Kitabı oku: «Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5», sayfa 9

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Der Mief der Mephitis oder
Der Rechtsstaat als Slogan und Slum

Offiziell ist die Verwirklichung des freien Rechtsstaates ein ausdrücklicher Hauptzweck des ganzen Provisoriums von Bonn. Bei Gelegenheit von Gedenkfeiern, etwa zum zwanzigsten Juli, weisen Kundgebungen des Bundespräsidenten und der Regierung gern darauf hin. Dabei wird zwischen einem beabsichtigten und einem verwirklichten Rechtsstaat nicht unterschieden; man redet vielmehr so, als sei die Verwirklichung schon erfolgt. Man beruft sich auf den Rechtsstaat, um den Staat gegen den Hitlerstaat abzuheben und über den Ostberliner zu erhöhen, legt über das Maß der Verwirklichung dabei aber keine Rechenschaft ab. Täte man es, spezifizierte also, wie weit jeweils die Verwirklichung schon erfolgt ist, so verlören die Feiern an Künstlichkeit und gewönnen an Ernst, die Festredner würden glaubwürdig, die Ehrung manches Andenkens wahrer, nur würde man eben dartun müssen, was am Rechtsstaat zu verwirklichen bleibt. Nach der Logik der Sache ist das Maß dessen, was an einem Rechtsstaat zu verwirklichen bleibt, dasjenige des Unrechts, das seine Rechtspflege täglich duldet und tut; wo man dieses nicht eingesteht, wird die Rede vom Rechtsstaat zum Slogan, das aber, wovon sie schweigt, erst durch das Verschweigen zum Slum. Hierfür ist zu bedenken, daß ein solcher ja nicht einfach ein baufälliges Haus ist, das abgerissen werden sollte. Vielmehr ist er eines, das vor längerm hätte abgerissen werden sollen, stattdessen aber stehen blieb, aus einem erdverbundenen, dunklen Gefühl, worauf es ins Unbewußte des Magistrates verdrängt wurde und es mit dem Abreißen nun erst recht nicht klappt. So auch die deutsche Justiz.

Selbst zu Kundgebungszwecken aber, also als Slogan, ist der vielberufene freie Rechtsstaat, diese grundgesetzliche Absicht, nur gut, zieht man zum Vergleich mit seiner Wirklichkeit sei es eben den Hitlerstaat heran, die veranstaltete Rechtsschändung, sei es jene tiefgekühlte Unfreiheit, worin zu später Stunde immer noch der deutsche Gegenstaat im Osten verharrt. In jedem Fall ist es charakteristisch, daß man etwa England oder Dänemark nie heranzieht, die doch stammverwandte Nationen sind, sondern den Vergleich wohlweislich darauf beschränkt, was du Land voll Lieb’ und Leben1 dir an Lieb eben von jeher geleistet hast, wenn eine einstweilige Verfügung von dir Leben ächtete, abwürgte oder brach. Ob dabei eigene Rechtsschändung oder eine eingeführte Unfreiheit das Gesetz schrieb, die einem Landesteil der Rechtsschänder dann verständlicherweise zumutbar bleibt, spielt für den deutschen Richter keine Rolle, solange das Gesetz nur geschrieben war, bleibt er vom Verdacht eines Unrechtsbewußtseins im je nächsten deutschen Staate verschont. Daß die Bundesrepublik ein Rechtsstaat zu sein beabsichtigt, statt bereits einer zu sein, ist ein anderer Ausdruck für die Herrschaft jener nicht auslotbaren Feigheit in Deutschland, die sich nicht wie anderswo darauf beschränkt, nur eine von zwei möglichen Verhaltensalternativen zu sein. Wäre sie das nämlich, statt das Normale, Plausibelste, der Horizont des deutschen Daseins zu sein, jenseits dessen die Zivilcourage wie eine ferne Küste ihre Entdeckung erwartet, so hätte man sich um den Anfang der Zivilcourage nicht methodisch gedrückt. Da diese mit der Gedankenentscheidung, Gewissensentscheidung, beginnt, wären die rund sechzig Mörder im deutschen Richterstand, die es noch 1961 gab2, in diesem Fall nicht in Pension, sondern ins Zuchthaus gegangen – stattdessen aber, wie sagt, von der Gesetzgebung dabei protegiert, die oberste Rechtssprechung? Sie sagt, daß einem Antrag auf solche Pensionierung nicht zu entnehmen sei, daß der Antragsteller sich für schuldig hält3: ein schönes Dokument solidarischen Standesbewußtseins, denn sich nur ja nicht für schuldig halten, darauf, keineswegs nur auf die Pensionsbezüge, muß es den feinfühligen Kollegen in ihrer Gewissensbedrängnis doch ankommen.

