Kitabı oku: «Das Proust-ABC», sayfa 5

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Badeanzug

Peinliches Kleidungsstück des kindlichen Erzählers, das den Spott von ►Charlus herausfordert, als Marcel auf seine Avancen nicht so reagiert, wie Charlus sich dies wünscht, sondern stattdessen die Liebe zu seiner Großmutter beschwört: »›Mein Herr‹, sagte er mit eisiger Miene und trat einen Schritt zurück, ›Sie sind noch jung, Sie sollten die Gelegenheit nutzen, zwei Dinge zu lernen: zum ersten sollten Sie davon Abstand nehmen, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die zu natürlich sind, als dass sie sich nicht von selbst verstünden; zum anderen, nicht hitzig auf Dinge, die man Ihnen sagt, zu antworten, bevor Sie deren Bedeutung erfasst haben. Wenn Sie eben gerade diese Vorsicht hätten walten lassen, hätten Sie sich erspart, den Eindruck zu erwecken, Sie redeten ungereimtes Zeug daher wie ein Gehörloser, und damit eine zweite Albernheit zu der ersten hinzuzufügen, nämlich den gestickten Ankern auf Ihrem Badeanzug.‹« Dieser Spott wirkt zunächst nur wie ein beliebiger Hieb unter die Gürtellinie, mit dem Charlus seinem Ärger darüber Luft macht, dass Marcel den »tieferen Sinn« seiner Scherze, nämlich deren erotischen Charakter, nicht begriffen hat. Auf den zweiten Blick jedoch greift der zurückgewiesene Charlus mit seiner Häme nicht nur Marcel an, sondern in einem verbitterten autoaggressiven Akt wendet sich seine Enttäuschung hier gegen ihn selbst. An vielen anderen Stellen des Romans erscheint gerade der Baron als ein Liebhaber diskreter Stickereien auf Taschentuchrändern, Socken, Kragen usw. Während er nach außen hin rigorose Männlichkeit vertritt, jeden hübschen Jüngling für eine verweichlichte »Kanaille« hält und einem Mann »nicht einmal das Tragen auch nur eines Ringes zugestehen« will, blitzt in den Stickereien, den Farbrändern, den Socken unter seiner elegant schlichten Kleidung eine geheime, von ihm selbst als unmännlich verdrängte Identität auf, im Verborgenen der Wäsche knospt seine ganz persönliche Mädchenblüte: »In diesem Augenblick bemerkte er, dass ein besticktes Taschentuch seinen farbigen Rand aus seiner Tasche hervorlugen ließ, und schob es rasch mit der erschreckten Miene einer schamhaften, aber keineswegs unschuldigen Frau zurück, die Reize verbirgt, die sie in übertriebener Bedenklichkeit für anstößig hält.«

Die Schmähung der kleinen gestickten Anker offenbart also eine wichtige Grundregel im scheinbar so unberechenbaren Verhalten des Barons: Jede Grausamkeit, jede Aggression seinerseits ist immer auch eine Aggression gegen ihn selbst, in der der konventionelle, zwanghaft angepasste Teil seiner Persönlichkeit den anderen, verborgenen straft und sich die geheimen Lüste verbietet. Gegen Ende des Romans wird die Selbstbestrafung von Charlus sehr viel krassere Formen annehmen als die Verdammung hübscher Ornamente – nur indem er sich in Ketten gelegt auspeitschen lässt, kann der stets Zurückgewiesene und nun auch gesellschaftlich Geächtete noch sexuelle Befriedigung finden. Diese Entwicklung ist für Marcel umso bestürzender, als gerade Charlus’ Beobachtungsgabe, seine Liebe zum Detail, sein Formensinn und sein unübertreffliches Gedächtnis für Stile und Moden ein Vorbild für künstlerische und insbesondere schriftstellerische Tätigkeit sein können. Charlus trägt in der Gesellschaft den Spitznamen »die Schneiderin«, und Proust wird in Die wiedergefundene Zeit die Arbeit an seinen Manuskripten, an deren Rändern er Teile anstückt, mit ►Françoises Näharbeiten vergleichen. Letztlich ist es also auch die Verdrängung seiner Lust an Stickerei und Ornament, die verhindern wird, dass der so intelligente, wendige und außergewöhnliche Baron vom Dilettanten zum Künstler werden kann.

