Kitabı oku: «Der Salamander», sayfa 4

Yazı tipi:

Klar kann ich.

Michel schleckte gerade liebevoll seinen Dessertlöffel ab, den Teller hatte er schon minutiös gesäubert.

Mmh, mmh … diese Suppe hat aber ganz besonders gut geschmeckt … hätte meine Mutter gesagt. Sie lebt übrigens schon lange nicht mehr. Also Stocker, du kannst weitererzählen. Ich verstehe bis jetzt alles. Nur eines noch: muss ich mir die beiden Höfe in einem Dorf vorstellen, oder lagen die sozusagen alleine abseits? Vielleicht spielt es ja keine Rolle, aber ….

Doch, doch, du hast recht, das ist nicht ganz unwichtig: Die lagen ziemlich abseits. Bis ins nächste Dorf waren es sicher zwanzig Minuten zu Fuß.

Gut. Und wie geht es weiter? Du hast einen Mord angekündigt.

Der kommt, sei mal nicht so ungeduldig. Willst du noch einen Kaffee?

Michel nickte und Stocker gab seiner Frau ein Zeichen.

Also: Eines Tages im Hochsommer fand das älteste der drei Kinder, ein Mädchen, den Karst auf dem Boden seiner Küche. Zuerst dachte sie wohl, er würde schlafen. Ab und zu hatte er nämlich einen über seinen Durst getrunken, insofern war es für das Kind nichts besonderes, ihn irgendwo am Boden zu finden. Manchmal schlief er seinen Rausch im Stall oder auch schon mal auf dem Miststock aus. Also, das kannten sie. Damit konnte man sie nicht mehr sonderlich beeindrucken. Aber da war Blut – und zwar ziemlich viel Blut. Das Mädchen hatte einen Schock. Sie lief schreiend in das Haus und alarmierte Vater und Mutter. Es dauerte allerdings eine Weile, bis sie erklären konnte, was sie gesehen hatte. Der Vater ging sofort rüber und sah, dass der Karst tot war. Er lag offensichtlich in seinem eigenen Blut. Angefasst habe er ihn nicht, sagte der Vater atemlos, als er wieder kam, er habe vielmehr einen kleinen Spiegel über seinen offenen Mund gehalten und so gesehen, dass er tot wäre. Die Mutter wollte es gar nicht erst sehen und verbot den Kindern strikte, ins Haus rüber zu gehen. Der Vater musste sich erst einmal setzen, und die Mutter hat ihm sofort die Schnapsflasche hingestellt und die Kinder in ihre Kammer im ersten Stock gescheucht. Sie hatten also nicht mitbekommen, was ihre Eltern in der Küche gemacht oder besprochen haben, aber es ging relativ lange, bis sie durch das Fenster sahen, wie der Vater mit seinem Fahrrad ins Dorf gefahren ist. Sie hatten ja kein Telefon.

Stocker unterbrach sich einen Moment und holte tief Atem.

Michel stutzte.

Das ist deine Geschichte, Stocker, oder?

Stocker nickte.

Dieses Bild werde ich mein Leben lang nicht vergessen, nämlich wie mein Vater irgendwie geschwankt hat auf dem Fahrrad und sich sehr langsam vom Haus entfernt hat. Er fuhr über die holperige Feldstraße, die von unserem Haus ins Dorf führte, und es schien, als komme er nicht vom Fleck, obwohl er sich offensichtlich anstrengte. Wir haben unseren Vater dann wochenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Michel stutzte.

Warum denn das? Ist er verhaftet worden?

Ja, genau. Aber nicht nur er, auch meine Mutter kam in Untersuchungshaft. Sie wurden beide verdächtigt, gemeinsam den Karst umgebracht zu haben. Das habe ich aber erst viele Jahre später begriffen.

Gab es denn Hinweise?

Wart mal, Michel. Ich erzähle der Reihe nach, sonst vergesse ich die Hälfte.

