines Landes gehemmt. Falsch ist weiter das Argument, eine entschiedene Oppositionspolitik komme bei den Deutschen nicht an: mit attackierendem Elan, jenem vergleichbar, mit dem Hitler sie so nachhaltig für die schlechteste Sache gewann, ist für eine gute in Deutschland nur noch niemals geworben worden – und die Behauptung also so unbewiesen wie ihrer Gesinnung nach subaltern. Und falsch ist schließlich das Argument, das freilich nie laut wird, da es immer dem zuletzt genannten schon als Voraussetzung und geheimes Axiom dient: der westdeutsche Wähler, in der neureichen Unsicherheit seines Selbstbewußtseins, wolle nicht kritisiert sein, sondern gelobt und bestärkt.
Schließlich habe er etwas erreicht; und identifiziere, mit manchem Grund, das Erreichte mit denen, die ihn während des bekannten Wunders regiert haben. Das Argument ist moralisch falsch, weil ein wirtschaftlicher Aufstieg, der sich um den Preis eines Verzichtes auf die entscheidenden Existenzattribute vollzieht, die den Menschen erst zu einem machen können, für ihn selbst keinen Sinn und vor der Geschichte kein Recht hat. Es ist menschlich falsch, weil die Reduktion des Menschen auf eine Stufe, auf der er besagten Verzicht nicht einmal mehr bemerkt (so daß er dessen Feststellung prompt als kränkende Verzerrung empfindet), diesen so sehr erst vervollständigt und für die nächsten Generationen konsolidiert, daß alles davon abhängen muß, dem Bewußtseinsschwund entgegenzusteuern. Und schließlich ist es politisch falsch, weil die bestätigungsbedürftige Selbstgefälligkeit des Bundesbürgers, die alles schlucken, vergessen, verdrängen kann, doch mit einem Unbehagen dafür zahlt, das zu seinem Erstaunen und Leidwesen diesem perfektionierten Verfahren dann Trotz bietet. Es kann, dieses Unbehagen, nicht auch noch geschluckt, verdrängt, vergessen werden; es ist da. Der Menschheit jederzeit bemerklich, in seinen helleren Augenblicken jenem hoffnungslos immer nur Vorankommenden sogar selbst, ist der Augenschein für diesen Gemütszustand physiognomisch, für die Kamera also faßbar; Wolfgang Staudte (›Herrenpartie‹) beunruhigte damit noch die jüngste Berlinale des Films5. Die Evidenz liegt in der schuldhaft aggressiven (oder auch defensiven) Ungelassenheit der Bewegungen und Gebärden, in der absurd sich verausgabenden – und so wenig gewinnenden – Hektik, mit der der Bundesbürger, der Gemütlichkeit im Chorgesang zuprostend, Sorge dafür trägt, daß sie in Karstdörfern aufhöre; mit der er entweder zu leise oder zu laut, zu forsch oder zu unsicher ist, wenn er seine Kinder zur Ordnung, seinen Ehegatten zum Schlafengehen ruft oder Schlagsahne ißt oder einen Witz versucht oder sein Auto chauffiert oder des Sonntags auch, erfüllt mit der genossenen Sahne, sich über Parkwege, zu einem Kulturgenuß, ja selbst zu einer Aventure bewegt, welche er sämtlich mit Schlagsahne verwechselt, nämlich als eine Gelegenheit mehr zu jener Nabelschau seines Nichtseins erfährt, die doch nie ihn zufriedenstellt und die er immer neu so veranstalten muß, ein Malaise stiftendes Ärgernis ebenso sehr dem Apoll wie dem Eros. Die Selbstbestätigung als Unbehagen in Permanenz beruht auf dem erbarmungswürdigen Mißverständnis, daß Versessenheit auf ein Haben, das kein Glück zwar, aber doch Status verschafft, über die Beunruhigungen des Abgrundes doch noch hinweghelfen werde – daß wenigstens Grapschigkeit, wo nicht länger nun das Recht des Stärkern, der Nomos der Erde sei und des menschlichen Daseins auf ihr. Was aber bleibt, ist das Unbehagen, und dieses verhält sich zur verdrängten Menschlichkeit des Deutschen wie das Periskop eines Unterseebootes zu dem darunter befindlichen Rumpf: es zeigt ihre Position an, und also müßte eine Oppositionspartei in Deutschland zwar nicht auf das Unbehagen, mit ballistischer Genauigkeit aber auf jene verschüttete Humanität zielen, deren Versteck es verrät und die Herausforderungen schließlich zugänglich ist.