Balbec

Fiktiver Badeort an der Kanalküste zwischen der Bretagne und der Normandie, den Marcel zunächst mit seiner ►Großmutter und später alleine aufsucht. Die Reise nach Balbec besiegelt das Ende seiner Liebe zu ►Gilberte und lässt ihn mit ►Albertine und dem ►Impressionismus zusammentreffen. Anhand der Vorstellungen und Phantasien, die Marcel immer wieder mit dem Namen Balbec verbindet, lassen sich die Mechanismen von Illusion und Desillusion subjektiver Wahrnehmung nachvollziehen, die den Roman auf allen Ebenen bewegen: Zunächst verbindet der OrtsnameOrtsname in der Vorstellung des Erzählers archaische Kunst und gewaltige Natur. Bei der Ankunft ist er enttäuscht, statt der erwarteten sturmumtosten keltischen Kirche einen mondänen Badeort vorzufinden, bald aber füllt sich der vorübergehend entzauberte Name Balbec mit neuen Assoziationen, die das Meer und den Ort jetzt in zartfarbigen, »impressionistischen« Bildern untrennbar an das Begehren nach Albertine knüpfen. In dem Maße jedoch, in dem die Eifersucht des Erzählers zunimmt und er immer neue Hinweise zu entdecken vermeint, dass Albertine in der Umgebung von Balbec ein ganzes Netz sexueller Beziehungen unterhält, wird ihm der Aufenthalt an diesem Ort zur Qual – gerade jene Bilder, die ihn zunächst bezaubern, verheißen ihm nun unendliche Leiden: »Ich hatte nicht einmal daran gedacht, die Läden zu schließen, denn in diesem Augenblick sah ich, als ich die Augen hob, direkt vor mir am Himmel dasselbe schwache Glühen eines verlöschenden Rot, das man im Restaurant von Rivebelle in einer Studie ►Elstirs sah, die er von einem Sonnenuntergang gemacht hatte. Mir fiel die Aufregung ein, in die mich am Tag meiner ersten Ankunft in Balbec dieses gleiche Bild, als ich es vom Eisenbahnzug aus sah, eines Abends versetzt hatte, der nicht der Nacht vorausging, sondern einem neuen Tag. Doch kein einziger Tag würde jetzt mehr neu für mich sein und das Verlangen nach einem ungekannten Glück erwecken, er würde lediglich mein Leiden verlängern, bis ich nicht mehr die Kraft hätte, es zu ertragen.« Durch das ausweglose Verhältnis zu Albertine haben die Namen, Orte und Impressionen ihre Fähigkeit verloren, zu Trägern von Sehnsüchten zu werden – sie können keine Glückserwartungen mehr aufnehmen, da sie bereits mit dem Leid des Gegenwärtigen angefüllt sind. Erst in der Erinnerung wird das Balbec der Bilder und der Sehnsüchte – sei es das der keltischen Kirche vor dem Meer oder das der impressionistischen Sonnenauf- und -untergänge – wieder zum Leben erweckt werden, allerdings müssen dafür die Erinnerungen an die Leiden der ►Eifersucht und damit die Person Albertines verdrängt werden.

Vorbilder für die Beschreibungen Balbecs waren die Badeorte in der Normandie und der Bretagne, die Proust mit seiner Großmutter und seinen Eltern wiederholt besuchte: Trouville, Dieppe, Cabourg (wo das von ihm frequentierte Grand-Hotel heute noch unverändert steht) und Beg Meil, in das ihn eine Bretagne-Reise mit Reynaldo Hahn führte.

Balzac, Honoré de (1799–1850)