Soweit die Meinung des deutschen Richterstandes über sich selbst: nämlich über die Idee seines Berufes, seiner Berufung, die nur bei Völkern ohne rechtes Staatsbewußtsein, wo die Richter und Staatsanwälte ja auch nicht ein Berufsverband, der die Rechtsanwälte so vielsagend ausschließt, vereint, vor allem für abhängig von menschlichen Vorzügen gilt, nämlich von einem besonders entwickelten Sinn für das Rechte und Unrechte; während in Deutschland eben dort, wo jene unerleuchteten Völker dessen besondere Erleuchtung erwarten, ein Unrechtsbewußtsein gerade nicht supponiert werden darf; dieses trägt im Gegenteil, wer beim Morden einen Zivilanzug anhatte, vielleicht, in schon vermindertem Maß, eine SS-Uniform – nicht einen Talar. Dieses karrieregerechte Gerechtigkeitsgefühl der paradoxesten aller deutschen Berufsseelen beruft sich auf den Rechtspositivismus, der den Richter zum Verkehrsregler einer je geltenden Betriebsordnung reduziert, deren moralische Verbindlichkeit, wie die jeder bloßen Tatsächlichkeit, deren eigener Definition nach so wenig etabliert werden kann wie diejenige der Ordnung in der Faktizität eines Ameisenhaufens, deren Beziehung zum Menschen eben lediglich in ihrer Beobachtbarkeit liegt, während das Recht mit seiner Verbindlichkeit steht – und unweigerlich dort also fallen muß, wo eine selbst ordnungslose Seele nach jedem Strohhalm von »Ordnungen« greift, die in ihrem Beobachtungsfeld auftauchen; zumal wenn die Obrigkeit, die sie setzte, noch post mortem der Molluskenschläue dann den gefälligen Vorwand erlaubt, die Naturrechtslehre sei gescheitert – nur weil die Nazis diese verfälscht haben, wie sie alles verfälschten, und präzise die Verfälschung deutschen Juristengeist weiter umfängt. In einem Land, wo auch die Akademiker nicht im Unterscheiden geschult werden, da schon die Schule eine Abstumpfung des dafür angelegten Sinnes betreibt, reichen solche Vorwände aus, einen Rechtspositivismus am Leben zu fristen, der sich statt auf eigene Gründe auf die Unfertigkeit seines Opponenten beruft. Der immerdeutsche Generalnenner der alten wie der neuen Verfälschung, des Naturrechts zum Recht des Stärkeren und des Rechts überhaupt zu einem ameisensturen Staatsreglement, bleibt qualliger Wirrwarr, bleibt der installierbare Gummischaum oder Schaumgummi, den Marionetten dort haben, wo ein Herz nicht nur zu kostspielig ist; sondern vom Standpunkt der Drahtzieher funktionell auch keine Wünschbarkeit wäre, da eine Marionette eben nur Obrigkeit braucht, die so zweckmäßig für ihre Bewegungen sorgt, daß dem Rätsel deutschen Obrigkeitsglaubens eine anthropologische Lösung nicht blühen wird, die von einem Studium jener Puppen sich nicht aufs aufmerksamste anleiten läßt. Wann hätte eine Marionettenobrigkeit sich vor dem, was unten ist, je gerechtfertigt, und wie könnte sie denn auch von denen, welche sie so sachkundig zieht, ihrerseits zu jenem Mythischen, Verantwortung genannt, je gezogen werden – Herr Lautz zum Beispiel mit seinen achthundert Mark Gnadenpension4? Sie kann es nicht. Insofern sie an der Obrigkeit teilhatte, bleibt sie auch im nächsten deutschen Staat, was für einer immer es gerade sein mag, immun, und wenn sie wie der Gnadenpensionär noch so gnadenlos als Reichsanwalt wütete, genau die Widerstandskämpfer nämlich an Fleischerhaken lieferte, deren am zwanzigsten Juli die Regierung in Plötzensee dann gedenkt. Aber die menschliche Seite der Sache bleibt rätselhaft. Was für Menschen können es sein, die sich feiertags hinstellen und das Andenken der Ermordeten zu ehren, ja zu beherzigen vorgeben, um in der ihnen immer noch viel zu öffentlichen Heimlichkeit des Werktags deren erwiesenen Mördern für ihre Tätigkeit dann Pensionen zu zahlen? Zunächst, es können nur Deutsche sein – nicht muß jeder Deutsche so sein, das wäre ja Rassentheorie, genauer Rassenmischungstheorie, und wird nicht im mindesten hier behauptet, das Umgekehrte aber gilt, da ein solcher Fall anderwärts, außer in Schauerromanen, weder vorkommt noch denkbar ist; jedenfalls nicht bei zurechnungsfähiger Kondition. Letzteres ist keine Klausel, die den Satz, daß es nicht vorkommt, etwa einschränkt, denn vorkommen könnte es seiner Art nach schließlich nur in bürgerlicher, politischer Existenz, da aber Schizophrene dort hinter Mauern sind, haben sie weder Chancen, auf Helden Reden zu halten, noch ihren Mördern Pensionen zu zahlen; sie sind einmal (anderwärts) nicht »der Staat«. Den Nachweis der deutschen Schizophrenie in politisch-juridischen Dingen habe ich im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹ am Beispiel jener »Lösung« geführt, die den Konflikt zwischen der Wahrheit, daß Richter in ihrer Amtseigenschaft mordeten, und dem Prinzip ihrer Unabsetzbarkeit nicht zugunsten der Wahrheit entschied – ja sich überhaupt nicht entschied, eben hierfür sind ja die Herren immer zu feige, sondern den verlogenen Kompromiß des freiwilligen Abgangs ersann, der es Mördern anheimstellte, sich als Richter pensionieren zu lassen: zugunsten, so meinte man, einer Wahrung des genannten Prinzips.