Der Mensch, insbesondere wenn er so unsicher – und in seinem Sein also unbestimmt – ist, daß noch die unbegabteste Schlagersängerin ihn gewinnen kann, wenn sie, was ihr fehlt, nur durch fremde Akzente, wie Lieschen Müller sie sich vorstellt, ersetzt, hat viele Möglichkeiten und Modi seiner inneren Identität. Er wird, wie Ludwig Binswanger entdeckt (und in ›Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins‹ mit viel Helligkeit deduziert) hat, diejenige manifestieren, aus derjenigen heraus denken und handeln, die aufs nachdrücklichste in ihm evoziert wird: bei welcher der Mitmensch ihn nimmt6. Die Nationalsozialisten, in Jahren der Not, nahmen ihn in Deutschland bei der niedersten, bei seinem Neid, seiner Mißgunst, seiner Ohnmacht, seinem schwelenden Haß; vielleicht ist es Zeit, ihn im Zeichen wachsenden Wohlstandes endlich bei der höchsten zu nehmen, die in Deutschland nur am gründlichsten verborgen ist, ihre Entdeckung also erwartet: bei seinem Vermögen der Humanität, also der Unterscheidung, des Begriffs und des Urteils, deren Name Vernunft ist und deren Impetus Gerechtigkeitssinn.
Die Rechtsverhältnisse eines Landes, in welchem nach der Quintessenz eines Urteils von Bundesrichtern das Morden gerade dann ohne Unrechtsbewußtsein geschah, wenn die Mörder Kollegen waren, bei der Tat also einen Talar trugen7, liefern für einen solchen Appell Material von nuklearer Brisanz. Die Schul- und Hochschulverhältnisse der Bundesrepublik8 gehören schließlich in den gleichen Bereich: es ist das namenlose Unrecht an den künftigen Generationen, das ein Anwalt dieser Generationen ins Bewußtsein der Nation heben müßte. Der Weg, den eine oppositionell gewordene Sozialdemokratie zum Herzen ihres Wählervolks zu gehen hätte, ist mit diesen Feststellungen nur erst angedeutet. Der Schwierigkeiten, die dem Weg entgegenstehen, sind drei.
Einmal gibt es in der Politik – derjenigen der politischen Werbung – nicht beliebige Mischungsverhältnisse aus Konformismus und Opposition, Rücksichten und Risiken, aus Verschwiegenem, Bemänteltem und Gesagtem; sondern eine Art Quantengesetz, das die unbestimmt vielen Mischungen zugunsten relativ weniger, immer aber ganz bestimmter Möglichkeiten, sei es der konsequent vertriebenen Lüge oder der ebenso konsequenten Wahrheit, verbietet, der Willkür der psychologischen Manipulationen also eine Grenze setzt, die nicht ungestraft ignoriert wird. Man kann, um als Oppositionsführer in der Bundesrepublik den Menschen, der 1965 wählt, zu gewinnen, ihn als potentiellen bien-pensant oder als potentiellen Oppositionär nehmen, nicht aber als beides zugleich – und muß also, um politische Entscheidungen wie die erhoffte ihm zumuten zu können, zunächst selbst welche fällen, statt gerade ihnen aus dem Wege zu gehen.