Proust schätzte Balzacs Werke sehr, kritisierte aber auch seinen nachlässigen Stil, seinen Hang zum Melodram und seine vulgäre Ausdrucksweise. In ►Contre Sainte-Beuve, den ersten, essayistischen Entwürfen zum Roman, ist der Herzog von Guermantes ein passionierter Balzac-Leser; er kann sich kaum zwischen einer Balzac-Lektüre und seiner zweiten Leidenschaft entscheiden, der Benutzung des ►Stereoskops. Diese analog gesetzten Leidenschaften des Herzogs geben Aufschluss darüber, was Proust an Balzac schätzt: In seinem Romanzyklus der Comédie humaine erzielt Balzac einen der optischen Wirkung des Stereoskops vergleichbaren Effekt eines mehrschichtigen Raums, indem er in den ansonsten voneinander völlig unabhängigen Teilen die gleichen Personen wiederkehren lässt. Dieser Kunstgriff, den Balzac selbst nicht von vornherein geplant hatte, gibt dem Werk im Nachhinein den Charakter eines in sich geschlossenen, umfassenden Universums, ohne die Eigenständigkeit der einzelnen Episoden und Romane zu beeinträchtigen. Eine ähnliche künstlerische Einheit, welche »nicht die Vielfalt beengt«, eine solche Geschlossenheit, die gleichzeitig einen Eindruck von Unabgeschlossenheit und Unfertigkeit vermitteln kann, da sie nachträglich ist, erzielt für Proust auch Wagners ►Musik durch die Technik der Leitmotive: »Wagner, der aus seinen Schubladen ein hinreißendes Stück zog, um es als ein im Rückblick unverzichtbares Thema in eine Oper einzufügen, an die er noch gar nicht gedacht hatte, als er es komponierte, der nach der ersten mythologischen Oper eine zweite und dann noch weitere komponierte, bis er plötzlich merkte, dass er dabei war, eine Tetralogie zu schaffen, muss etwa der gleiche Schwindel ergriffen haben wie Balzac, als er auf seine Werke den Blick zugleich eines Außenstehenden wie auch eines Vaters warf und […] sich plötzlich im Licht dieser rückwärtsgewandten Betrachtung darüber klar wurde, dass sie noch schöner wären, wenn er sie zu einem Zyklus, in dem die gleichen Personen wiederkehren, vereinigen würde und durch diesen Zusammenschluss seinem Werk den letzten und erhabensten Pinselstrich hinzufügte.« Das Prinzip einer nachträglichen Einheit, die nicht willkürlich aufgesetzt wirkt, da sie sich aus der Betrachtung der bereits vorhandenen Teile erst ergibt, begeistert Proust auch deshalb so, weil es der Entstehungsgeschichte seines eigenen Romans entspricht: Die Geschichten, Beschreibungen, Reflexionen und Themen aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – von den Natureindrücken über die verschrobenen Personen bis zu einzelnen Episoden – trägt er bereits seit seinen allerersten Schreibversuchen in sich, aber erst das Thema der Erinnerung ermöglicht es ihm, sie locker und doch im Innersten zusammengehörig zu verbinden.

Der Auftakt von Sodom und Gomorrha, also jenem Romanteil, den Proust erst spät in das ursprüngliche Romankonzept einfügte, entspringt nicht mehr einer Erinnerungssituation (wie der Auftakt von Combray), sondern er entwirft eine Beobachtungsposition des Erzählers: Von der Treppe des Stadthauses der Guermantes blickt er auf die Hügel und Dächer von Paris, die ihm wie geologische Formationen erscheinen, auf denen sich als winzige Lebewesen die zu ihren Arbeitsstellen strebenden Dienstboten bewegen. Kurz darauf wird der Erzähler auf seinem Beobachtungsposten geheimer Zeuge des Liebesspiels zwischen Jupien und Charlus, das er mit der Befruchtung einer Orchidee durch eine Hummel vergleicht. Der neuere Romanteil zitiert damit erkennbar jenen »naturwissenschaftlichen« Blick auf das Panorama der Gesellschaft, den Balzac als die eigentliche Aufgabe des Romans formulierte. Selbst der sich hier ankündigende Einbezug der ►Homosexualität in die gesellschaftliche ►›Botanik‹ findet seine literarischen Vorbilder bereits bei Balzac, wie dessen Leser Charlus an anderer Stelle ausdrücklich bemerkt.