Aber eine Ausflucht, die ein Prinzip um den Preis »wahrt«, es bis in die tiefsten Tiefen hinein, aus denen es seinen ganzen moralischen Anspruch bezieht, zu diskreditieren, wahrt es nicht, sondern vernichtet es vollends: was dann bleibt – und abermals nur der positivistischen Sicht vom Staate entspricht, die dessen Lenkern bequem ist –, ist eine reine Regelung, die dem Prinzip, würde es noch gelten, gemäß wäre, von diesem Gelten selbst aber kann fortan keine Rede mehr sein, da eben die Basis des Prinzips, der Moralnimbus der Berobten, nun hin ist: einer jener bemerkenswerten Vorgänge, denen die Geschichte immer die Quittung erteilt. Freilich läßt sie sich Zeit dazu, viel länger als die Karlsruher Richter, die jene Grundsatzentscheidung fällten, in instinktiver Instinktlosigkeit: instinktiv in ihrer Kollegialität, instinktlos aber in der Anästhesie jenes Sinnes, der »Imponderabilien« in Deutschland (da er anästhesiert ist) nicht abwägen kann. In England wären es keine. Was zu wenig in Bonn noch bedacht wird, ist, daß man die ersehnte »Autorität«, in den Gänsefüßchen, worin sie hier steht, auf die Dauer nicht behält, wenn ohne Gänsefüßchen von der Autorität überhaupt nichts bleibt: selbst in einer marionettenhaften Gesellschaft ist den Drahtziehern eine Grenze gesetzt.

Der Grund hierfür ist, daß diese Gesellschaft ja auf der Welt nicht allein ist. Zwar die Dauerimmunität der Obrigkeit erhält sich oberhalb einer solchen Gesellschaft recht gut. Indem sie aber alle Geschichtskatastrophen überlebt, in die die Regelung die Gesellschaft hineintreibt, beschwört der Zustand eine herauf, die dann beide vom Erdboden löscht, die Gesellschaft und ihre Obrigkeit: ein Volk, welches daheim nur Objekt bleibt, kann in der Welt nicht zugleich Subjekt sein, es hält der Geschichte nicht stand, die es »objektiv« zwar vorantreibt, aber nie macht, sondern eben abwechselnd herausfordern und erleiden muß; was diese Periodik bald abschließen dürfte, ist die Unteilbarkeit des Subjektseins per se. Der geschichtlichen Unmöglichkeit auf die Dauer, zwei verschiedene Identitäten zu haben, eine für feier-, eine für werktags, eine für Goerdeler, die andere für Lautz, kann das Bild der Marionette (des Subjektschattens) so wenig gerecht werden wie das andere des Gespaltenen, dieses Trümmerhaufens von einem Subjekt. Was ist ein Heldengedenkredner, der, insofern der Staat selbst durch ihn redet, den Mörder der Helden mit monatlich achthundert D-Mark belohnt? Wir waren von der Frage abgekommen. Auch die Schizophrenie ist nur eine Verständnishilfe, nicht die Antwort. Sie ist ein klinischer Begriff, der Minister aber gerade klinisch normal.