Als unser Vater also ins Dorf gefahren war, hat uns unsere Mutter gepackt und zu ihrer Schwester gebracht, die auf einem anderen Hof wohnte, nicht weit von uns. Sie fand es besser, dass wir die ganzen Umtriebe mit der Polizei und dem toten Karst irgendwie nicht mitkriegen würden.

Michel räusperte sich.

Ja, gut. Das kann ich quasi aus mütterlicher Sicht sogar verstehen. Es gab zum Beispiel bei uns zu Hause vor der Haustür eine Weile Verkehrsunfälle. Es war wie verhext: genau vor unserem Haus. Als erstes hat meine Mutter mich jeweils ins hinterste Zimmer verbannt, damit ich ja nichts mitbekam. Dafür hat sich dann alles in meiner Fantasie abgespielt. War auch nicht besonders lustig. Wahrscheinlich habe ich mir die Verletzten drastischer vorgestellt, als sie es in Wirklichkeit waren. Aber erzähl weiter.

Ja. Ich komme jetzt zu einigen Fakten. Der Karst hatte insge samt sieben Messerstiche. Zwei im Rücken und fünf in der Brust. Jeder der einzelnen Stiche wäre bereits lebensgefährlich gewesen. Zusammen aber waren sie tödlich. Er sei wohl ziemlich schnell verblutet. Der Tod musste mitten in der Nacht eingetreten sein oder am ganz frühen Morgen. Da gab es zwei verschiedene Gutachten. Meine Schwester hatte ihn ungefähr um acht Uhr morgens gefunden. Wir hatten ja Schulferien.

Michel schaute ihn fragend an.

He ja, sonst wären wir schon längst in der Schule gewesen.

Aha. Ich verstehe. Und weiter?

Die Polizei fand ein Testament. Karst hatte alles meinem Vater vermacht. Den Hof und das Land und ein bisschen Geld auf der Bank. Und Geld, das er schwarz auf dem Hof versteckt hatte. Dazu komme ich noch. Somit hatten meine Eltern ein Motiv. Zweitens hatten sie in den Papieren meines Vaters ein Dokument gefunden, das Blutspuren aufwies.

Ja und?

Die Polizei fand heraus, dass es Blut vom Karst war.

Aha. Und auf dem Motiv und dem Blut bauten sie die Anklage auf. Verstehe. Oder gab es noch andere Hinweise?

Meines Wissens nicht. Aber die beiden Dinge wogen schwer: das Testament und das Blut.

Michel wiegte den Kopf.

Hatte man die Tatwaffe gefunden?

Nein. Das war ja das Übel. Keine Tatwaffe und keine fremden Fingerabdrücke. Es gab im ganzen Haus nur Karsts eigene Spuren und natürlich die von uns. Die von uns allen waren ja klar zu erwarten, denn wir alle waren tagtäglich in seinem Haus zugange.

Michel nickte.

Ja. Ich verstehe. Karst hatte nach deinen Aussagen keine Familie. Das heißt, es gab überhaupt keine Verwandten mehr, potenzielle Erben oder so? Ist eigentlich außergewöhnlich.

Ja, aber es war offenbar genau so. Karst stand menschenseelenallein im Leben und hatte praktisch nur uns. Insofern war es ja auch logisch, dass er uns – quasi seiner Ersatzfamilie – alles vermachte.

Ja, ich verstehe. Sind deine Eltern denn rechtsgültig verurteilt worden?

Nein, nein. Sie sind dann nach langem Hin und Her mangels Beweisen wieder entlassen worden. Es gab keine Beweise. Es gab nur das Motiv und diese Blutspuren. Mein Vater erklärte die übrigens damit, dass sich Karst sehr oft beim Rasieren geschnitten hatte, was auch stimmte. Das sahen wir alle immer wieder.

Michel guckte skeptisch.

Doch, glaub mir. Du kennst doch das bei diesen alleinstehenden Männern auf dem Land. Sie rasieren sich alle zwei Wochen mehr recht als schlecht, haben kein gutes Messer, sind ungeschickt, verwenden vielleicht sogar nur kaltes Wasser und haben keinen guten Spiegel, von Rasierschaum ganz zu schweigen.