Bäume

Meist erhebend schön und damit in Prousts Universum ein Gegenpol zum Schmerz. Der Anblick blühender Büsche und Bäume, seien es ►Weißdornhecken, ►Apfel- oder ►Birnbäume, versetzt den Erzähler immer wieder in Entzücken und befördert seinen Entschluss, das Schöne festzuhalten und Schriftsteller zu werden. Je häufiger er jedoch Leid und Schmerz erfährt und sich mit der Unmöglichkeit konfrontiert sieht, das, was er begehrt, auch besitzen zu können (z. B. seine Mutter oder Albertine), desto mehr verblasst die Bedeutung der Bäume. Nach und nach begreift der Erzähler, dass nicht nur die zeitlose und erfassbare Schönheit der pflanzlichen und unbelebten Natur der Gegenstand seines Romans sein kann, sondern dass er sich auch der unwägbaren und leidbringenden menschlichen Natur widmen muss. In Die wiedergefundene Zeit geben ►Krieg und Sanatoriumsaufenthalt den letzten Anstoß zu diesem Kunstkonzept, das Schönheit und Schmerz vereinen soll; bei seiner Rückkehr bemerkt der Erzähler, dass die Bäume verstummt sind, dass sie nicht mehr wie die Weißdornhecke oder die Apfelbäume eine Botschaft an ihn zu richten scheinen: »›Bäume‹, dachte ich, ›ihr habt mir nichts mehr zu sagen, mein erkaltetes Herz hört euch nicht mehr. Ich befinde mich hier zwar in der freien Natur, schön, doch meine Augen nehmen nur kühl und gelangweilt die Linie wahr, die eure leuchtende Stirn von eurem schattigen Rumpf trennt. Wenn ich mich jemals für einen Dichter habe halten können, so weiß ich jetzt, dass ich keiner bin. Vielleicht könnte mich ja in dem neuen, dem gefühlskalten Teil meines Lebens, der sich vor mir auftut, der Mensch mit dem inspirieren, was mir die Natur nicht mehr sagen kann.‹« Auch die Menschen allein können die Inspiration nicht leisten, aber in ihrer Betrachtung erschließt sich dem Erzähler die Bedeutung von ►Alter und ►Zeit und führt ihn über den Umweg der Erinnerung zur Natur zurück.

Bergotte

Von Marcel bewunderter Schriftsteller. Bloch macht Marcel mit den Romanen von Bergotte bekannt, die ihm eine neue Welt eröffnen und mit deren ►Lektüre er große Teile seiner Kindheit in ►Combray verbringt. Besonders der Stil Bergottes hat es ihm angetan, der immer wieder Überraschendes, Neues hervorbringt, zugleich aber sich selbst treu bleibt und so als Form einer individuellen, unverwechselbaren Weltsicht erkennbar wird. Dadurch kann der Leser sowohl den Reiz des Unerwarteten als auch die Freude des Wiedererkennens genießen – anhand von Bergottes Schreiben formuliert Proust jene Bedingungen, die beide zusammen erst den Kunstgenuss ermöglichen und ein Werk schaffen: Originalität und Wiederholung. Vinteuil und die ►Berma werden diese Fundamente des Kunstgenusses bestätigen: Erst im Wiedererkennen der sich ständig wandelnden »kleinen Phrase« entsteht der Reiz von Vinteuils ►Musik, und erst bei seinem zweiten Theaterbesuch kann Marcel die Größe im Spiel der Berma erfassen. So wie später Albertines Reiz für Marcel durch ihre Bekanntschaft mit ►Elstir gesteigert wird, entflammt sein Begehren für ►Gilberte noch stärker, als er erfährt, dass Bergotte bei den Swanns verkehrt und sie ihn persönlich kennt. Zu den Reliquien, die Marcel jeden Abend in der Einsamkeit seines Zimmers anbetet, gehören die Briefe Gilbertes, die Achatmurmel, die sie ihm geschenkt hat, und ein kleiner Aufsatz Bergottes, den sie ihm besorgt hat. Der ►Name des Schriftstellers wird zu einem symbolischen Gefäß, das nicht nur die Lektüreerlebnisse Marcels und seine damit verbundenen Phantasien in sich aufnimmt, sondern auch das ganze unerfüllte Begehren nach Gilberte und dem Haus ihrer Eltern.