Dies die erste, allgemeinste Schwierigkeit, die ein Oppositionellwerden der Opposition in der bundesdeutschen Hauptstadt behindert. Ein Blick auf die zweite liefert zu diesem Allgemeinen dann die strategische Spezifizierung, denn es ist über die Hürde einer fünfzehn Jahre alten Kopfregelung, daß der Sprung endlich gewagt werden müßte, der aus der Sicherheit der Niederlagen heraus in die Unsicherheit jenes Möglichen führt, das die Geschichte des Parlamentarismus als landslide kennt, als politischen Erdrutsch. Mit verhängnisvollem Erfolg, nämlich gegen alle Gewissensregungen, die den Wähler selbst noch bedrängen, versuchen von rechts bis links sämtliche Parteien in der Bundesrepublik ihm seit fünfzehn Jahren eine politische Mündigkeit weiszumachen, die er gerade so nie gewinnt, ja an deren möglichem Gewinn solche Buhlerei um seine Gunst ihn nur hindert. In dem Zustand, in dem das deutsche Volk 1945 sich selber zurückließ, hätten die politischen Parteien eine vor allem pädagogische Aufgabe gehabt; sie haben sie versäumt, sie als Aufgabe nicht einmal wahrgenommen, und diese Aufgabe stellt sich immer noch – das Axiom, das sie verschleiert, ist falsch.
Das Axiom besteht in der Meinung, der Wähler insistiere darauf, daß man ihm schmeichelt. Er insistiert aber nur darauf, daß die Partei, die er wählt, jeden Wettbewerb mit ihren Konkurrentinnen, auf welchen sie sich einläßt, gewinnt, ergo auch den im Schmeicheln: solange Spekulationen auf die Eitelkeit des Wählers den Horizont der propagandistischen Denkbarkeit in Deutschland bestimmen, man sich andere Werbung gar nicht vorstellen kann als diejenige, welche die »Werbung«. (eben als Fach) einem so unermüdlich vorexerziert, muß dem Axiom ein Schein von Wahrheit bleiben, der seinen Anspruch verewigt, denn ein Alternativverfahren, dessen Realisierung nicht versucht wird, gilt der Denkschwäche leicht als unrealistisch, und umgekehrt begründet sie die Unterlassung des Versuches mit eben dem Mangel an Realismus, zu dessen experimenteller Überprüfung sie Gelegenheiten sich gar nicht gewährt. Um diese in ihrer Kreisbahn gefangene Mechanik der Begriffe vom Ankommen muß es in dem Augenblick geschehen sein, da der Horizont des genannten Wettbewerbs selber getestet wird, einer aus ihm ausbricht, dem Wähler also mit einemmal gar nicht mehr Schmeichelei widerfährt, sondern die Überraschung, ja die Sensation, einer Kritik von präzedenzlosem Ernst. Nach Maßgabe aller Pädagogik würde diese, gerade indem sie den Wähler seiner falschen Sicherheit methodisch beraubt, ihn auf diejenige aufmerksam machen, die sein Denkvermögen für ihn bereithält; als Mensch stark zurückgeschraubt, nämlich auf den tatsächlichen Stand seiner beispiellosen Daseinsverarmung, wäre er um keine Hoffnung doch, die sich sehen lassen könnte, gebracht, vielmehr würde solche Direktheit ihn als Person, die er sein kann, gerade erst aufrufen – ja könnte Möglichkeiten in ihm wecken, von denen ihm heute nichts ahnt.
Am genauesten bezeichnet, wären die letztern einfach solche einer Menschwerdung des gewöhnlichen Bundesbürgers: die Person, die den Begriff einer solchen erfüllt, würde von der gesellschaftlichen Ausnahme erstmals in Deutschland zur Regel. Die Scheingesellschaft selbst würde zu einer wirklichen, das Volk, jahrhundertelang Objekt der Geschichte, nämlich der eigenen Kleinkariertheit in Verbindung mit dem Willen der »Macht«. (ebenso einheimischer wie fremder) endlich, als Gesellschaft, geschichtsfähig, endlich frei, was doch ein Novum wäre, ja nicht mehr und nicht weniger als eine späte europäische Sensation. Geschichtsfähig – wann war es das je? Allenfalls bis zum dreizehnten, präziser bis zum zehnten Jahrhundert: schon die Zeiten nach der Jahrtausendwende zeichnen seine spätere Objektwerdung wie mit entwerfenden Haarstrichen vor. Etwas anders das Frühmittelalter, von dem bei aufmerksamem Hinsehen gerade den Geschichtsmythologen Gefahr droht: allzu ungeprüft, automatisch, gelten in einem gedächtnislosen Volk längst ja Rückblicke auf Frühestes immer schon für eine Domäne der Lichtscheuen. Was aber der Blick lehrt, ist schließlich nicht, daß ein Versuch prominenter Bundesdamen, Roswitha von Gandersheim zu kopieren, ihren Formen Gewinn brächte; sondern daß umgekehrt unsere Literaturpionierin gerade die ihre kaum zu wahren vermöchte, fände sie jäh sich aus ihren Humaniora in die Godesberger Redoute versetzt.