Die Identifizierung der achthundert D-Mark ist ein weit leichteres Unterfangen: in sehr altem Geld, vorbehaltlich Berichtigungen durch die Währungsexperten der Christlich Demokratischen Union, sind es dreizehn Mal dreißig Silberlinge pro Monat. Das bringt uns in der Hauptfrage nicht weiter. Ich legte sie zuletzt einem Kind vor. Ich wollte wissen, wie das Kind einen solchen Minister beurteilen würde. Aus dem Gespräch, das sich entwickelte, sei zitiert.

Das Kind. Wenn er Minister geworden ist, muß er doch intelligent sein? Kann man beides zugleich sein, dumm und intelligent?

Der Autor. Es kommt vor. Bei Menschen, die eigentlich nicht einer, sondern zwei sind.

Das Kind. Sie sind aber doch in einem, wenn er auch nur Scheinmensch ist, zusammen. Dann muß entweder die Dummheit der Intelligenz dienen oder umgekehrt. Die Dummheit kann der Intelligenz nicht dienen, weil sie für die Ansprüche der Intelligenz dazu zu dumm ist. Also kann nur die Intelligenz der Dummheit dienen.

Der Autor. Ist das intelligent?

Das Kind. Nein, also tut sie es auch gar nicht, weil sie etwa Lust dazu hat. Es muß in dem Menschen, der eigentlich zwei ist, etwas drittes geben, was mit der Dummheit im Bund ist. Es zwingt die Intelligenz, ihr zu dienen.

Der Autor. Was könnte das sein?

Das Kind. Es ist doch schlecht von dem Minister, was er tut. Was würden die Ermordeten sagen, wenn sie es noch wissen könnten? Ich finde es gemein. Das Dritte muß dann einfach die Gemeinheit sein. Der Minister muß ein Schuft sein. Ist das möglich?

Der Autor. Es muß möglich sein. Das hast du doch gerade gezeigt.

Das Kind. Aber weiß der Minister, daß er ein Schuft ist?

Der Autor. Ich vermute, er würde es abstreiten. Wahrscheinlich auch vor sich selber.

Das Kind. Also nicht auch noch aus Schlechtigkeit.

Der Autor. Nein.

Das Kind. Er weiß es wirklich nicht.

Der Autor. Nein.

Das Kind. Ich glaube, ich hab’s. Dort, wo der Minister wissen müßte, daß er ein Schuft ist, kann er überhaupt nichts wissen, weil da gar nichts ist.

Der Autor. Gar nichts?

Das Kind. Er ist doch zwei. Dann muß zwischen den zwei Teilen ein Zwischenraum sein. Dort kann man nichts wissen.

Der Autor. Gut, aber wo bringen wir dann die Gemeinheit unter, die du entdeckt hast?

Das Kind. Wir brauchen sie nicht unterzubringen; denn sie ist ja nicht etwas, sondern nichts. Die Gemeinheit ist selber der Zwischenraum.

Der Autor. Wie kann ein Zwischenraum zwischen den beiden die Intelligenz zwingen, der Dummheit zu dienen?

Das Kind. Doch, das geht. Wir nehmen in Physik gerade das Vakuum durch. Das ist ein Raum vollkommen ohne Luft; aber Kräfte besitzt er. Er saugt das an, was gerade in seine Nähe gerät. Man kann dort nicht atmen.

Der Autor. Du meinst –

Das Kind. Ja, dann muß die Gemeinheit doch ganz etwas Ähnliches sein. Sie ist eine Art Zwischenraum, glaube ich, in dem überhaupt keine Luft ist. Ein Vakuum.

Der Autor. Und was ist dann ein Schuft?

Das Kind (strahlend). Ein Schuft ist ein Niemand, der nicht weiß, daß er ein Schuft ist, der nicht weiß, daß er ein Niemand ist, der – und so weiter. Er ist eben eigentlich gar nichts.

Der Autor. Was heißt hier eigentlich?

Das Kind (entschuldigend). Außer nach seinem Amt. Er ist doch ein deutscher Minister?