Kein Wunder also, dass Marcel bei seinem ersten, sehnsüchtig erwarteten Zusammentreffen mit dem Schriftsteller schwer enttäuscht wird: Anstelle des »gefühlvollen Greises«, den er sich vorgestellt hat, findet er einen kleinen Mann mit »Schneckenhausnase« vor, der sich mit monotoner und merkwürdiger►Stimme in belangloser ►Konversation ergeht. Für Marcel bestätigt sich hier auf schmerzliche Weise die von Proust schon in Contre Sainte-Beuve formulierte Einsicht, dass ►Kunst und Künstler, Werk und gesellschaftliche Existenz nichts miteinander zu tun haben, sondern zwei getrennten Seiten ein und derselben Person entsprechen: einer verborgenen, dem Künstler selbst unbewussten Tiefenschicht, die nur im Werk Ausdruck findet, und einer öffentlichen Erscheinung, die von der Gesellschaft oft fälschlicherweise mit dem Werk identifiziert wird. Bergottes Werk wird im Laufe der Zeit für Marcel verblassen; in dem Maße, in dem der Schriftsteller immer berühmter und sein Stil zur literarischen Mode wird, verliert sein Werk die Fähigkeit zu überraschen. Schließlich wird er für Marcel von einem »neuen Autor« mit neuem, revolutionärem Stil verdrängt, der allerdings nur kurz Erwähnung findet.

Proust hatte wohl ursprünglich geplant, Bergotte bis zum Schluss im engeren Kreis der Romanfiguren zu belassen, wie sein Auftreten als Freund der Familie Saint-Loup gegen Ende des Romans belegt. Ein Jahr vor seinem eigenen ►Tod jedoch fügt Proust eine längere Szene in Die Gefangene ein, die das langsame Dahinsiechen und den Tod Bergottes bei einem Ausstellungsbesuch beschreibt. Es gibt zahlreiche mögliche Begründungen für dieses Sterben der einzigen Schriftstellerfigur des Romans: Zum einen geben Krankheit und Tod Bergottes Proust die Gelegenheit, seine eigene schwindende Gesundheit zu schildern und sich gedanklich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Die schrecklichen ►Träume Bergottes, der im Schlaf den Eindruck hat, man zersäge seinen ►Körper oder er sterbe an einem Schlaganfall, seine Zurückgezogenheit, seine Schlaflosigkeit, die ihm als einzige Freude noch das Ausprobieren neuer Schlafmittel und künstlicher Ohnmachten lässt – all das entspricht ziemlich genau den überlieferten Lebensumständen des kranken, aber ständig arbeitenden Proust. Bergottes letzter Gedanke, er wolle nicht Teil der vermischten Nachrichten des folgenden Tages werden, und Bergottes Bücher in den Vitrinen, die in den Augen Marcels ihren Schöpfer »überleben«, zeigen darüber hinaus, dass hier auch der ►Ruhm des Schriftstellers zum Thema wird: Im Überleben der Bücher liegt ein Versprechen, zugleich aber setzt der Nachruhm den Tod des Autors und die Preisgabe seines Werkes an ein unbekanntes Publikum voraus, so dass offenbleibt, ob der Tod als Freund oder als Feind kommt.

Damit ist noch nicht erklärt, warum Bergotte schon in Die Gefangene stirbt und nicht erst am Ende des Romans, wie zum Beispiel die Berma. Die Platzierung innerhalb des Werkes macht es möglich, den Tod des Schriftstellers auch als eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen literarischen Stilen zu lesen. So stilbildend Bergotte in seiner besten Zeit war, stirbt er im Gefühl seines Versagens und kann offenbar auch nicht als Modell für jene Art des Schreibens dienen, wie sie Marcel oder Proust selbst vorschweben. Seine neuen Vorbilder findet Marcel nicht unter den Schriftstellern, sondern im Musiker Vinteuil und vor allem im Maler Elstir. Nicht ein Schriftsteller lehrt ihn die Kunst der ►Metapher und der Perspektive, sondern ein impressionistischer Maler. So wird der Tod Bergottes, den keine neue Schriftstellerfigur ersetzt, zum Zeichen für Prousts Versuche, mit den Traditionen der Literatur zu brechen und deren herkömmliche Erzählverfahren durch Techniken zu ersetzen, für die es zu seiner Zeit kaum literarische Vorbilder gibt. Und gerade von Bergottes Tod an setzt er diese Techniken auch verstärkt ein, die insbesondere auf das Erzählen einer »objektiven« Geschichte verzichten, zugunsten der Abfolge einander ständig widersprechender, flüchtiger und radikal subjektiver Eindrücke. Auf diese Weise erfüllt Proust das Vermächtnis Bergottes, der noch im Sterben bedauert hatte, nicht genug an den einzelnen Facetten seines Werks gefeilt zu haben, dem einzelnen Satz, dem einzelnen Bild, der einzelnen kostbaren Impression nicht genügend Gewicht auf Kosten des Ganzen gegeben zu haben. Insgesamt dient Bergotte weniger dazu, Anspielungen auf reale Autoren unterzubringen (unter anderen sollen Ruskin, Bourget, Bergson, Daudet, Barrès, Renan und France Vorbilder sein); die Schriftstellerfigur illustriert vielmehr, dass Kunst und literarischer Stil keinem überzeitlichen Ideal folgen, sondern dem Wandel sowohl der Vorstellungen des Autors als auch der seines Publikums unterworfen sind.