Mit Terenz wäre nichts mehr anzufangen, mindestens auf Plautus würde sie zurückgreifen müssen; und auch das wäre zuletzt, wie ihrer Gewecktheit schnell aufginge, für die Katz. Roswitha also als Kabarettexterin, als wurzellos zersetzende Chansonniere? Sehr viel Freiheit besaß sie, und der Geist weht in jedem Säkulum, wo er will.
Nur will nicht jedes ihm so wohl wie das zehnte, bedenken wir die Kargheit seiner Möglichkeiten und Mittel. Das zwanzigste, das soviel reicher ist, begegnet dem Geiste mit Furcht. Indem er weht, wo er will, ja wohin er will, denn er läßt sich seine Richtung nicht vorschreiben, wird er zum Ärgernis für den Apparat, denn sein Wesen ist Unberechenbarkeit. Die dritte Schwierigkeit von den genannten, von denen gesagt wurde, daß sie, was uns nottut, behindern: ein Oppositionellwerden der Opposition, beruht in dem ausweglosen Konflikt, dem nur durch Drucksteigerung zu bestehenden, in welchen der Geist, der frei weht, jetzt verstrickt ist: mit dem erbärmlichsten Windschutz nämlich, der bis heute gegen ihn erbaut worden ist. Es handelt sich um die Diffamierung, überhaupt und schlechthin, des Dagegenseins, um deren schleichende Verfemung, und zwar durch keine Obrigkeit jetzt. Weder eine konstitutionelle noch eine tyrannische: die Feigheit selbst betreibt neuerdings diese Ächtung, wenn auch offenbar einem Auftrag gemäß, den die Reichsführung ihr, ehe sie abtrat, noch ließ9.
Mit kluger Vorsorge: nämlich der Weisung »Nach zwanzig Jahren zu öffnen« muß sie seinerzeit diesen Auftrag, ehe sie ihr Orkus verschlang, in die Seelen schnell noch eingebaut haben, und so rührt er sich nun immer bemerklicher, als Oppositionsfurcht in Sozialdemokraten, als Generalangriff ad homines rechts. Klar ist, daß diese Verfemung des Opponierens per se, die sich ausbreitet, von den genannten drei Schwierigkeiten die enormste, bedrohlichste ist, denn sie greift an die Wurzel des Menschseins, des humanen Verhaltens, dessen Daseinsprämisse die Kritik, der unterscheidungskräftige Widerspruch ist.
Indem man diesen in Acht tut, versucht man nicht nur eine Diskreditierung der Urteilskraft als Bedingung des Neinsagens, also genau jenes Menschlichen, dessen Versäumnis unsere Geschichte verdarb, sondern des Menschen zuletzt selbst: was das Vokabular, das man für die Diffamierung verwendet, in seiner terroristischen Rüdigkeit immer unverblümter bezeugt. Noch sagt man Linksintellektuelle, wo Goebbels Intellektbestien sagte10, noch fordert Oberregierungsbibliotheksrat a. D. Emil Franzel keinen »Aufbruch der Nation«11, sondern zunächst nur einen »Durchbruch zum Volk«12, aber der Sinn wird doch klar, was zu dem Volk da nochmals durchbrechen möchte, ist der chronisch entzündete Blinddarm des nationalen Gemyths.