Also gut. Karst rasiert sich ungeschickt, schneidet sich, das Blut tropft auf ein Dokument. Das Dokument wird unter den Sachen deines Vaters gefunden. Ja, das ist leider sehr ungeschickt. Hatte man denn eine genaue Vorstellung von der Tatwaffe?

Stocker stutzte.

Ja, ich meine, aufgrund der Wunden. Hatte die Polizei eine Vorstellung, was für eine Art Messer es hätte sein müssen? Ich meine diese Tatwaffe, die man nicht gefunden hatte.

Ach ja, genau. Es hätte ein Messer mit einer ungewöhnlich breiten Klinge sein müssen. Und aufgrund der Wunden sogar zweischneidig. Bei meinem Vater fand man sicher das eine oder andere Messer, aber keines mit solch einer Klinge.

Aha. Ein zweischneidiger Dolch mit breiter Klinge. Sogar ungewöhnlicher breiter Klinge, sagst du? Das gehört sicher weder damals noch heute zur Standardausrüstung eines Bauernhofes, das glaube ich gerne. Lässt ja auch schon Rückschlüsse auf ein bestimmtes Täterprofil zu.

Den letzten Satz murmelte Michel mehr so vor sich hin.

Was meinst du, Michel?

Nichts. Nichts. Es ist eh zu früh für irgendwelche Rückschlüs se. Sag mal, Stocker, nichts für ungut, aber jetzt brauche ich noch mal ein Bier. Ich habe so einen Durst bekommen.

Ja, ja. Ich bestell dir eins.

Danke, Stocker. Sag mal, gab es denn überhaupt keine anderen Spuren oder Verdächtigungen in dem Fall?

Doch, doch. Zuerst konzentrierte sich die Polizei wohl ausschließlich auf meine Eltern. Wir Kinder kriegten dann auch mal Besuch von einer Art Polizeitante, die uns befragte, aber natürlich ohne Resultat.

Frau Stocker brachte das Bier für Michel. Und für ihren Mann eine Karaffe mit Wasser. Er schenkte sich ein.

Zum Wohl, Michel.

Sie hoben beide die Gläser.

Zum Wohl, Stocker.

Stocker räusperte sich.

Plötzlich kamen ganz verrückte Gerüchte auf. Ich habe keine Ahnung, woher die kamen.

Was für Gerüchte?

Um das zu verstehen, muss ich dir von einer äh … wie soll ich das sagen? Ja, von einer Eigenart Karsts erzählen.

Stocker nahm noch einmal einen großen Schluck Wasser.

Stell dir ein mageres Männlein vor. Fast ein bisschen das Klischee eines – oder noch besser: die Karikatur eines armen Bäuerleins. Krumme, magere Beine, zerfurchtes Gesicht, verstrubbeltes graues Haar, zwei listige, kleine Äuglein. Meckerstimme, wie bei einer Ziege. Er rauchte gerne Villigerstumpen. Seine spitzige Nase war ziemlich rot – und nicht von der Kälte …

Beide lachten.

Klingt nicht grad nach einem sympathischen Zeitgenossen.

Nein, nicht wirklich. Aber zu uns Kindern war er direkt – wie soll ich sagen – liebevoll. Ich glaube, er mochte uns. Wie auch immer – jetzt habe ich den Faden verloren …

Du wolltest von Gerüchten erzählen.

Ja, ja. Genau. Eben, er hatte eine Eigenart, von der jeder im ganzen Umkreis wusste. Er war neugierig.

Na ja, neugierig sind wir alle, oder?

Ja, aber bei ihm nahm es krankhafte Züge an. So weit wussten wir Kinder das natürlich nicht. Aber es muss wirklich massiv gewesen sein. Er war ja ganz allein. Weißt du, was er jahrelang als Lieblingsbeschäftigung an den langen Abenden in seiner Einsamkeit getrieben hat?

Nein. Aber du wirst es mir gleich verraten, nehme ich an.