Soweit das Kind. Es hatte in der Unterhaltung auf eigene Hand beides entdeckt, die Gemeinheit als Platz des vakanten Gewissens und diese selbe Vakanz in ihrer stillen Antriebskraft für mörderische, mörderprotegierende Dummheit. Dabei war das Gewissen als das Vereinigende der Person ihm viel zu offenkundig gewesen, als daß dessen Name auch nur ein einziges Mal hatte fallen müssen. Es hatte den Zusammenhang zwischen der Dummheit, wo sie von einem »Intelligenten« praktiziert wird, und dem Reich der Moralia gefunden; die Schule hatte ihm seine Unterscheidungskraft nicht geraubt. Erwähnt werden mag, daß es bis kurz vor der Unterhaltung mit seinen Eltern im Ausland gelebt hatte, in jener anmutsvollen Gegend der Westschweiz, die Globke den Zuzug verwehrt5.

Was der Minister ist, wissen wir, dank dem Kind, nun schon besser; und angesichts des Inhalts dieser Antwort lohnt sich schließlich keine Bestimmung seiner persönlichen Identität, seines Wer, die ja auch technisch ihre Schwierigkeiten hätte, da diese paradoxe Subjektivität, welche in der Mitte ein Loch hat, sich über die gesamte deutsche Gesellschaft, wenn auch in abgestufter Dosierung, verteilt: von der Regierung, die die Gemeinheit exekutiert, und dem Parlament, das sie politisch und legislativ duldet, über die Juristen, die sich nicht rühren, bis zum gewöhnlichen Bürger; auf welcher Stufenleiter wir die bundesdeutsche Presse, die praktisch widerspruchslos auch dieses Entsetzliche hinnimmt, allenfalls, wie eine süddeutsche Zeitung auf Seite 3 ihrer Nummer vom 20. Juli 19646, ihren Journalisten dessen Erwähnung erlaubt, aber nicht übersehen wollen. Eine politische Gesellschaft, deren menschliche Grundlage so sehr die Verlogenheit ist, daß in der Mitte ihres Wesens ihr das Organ für diese abgestorben ist, in den nachfolgenden Generationen daher erst wieder nachwachsen muß, hat keine Hoffnung auf das Recht, damit aber auch kein Recht auf die Hoffnung. Ansprüche, die vor der Welt geltend zu machen sie andernfalls manch guten Titel hätte, mißraten ihr daher, diesen Sachverhalt seit nun fünfzehn Jahren bestätigend, zu formelhafter Ohnmacht und sie abermals ins Unrecht setzender Arroganz. Da sie nicht einmal die Freiheit besitzt, ihren Haß auf die Freiheit sich wenigstens einzugestehen, sich dieses Hasses vielmehr aus guten Gründen, die nur ihr selbst nie ganz klar sind, geniert, so versucht sie sich einzureden, die Freiheit sei unrealistisch, und vermerkt beleidigt und kummervoll, wenn die Geschichte diese Theorie dann zerstört. Da Deutschland in solchen Fällen, also alle zwanzig, fünfundzwanzig Jahre, immer mitzerstört ist, findet es für eine Überprüfung seiner Theorie zunächst weder Sammlung noch Zeit, später nicht mehr die richtige Stimmung, es hält an der Theorie also, sei es heimlich, sei es ausdrücklich, fest. Der Zyklus setzt sich daher fort; was die Theorie betrifft, so regiert sie in Westdeutschland seit 1949 in einer Heimlichkeitsphase. Vielleicht sollte die Theorie etwas häufiger, in einem bestimmten Sinn dann aber schonungsvoller zerstört werden, unter Zerschlagung weniger von Geschirr als von Gesetzen; besagter Zeitraum ist für ein gedächtnisschwaches Volk viel zu lang. Anderseits bleibt der Geschichte, die schließlich noch anderes zu tun hat, keine Intervallverkürzung zumutbar, welche ihr, ihren Erfahrungen nach, bei vermehrten Besuchsreisen zu diesem Volk keine derartige Mehrung der Lust brächte, die das Reisen erst lohnend macht, daß die Änderung verlangt werden kann.