Es ist die blubonische Pest, der Konservatismus als Ressentiment; als welcher er nicht Treue zum Alten ist, sondern das Altern einer Selbstuntreue, die vom sagenhaften Siegfried über den historischen Luther bis zum abermals sagenhaften Biedermann doch immer die gleiche war. Das unterscheidet den deutschen Konservatismus etwa vom britischen, der dort, wo die Zukunft des deutschen von auch weiterhin gesicherter Anästhesie der Geruchsnerven abhängt, dafür gesorgt hat, daß es etwas für ihn zu konservieren, vor Verwesung also gerade zu bewahren gibt: etwa menschlichen Anstand, der bei den Tories wie bei ihren Gegnern sich in jener beharrlichen Unabhängigkeit zeigt, die sowohl es vermag, gegen Minister aus dem eigenen Lager mit viel menschlicher Konsequenz zu frondieren, als auch bei öffentlichen Auseinandersetzungen nur Frontalargumente ins Spiel kommen läßt. Da man solche auf der deutschen Rechten nicht hat, erfolgt der automatische Rückgriff auf die behaupteten Beweggründe des Opponenten, das Argument ad personam, als Wegbereiter des Totalstaats erprobt, wird ausdrücklich angeraten: ›Mehr Porträts im Stil Kurt Ziesels‹ fordert Professor Hermann Mathias Görgen, Vorsitzender einer deutschen Gesellschaft für Film- und Fernseh-Forschung, einem Bericht der ›Süddeutschen Zeitung‹ zufolge »über die Leute in Presse und Funk«13. Die Modelle sind bekannt: durchaus nichts so Besonderes ist es, daß gerade ein deutscher Akademiker diese bequeme Art des Fertigmachens empfiehlt. Wenn ein Fachpsychologe in Amerika wegen der Unzulänglichkeit seiner Tests kritisiert wird, wird er mehr oder weniger stichhaltig, jedenfalls aber mit Sachgründen antworten; nicht wird er, wie im gleichen Fall sein deutscher Kollege (geschehen 1958 bei Gelegenheit eines ›Darmstädter Gesprächs‹) erst die Kompetenz seines Kritikers mittels Entrüstungsausbruchs zu erschüttern versuchen, um naiv dann, ob auch fachsimpelnd, mißglückte dieser erste Versuch, mit schierer Spekulation auf dessen Motiv abzulenken, das ihm weder bekannt ist noch zum Thema der Debatte gehört14. Der hier berührte Fall ist charakteristisch nicht nur für das jetzige deutsche Professorentum in der so eifer- wie autoritätssüchtigen Enge seines hierarchischen Amtsstolzes, seiner immer monologischer ins je Eigene verbissenen Sterilität, sondern paradigmatisch für die Mechanismen, mit denen auch in deutscher Politik stets zu rechnen ist: wie ein erst kürzlich erfolgter Tiefschlag gegen den Wehrbeauftragten Heye15 erweist. Nachdem dessen Kritik an der Bundeswehr sich als sachlich unabweisbar herausstellte, blieb nur noch der Rückgriff auf eine Bestreitung seiner Qualifikationen als Mensch, und die blieb denn auch nicht aus, mit der Motivlage war diesmal freilich nichts anzufangen, bei so lückenlos militärischem Curriculum, ergo attackierte man seine geistige Kompetenz. Hatte die CDU-Abgeordnete Pannhoff, Neurologin und Psychiaterin ihrem Beruf nach, den Wehrbeauftragten untersucht, wie vor Stellung einer Diagnose es das Ethos ihres Berufes verlangt? Sie hatte es keineswegs. Um Heye »Ausfälle der Konzentrations- und Kombinationsfähigkeit« nachzusagen, war sie auf seinen Text ebenso angewiesen wie der unpsychiatrische Rest der Nation.16
Diesen hatte an Heyes Bericht gerade die Konzentriertheit der Darlegung beeindruckt; und nach Maßgabe jener Wahrhaftigkeit, deren Modell sich in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern findet17, mußte wissenschaftliche Kompetenz vor allem diese also in Abrede stellen. Oder konnte Frau Pannhoff die Konzentrationsausfälle aus einer subtileren Analyse des Textes selber belegen? Dazu bleibt zu sagen, daß sie es weder getan hat noch ihren eigenen Qualifikationen nach dazu in der Lage war, denn die Eigentümlichkeit gerade psychiatrischer Kompetenz, dort, wo für ihre diagnostischen Zwecke eine ganz andere Sachwelt (sei es die eines Kaufmanns, eines Dichters oder eines Militärsachverständigen) verstanden sein will, beruht in der Leistung des Psychiaters, sich in eben diese hineinzuarbeiten. Um auf Grund eines evident konzentrierten Textes über Militärfragen dem Verfasser gerade dies Evidente bestreiten zu dürfen, hätte Frau Pannhoff, in diesem Fall, zunächst also Militärsachverständige werden müssen. Das konnte man von ihr nicht erwarten, erwarten aber konnte man, daß sie wenigstens die deutsche Psychiatrie, wenn schon den Bundestag im ganzen und ihre Partei im besonderen, nicht blamiere; ferner, daß die deutschen Psychiater die Urheberin der einmal erfolgten Blamage unisono desavouieren würden; schließlich, wenn auch mit betont zaghafter Hoffnung eingedenk der historischen Verunglimpfung, gegen die seinerzeit schon Herr Gerstenmaier Herrn Augstein vor dem Parlament keinen Schutz bot18, daß der Bundestagspräsident sich mit einem Wort, das all dies bis in seinen Grund hinein aufklären und verdeutlichen würde, vor den Beauftragten stellen werde; natürlich ist das alles nicht geschehen.