Bergson, Henri (1859–1941)

Französischer Philosoph und Schriftsteller, der am berühmten Collège de France lehrte und 1927 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Proust war mit ihm verschwägert, kannte ihn jedoch nicht. Für seine Theorie der unwillkürlichen Erinnerung inspirierte ihn unter anderem Bergsons Werk Matière et mémoire (1896), in dem dieser unterscheidet zwischen einem »reinen« Gedächtnis, das vergangene Bilder und Ereignisse in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit bewahrt, und einem zweckgebundenen, das sich an wiederholten Handlungen orientiert und ►Gewohnheiten speichert.

Berma

In der Welt des Romans berühmte Theaterschauspielerin. Marcel erwartet sich von einem Auftritt der Berma ähnlichen ästhetischen Genuss wie von einer Reise nach ►Venedig oder ►Balbec. Die Ankündigung, er werde tatsächlich nach Venedig fahren, ruft bei ihm ein nervöses Fieber hervor, das sowohl die Reise als auch einen Theaterbesuch vereitelt, bei dem er die Berma sehen sollte. Als Marcel schließlich später im Theater sitzt, wiederholt sich die Enttäuschung auf andere Weise: Zwar verhindert jetzt keine Krankheit seine körperliche Anwesenheit, aber durch die Aufregung entgleitet ihm der so ersehnte Eindruck unaufhörlich. Er kann die Aufführung nicht genießen, ja er kann sie kaum wahrnehmen, da er in jeder neu auftretenden Darstellerin die Berma vermutet. Als sie endlich erscheint, ist seine Auffassungsgabe bereits erschöpft. Auch das Besondere an ihrem Spiel vermag er nicht zu erkennen, in seiner befremdlichen Monotonie scheint es ihm so schlecht wie das einer Lyzeumsschülerin. Erst sehr viel später wird er die Gründe für seine Enttäuschung verstehen: Dadurch, dass er bereits ein festes Bild von der Berühmtheit und der außergewöhnlichen Bedeutung der Berma in die Vorstellung mitbrachte, konnte er keine eigene, subjektive Perspektive mehr einnehmen, sich nicht mehr überraschen lassen – nach Proust eine der wichtigsten Bedingungen für den Kunstgenuss. Sich selbst entfremdet, weiß Marcel erst, dass es schön war, kann er erst Emotionen aufbringen, als er mit der Masse applaudiert. Fast fühlt er sich schuldig ob seiner inneren Gleichgültigkeit dem anerkannten Star gegenüber und versucht im Nachhinein durch das Gespräch mit dem Berma-Bewunderer Norpois oder die Lektüre einer Zeitungsrezension pflichtgemäß an der allgemeinen Berma-Begeisterung teilzunehmen, was jedoch nur in klischeehafte Formulierungen mündet (»die reinste und höchste Verwirklichung von Kunst darstellte, der beizuwohnen unserer Zeit jemals vergönnt war«).