Im gegenwärtigen Zusammenhang sind diese historischen Implikationen der nationalen Gewissensvakanz eine Abschweifung. Es handelt sich hier nicht um sie, sondern um den gesellschaftlich-seelischen Hintergrund des Unrechts, das in der Bundesrepublik Deutschland geschieht. Erst vor diesem Hintergrund, den ich an Hand zweier verwandter, für ihn typischer Fälle, der Mörderpensionierung und des Plötzenseer Sowohl-als-auch, hier nur einmal angeleuchtet habe, wird die allgemeine Verkümmerung des Rechtssinns im Deutschen verständlich, die es erträgt, daß der Mensch a priori für angeklagt gilt. Das automatische Verdikt, das seitens der Staatsfrömmigkeit an diesem Punkt fällig ist (und später noch zitiert werden wird), gedulde sich eine Minute, es handelt sich nur um die stillschweigende logische Prämisse der für die Staatskasse so bequemen Unterscheidung, im deutschen Strafrecht, zwischen dem Freispruch wegen erwiesener Unschuld und dem aus Mangel an Beweisen7. Diese Unterscheidung widerspricht dem Rechtsgrundsatz, daß kein Angeklagter vor seiner Überführung für schuldig gelte, daß nicht er seine Unschuld zu beweisen habe, sondern das Gericht seine Schuld, und es stellt zwischen Unschuldigen, die ihre Unschuld beweisen können, und solchen, die es nicht können, eine dem Grundsatz der Rechtsgleichheit widersprechende Ungleichheit her. Gesetzt, ein Mensch, der, was in der Bundesrepublik möglich ist, jahrelang in Untersuchungshaft saß, sei unschuldig, sein Freispruch aber erfolge nur aus Beweismangel, so hat er für die erlittene Haft nicht einmal auf Entschädigung Anspruch und ist faktisch für nichts bestraft worden: für nichts nämlich als dafür, daß die Staatsanwaltschaft gegen ihn einen Verdacht hatte. Hieraus folgt die Möglichkeit, die nur im ganzen theoretisch, im Ausnahmefall aber eine durchaus praktische Möglichkeit ist, daß die Staatsanwaltschaft in Deutschland bloß zu verdächtigen braucht, damit der Verdächtigte auch schon bestraft werde, faktisch nämlich, ob auch freilich nicht dem Buchstaben nach, und ein solcher Staat ist eben kein Rechtsstaat; Kriterium für einen solchen ist ja nicht das in ihm Übliche, sondern das in ihm Mögliche, also gerade der Ausnahmefall. Ein Verdacht nämlich, der nicht erhärtet wird, in welchem Fall er kein Verdacht bleibt, sondern zur Überführung des Beschuldigten wird, fällt seiner Genesis und dem Ort, an dem er sich regt, nach überhaupt nicht in die Verantwortung, ja den Existenzbereich, besagter Person, sondern bleibt bis zur Beibringung von Material, das zur Erhärtung ausreicht, eine rein interne Seelenregung auf seiten der Staatsanwaltschaft; genannten Existenzbereich des Angeklagten, da dieser wie jeder andere Mensch nur entweder schuldig oder unschuldig sein kann, nicht aber beides zugleich, darf er also nicht mehr berühren. Hieraus folgt, daß, wo ein Mensch »aus Mangel an Beweisen« freigesprochen wird, das Gericht bewußt etwas tut, was auf die Möglichkeit hinausläuft, daß es einem Unschuldigen, welcher dieser Freigesprochene sein kann, erstens ein Unrecht zufügt und ihm zweitens weniger Recht geschehen läßt als einem andern Unschuldigen, dessen Freispruch aus erwiesener Unschuld erfolgt; das Prinzip der Rechtsgleichheit und das noch weit fundamentalere, daß Gerichte dazu da sind, Unrecht zu sühnen, nicht zu tun, werden in einem solchen Falle also in einem verletzt. Was ergibt sich hieraus? Zunächst, wie schon dargelegt, daß der Staat dann kein Rechtsstaat, ja daß die Richter und Staatsanwälte, die unter einem derartigen Gesetz widerspruchslos ihres Amtes walten, und die Parlamentarier, die nachts schlafen können, ohne es tags zuvor geändert zu haben, mit Sicherheit nur für Menschen gelten können, wenn wir diesen Begriff in einem rein biologischen Sinn hören, aber was ergibt sich für die Bewußtseinsordnung solcher Lebewesen, nach Maßgabe des explizierten Befunds? Da die Möglichkeit, daß ein Gericht bewußt Unrecht tut, selbst in Deutschland, im Augenblick, wenigstens nicht die Regel sein dürfte, so bleibt als Alternative lediglich die andere Möglichkeit, daß der Grundsatz, wonach ein Angeklagter bis zum Beweis seiner Schuld für unschuldig gilt und es rechtlich also ist, zwar im Rechtsstudium gelernt worden, im Gewissen aber nicht beheimatet ist; denn er ist in den Gesetzen selbst nicht beheimatet, wie sich nun zeigt, und nur bei solcher Heimatlosigkeit des Grundsatzes, in den Gewissen und im Gesetz, verbleibt jene logische Möglichkeit, die der Logos des Rechtsdenkens, also abendländischer Geist, nie geküßt hat und die das hier erörterte Mittelding zwischen einem Unschuldigen und einem Schuldigen ist.