Verständnis für Heye, erklärte entschuldigend der ›Süddeutschen Zeitung‹ Frau Pannhoff: nur Verständnis für ihn zu wecken habe sie mit ihrer Erklärung versucht, in Offizieren der Bundeswehr, er sei ja zuckerkrank: »geistig älter als der Durchschnittsmensch« sei er, schließlich ist sie Ärztin, hat in KZs nie gearbeitet, das Motiv des deutschen Arztes ist lupenreine Humanität.
Andernfalls, das ist bekannt, erfolgt Berufsausschluß; wenigstens nach der Satzung. Über Mißbrauch von Professionsprivilegien verlautet in dieser nicht viel. Gar nichts über Pfiffigkeit, auch über hämische Bemäntelungen kein Wörtlein, im Lande der Scheelsucht ist ihr statutarisch keine Grenze gesetzt. Die Grenze vielmehr, die der Scheelsucht im eigenen Lande gesetzt ist, verläuft dort, wo diese zu plump wird für die folgende Generation, für das wachsende Sauberkeitsbedürfnis der bundesrepublikanischen Jugend, mit dem jetzt schon gerechnet werden muß, aller Langsamkeit dieses Wachstums zum Trotz. Mit der Diffamierung ad personam allein kann die des Dagegenseins daher nicht mehr auskommen; anderswo verfährt man umsichtiger, hält auf die Formen der Objektivität, der Distanz.
Kurz, auf eine untersuchende Abgeklärtheit gegenüber dem kritischen Geiste. Ein Grundsatzreferat Arnold Gehlens lieferte das Modell dieses Typs. Gehalten vor dem ›Evangelischen Arbeitskreis‹ der Unionsparteien in München, wurde es vom ›Merkur‹, in dessen Mai-Nummer 1964, zur Diskussion gestellt – welche Auseinandersetzung noch währt.19
Die Kategorien, mit denen Gehlen operiert, fußen auf der alten Unterscheidung zwischen dem Theoretiker der Politik und dem Praktiker. In Nachfolge Schumpeters grenzt er zunächst den Intellektuellen ab, den er meint. Er tut es nach drei Kriterien, »Fehlen der direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge«, Fehlen von »Kenntnissen aus erster Hand, wie sie nur die tatsächliche Erfahrung geben kann« und schließlich »die Neigung zu einer kritischen Haltung« – verbatim zitiert.
Nun ist die Neigung zu einer kritischen Haltung, auf deutsch zu unterscheidendem Urteil, ein bestimmendes Merkmal des erzogenen Menschen schlechthin; und ist weiter dieser Erzogene, in einem demokratischen Staate, Teilhaber an der Staatssouveränität, seine Verantwortlichkeit für den Staat also direkt. Sie ist direkter als die des Bundeskanzlers, denn dieser ist mit seinem Amt nur beauftragt; soweit er Verantwortung trägt, statt nach deutschem Brauch mit ihr hausieren zu gehen, trägt er solange nichts, als niemand ihn zu der Verantwortung zieht.