Neben der Übernahme einer Feuilletonperspektive besteht der zweite Fehler Marcels darin, das bewegte und bewegende Spiel der Berma festhalten zu wollen, um es zu verstehen: »Um ihn ausloten zu können, um herausfinden zu können, was an Schönheit in ihm steckte, hätte ich jeden Tonfall der Künstlerin, jeden Ausdruck ihrer Züge festhalten und lange Zeit vor mir unbeweglich stehen lassen mögen; […] Doch wie kurz diese Dauer war! Kaum hatte mein Ohr einen Klang empfangen, wurde er schon durch einen anderen ersetzt.« Erst als er zum zweiten Mal einen Auftritt der Berma erlebt, wird Marcel alle Fehler wiedergutmachen: Da er nichts Besonderes erwartet, seinen Eindruck nicht an »einer vorgefassten, abstrakten und falschen Idee« misst, entzückt ihn diesmal das Spiel. Im Nachhinein wird ihm bewusst, dass die Monotonie, der »gleichförmige Singsang« ihrer Diktion gerade das Neue war und ihn wie alles Neue, das wir nicht auf Anhieb verstehen, befremden musste – erst beim zweiten Mal, beim Wiedererkennen kann es Genuss bereiten. Und schließlich erkennt er, dass er ihr Spiel auch deshalb zunächst nicht erfassen konnte, weil er sich nicht auf die Oberfläche, auf die Erscheinung der Berma selbst konzentrierte und stattdessen versuchte, zur Bedeutung des gesprochenen Textes vorzudringen. Beim zweiten Mal, als er den Auftritt der Berma als »Klangkunstwerk« genießt, zeigt er ihm ähnlich wie die Werke ►Elstirs, dass nicht der Gegenstand – zum Beispiel der Text Racines – das Entscheidende in der Kunst ist, sondern die Darstellungsweise, die unverwechselbare Färbung, die der Künstler dem Dargestellten durch seine subjektive Perspektive verleiht: »Ich begriff jetzt, dass das Werk des Autors für die Tragödin lediglich in sich fast belangloses Material für die Schöpfung ihres eigenen interpretativen Meisterwerks ist, so wie der große Maler, den ich in Balbec kennengelernt hatte, Elstir, das Motiv für zwei gleichwertige Bilder in einem gesichtslosen Schulgebäude beziehungsweise in einer Kathedrale gefunden hatte, die allein schon ein Meisterwerk ist.« So groß die Enttäuschung beim ersten Mal war, so perfekt illustriert die Kunst der Berma jetzt die anhand des Impressionismus neugewonnenen ästhetischen Erkenntnisse Marcels. Proust wird später den Gedanken einer »impressionistischen« Textinterpretation, wie sie die Berma vollzieht, bei seinen Überlegungen zur ►Lektüre wiederaufnehmen: Wie die Berma transformiert auch jede Lektüre den Ursprungstext und macht ihn zu einem subjektiven »veränderlichen Meisterwerk«. Der Schriftsteller wird damit zum ›Rohstoffproduzenten‹, eine Rolle, mit der sich Proust nach einigem Zögern und einigen Zuckungen seiner Autoreneitelkeit abzufinden scheint.

Angesichts dieser höchst komplizierten, aber auch genussvollen kunsttheoretischen Überlegungen, die sich in der ersten Hälfte des Romans an die Figur der Berma knüpfen, sind ihre Auftritte im zweiten Teil geradezu entweihend und stehen ganz im Zeichen der Welt von Sodom und Gomorrha. Die Berma wird eine jener »entweihten Mütter« und Väter, zu denen Vinteuil und Swann gehören, aber auch die Mutter des Erzählers, und denen Proust ursprünglich ein ganzes (nie geschriebenes) Kapitel widmen wollte (»les mères profanées«). Alt und gebrechlich fängt sie wieder an zu spielen, um ihrer Tochter Geld zu verschaffen, während diese bei der gehässigsten Konkurrentin der Berma, bei Rahel, antichambriert, die inzwischen zum neuen Theaterstar aufgestiegen ist. Die ehemalige Prostituierte Rahel versetzt der ehemaligen Künstlerin Berma schließlich den Todesstoß, als sie ihr verrät, dass Tochter und Schwiegersohn der Berma ein mondänes Fest, bei dem Rahel rezitiert, einem Abend mit der eigenen Mutter vorgezogen haben. So bleibt zum Ende des Romans auch diese leuchtende Vertreterin der Kunst nicht von einer Entwürdigung durch sexuelle und mondäne Interessen verschont, und selbst Marcel trauert weniger um sie, als in ihrem Tod eine Parallele zur Flucht Albertines zu sehen. Auch die Berma entgeht nicht dem Grundgesetz der Vergänglichkeit von Liebe und Kunst – auf beiden Gebieten werden Söhne und Töchter stets zu den Mördern ihrer Eltern.

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