Der Satz, daß der Mensch in Deutschland a priori für angeklagt gilt, besteht demnach zu Recht; es handelt sich um keinen Kafkaismus (auch weiterhin wird die Staatsfrömmigkeit jenes Verdikt sich verkneifen müssen), sondern um die vollkommene Bestätigung des weiter oben betrachteten geheimnisvollen Anspruchs der Obrigkeit an das deutsche Bewußtsein, erstens auf Immunität ihrer Amtswalter, was immer geschehe, zweitens auf ihren Fortbestand, in anonym institutioneller Gestalt, als Paragraphen- und Funktionärapparat, worin persönliche Verantwortung nicht zu fassen ist, sondern gerade die Verstecke zu finden sind, deren die verantwortungsbewußte Un-Person stets bedarf. Was für die logisch-moralische Grundlage des diskutierten Paragraphen gilt, gilt nicht weniger für die jenes andern, der bei neuauftauchender Evidenz zugunsten eines Verurteilten das Wiederaufnahmeverfahren nicht vorschreibt, sondern erlaubt; demgemäß sind Wiederaufnahmeverfahren, bei dem der Apparat zum Angeklagten seiner selbst werden muß, entweder, wie der Fall Brühne-Ferbach erweist, nicht zu erwarten8 oder es ist (durch den erstgenannten) dafür gesorgt, daß wenigstens dieser Angeklagte freigesprochen wird, und zwar unqualifiziert, nie, wie Maria Rohrbach, bloß aus Beweismangel. Da die faktische Anonymität der Legislative, also des Bundestags, der genannte Kodifizierungen eines hochnäsig stumpfen Frevels nicht abschafft, und die des Justizapparats einander in die Hände arbeiten, sind die persönlichen Verantwortungen immer nur in der Verteilung, abgestuften Dosierung auszumachen, die schon festgestellt wurde und deren Etablierung im Einzelfall auch bei geringerer technischer Schwierigkeit in der Bundesrepublik wahrscheinlich nicht versucht werden würde, da das verletzte Menschenrecht ja in der Regel nicht das eigene ist. Vielmehr ist es das eines Andern, eines fremden Mitmenschen, eines überdies in einem solchen Falle nicht einmal im deutschen Normalmaß Beargwöhnten, sondern staatlich, wirklich staatlich, wie wägen wir nur das Wort ab, Verdächtigten – und mithin, außer der Verdächtigte handelte aus Amtseigenschaft, in welchem Fall er ja selbst Teil der Obrigkeit ist oder zu irgendeiner Zeit war, überhaupt eigentlich keines Menschen, sondern einer Quelle des Schauders.

Aber die Strafrechtsreform, zu der als eines der nötigsten Vorhaben auch die der Strafprozeßordnung gehört, kommt nicht voran; und in ihren bisherigen Entwürfen spart sie die entscheidenden Paragraphen entweder aus oder ist sich über das gerade, was die Klarheit selbst ist, noch nicht genügend im Klaren. Jedenfalls vertagt man sie, und wie immer in Deutschland in solchen Fällen berufen die Dickfelligen sich justament auf Gewissensgründe, in diesem Fall auf die Gründlichkeit, die gerade eine solche Reform, was freilich niemand in Abrede stellt, doch verlange und deren a priori geltende Identität mit einer trägen Achtstundentagsindolenz, während mit hoher Wahrscheinlichkeit unschuldig Verurteilte in den Zuchthäusern, Beschuldigte jahrelang in Haft sitzen, nur kein Abgeordneter, dem Augenschein nach, je in deutschen Landen bezweifelt: als sei die Gründlichkeit ersitzbar, nicht wie in andern Berufen, die die Menschheit voranbringen, eine Leistung des Denkens aus nicht Ruhe gebender Erkenntnispassion. Andere Gesetze oder Gesetzesänderungen, die die Opportunität der Machtverhältnisse, die Wirklichkeit oder Vermeintlichkeit eines Interesses den Bundestagsabgeordneten eingeben, werden nicht vertagt, sondern in Angriff genommen, erledigt – der Notstand, dem eine solche Beschleunigung der Gründlichkeitsstolzen gelingt, darf nur in keinem Falle ein solcher des Menschen schlechthin sein, denn dieser bleibt Objekt der Gesetzgebung, er ist nicht wie anderswo auf Erden ihr Prinzip, ihr Maß und ihr Herr. Vom Standpunkt des Deutschen, der ein Mensch zu sein sich schon entschlossen haben sollte, bleibt zur Veränderung dieser Dinge manches wichtig, worauf ein späteres Kapitel dieses Buches noch kommt, vor allem aber darf erwähnte faktische Anonymität des Parlaments nicht länger anerkannt werden, sondern muß durch die persönliche Rechenschaft ersetzt werden, die der Abgeordnete in Demokratien dem Wähler nicht nur auf dem Papier schuldet. Ihre Voraussetzung ist, daß dieser wie in den angelsächsischen Ländern auf den voting record seines Abgeordneten zu achten beginnt; wo im Widerspruch zum Grundgesetz die Abgeordneten ihr Gewissen zugunsten von Fraktionszwängen suspendiert haben, dementsprechend aber, zunächst noch, auf denjenigen ihrer Partei. Während in England Lord Denning, ein Politiker von unanfechtbarer persönlicher Integrität, deretwegen er das Vertrauen seiner Mitbürger besitzt, innerhalb von drei Monaten den Profumo-Fall auch judiziell klären konnte, nachdem der Rechtssinn seiner Mitkonservativen einen Minister, der sie anschwindelte, aus dem öffentlichen Leben gleich vertrieben hatte, wartet anderthalb Jahre, nachdem er in Haft war, Augstein immer noch auf die Anklage; und die gleiche Nummer vom 20. Juli 1964, in welcher die ›Süddeutsche Zeitung‹ eines Vermächtnisses der Freiheit gedenkt, meldet dreijährige Untersuchungshaft eines bundesdeutschen Staatsangehörigen, gegen den nach zweieinhalb Jahren Haft die Staatsanwaltschaft Anklage erhob9.

Aber sie meldet das eben nicht auf Seite 1, wohin ein jäher Auftritt Attilas mitten im europäischen zwanzigsten Jahrhundert doch nach journalistischer Logik gehört, sondern auf Seite 5, an versteckter Stelle, und sie meldet es dem Wortlaut der Nachricht nach auch gar nicht um der Sache selbst willen, sondern weil die Straßburger Kommission für Menschenrechte des Europarates eine Beschwerde des Gefangenen gegen die Bundesrepublik für zulässig erklärt hat – was impliziert, daß die Bundesrepublik jener Nachprüfung ihres Verständnisses für die Menschenrechte, die einem Rechtsstaat nur willkommen sein kann, vorher opponiert haben muß. In kaum geringerer Unauffälligkeit (wir halten immer noch bei der Nummer vom 20. Juli) wird eine Meldung ›Wieder Vorwürfe gegen Vialon‹ gebracht10, den Staatssekretär in Bonn, der einmal Reichskommissar jenes Ostlandes war, in welchem eine hunnische Chemie Millionen von Menschenleben vernichtete, und dessen Rücktritt deutsche Studenten fordern, damit der neue Staat doch etwas mehr sei als Trug. Damit er ein Erbe des Widerstandes sei: dessen Vermächtnis dürfe sich in Gedenkfeiern nicht erschöpfen. Nun ist die ›Süddeutsche Zeitung‹ die beste in der Bundesrepublik überhaupt. Aber was kann aus einem Menschenvolk, das in seiner Majorität noch keines ist, eigentlich werden, wenn seine beste Tageszeitung nicht unentwegt im Auge behält, daß sie eine erzieherische Aufgabe hat?

So können die Monopolisten der Blutrünstigkeit denn eines ruhigen Lebensabends gewiß sein, ihre Handlanger unabänderlich die Staatskarriere machen, die sie doch nun einmal ergriffen haben, kann unverurteilten Teilnehmern am freien Rechtsstaat ein ganzer Lebensabschnitt polizeilich entzogen werden und können in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin Hexenprozesse stattfinden: wie unter dem Titel ›Hetzjagd auf die schöne Frau‹ Petra Kipphoff in der Zeit‹ vom 3. April 1964 bewies11. Ich zitiere aus ihrem Résumé zu einer brillanten Analyse des Strafprozesses gegen Eva Maria Mariotti:

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22 aralık 2023
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851 s. 2 illüstrasyon
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9783866744820
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