Stocker grinste.

Er hat die ganze Umgebung ausspioniert. Und zwar systematisch und beharrlich. Er ist Abend für Abend rumgeschlichen, hat in die Fenster geguckt, hat gelauscht, hat sich die Ställe, die Scheunen angeschaut. Er wusste einfach immer alles. Er muss auch aus all dem Gesehenen und Gehörten oft die richtigen Schlüsse gezogen haben – die er dann am Tag darauf frisch fröhlich in der ganzen Gegend rumerzählt hat.

Ich sags ja: kein besonders sympathischer Zeitgenosse. Eine Art ländliche Sensationspresse, könnte man auch sagen.

Ja, stimmt. Das ist mir noch gar nie eingefallen. Bei einer gewissen Presse hätte er vielleicht mit dieser Eigenart eine Menge Kohle machen können.

Sie lachten beide.

Item, er hat mit diesem Rumerzählen viel Unfrieden in die Gegend gebracht. Mein Vater hat ihm oft ins Gewissen geredet. Behauptet wenigstens meine Mutter. Aber ich nehme an, es war für ihn wie eine Sucht und eine Art Ausweg aus seiner Einsamkeit. Vieles war ja auch harmlos. Er wusste zum Beispiel genau, wie viel Heu jeder in der Scheune hatte, wie viel Milch die Kühe gaben und so weiter, aber er war halt auch immer der Erste, der wusste, wann wer mit wem Streit hatte, welche Ehe kurz vor dem Abgrund stand. Er wusste wohl auch von heimlichen Liebschaften – alles eben, was die Leute lieber versteckt oder vertuscht haben wollten, hatte er halt irgendwie mitbekommen und es nicht etwa für sich behalten.

Michel hob sein leeres Glas in Richtung Theke und bat um Nachschub.

Das heißt, er hatte jede Menge Feinde im Dorf.

Stocker hob die Hände.

Genau. Vielleicht hatte er sogar gewisse Leute erpresst.

Vorsicht, Stocker. Das klingt mir jetzt aber zu sehr nach Spekulation. Um nicht zu sagen: nach Fantasie.

Stocker wehrte ab.

Nein, wart mal ab, Michel. Ich habe dir gesagt, dass mein Vater alles erbte, auch das Bargeld, das zu einem kleineren Teil auf der Bank lag und – jetzt kommts – zum größeren Teil im Haus in einer Stahlkassette verwahrt war. Verstehst du, worauf ich hinaus will? Woher sollte ein armes Bäuerchen denn Bargeld haben? Die Herkunft dieses Geldes konnte nämlich auch durch die Polizei nie geklärt werden. Offenbar wusste der Mörder nichts von dieser Kassette, oder es hat ihn eben nicht interessiert.

Michel nahm dankbar sein nächstes Bier entgegen.

Aha. Was hätte ihn denn sonst interessieren sollen, Stocker?

Eben. Entweder wollte der Mörder nicht mehr erpresst werden. Oder er wollte, dass der Alte kein Geheimnis verraten konnte. Oder – an diese Möglichkeit muss man auch denken: Rache.

Rache?

Stocker verdrehte die Augen.

Ja, eben für ein ausgeplaudertes Geheimnis.

Stocker stöhnte ziemlich dramatisch.

Findest du denn das alles so abwegig?

Michel winkte gelassen ab.

Lieber Stocker, möglich ist natürlich alles. Aber interessant sind natürlich in erster Linie die Fakten. Wobei ich dir mit der Rache recht geben muss, denn sieben Stiche mit einem breiten, zweischneidigen Dolch – mein lieber Schwan –, das könnte uns von einer großen Wut erzählen, die bekanntlich rot sieht. Spontan kann es aber auch nicht gewesen sein, denn wer trägt schon zufälligerweise so ein Messer mit sich rum? Aber genau dies sollen wir vielleicht denken. Damit wir nämlich in die Irre geführt werden.

Michel grinste und leerte sein Bier.

Und so weiter und so weiter. Du siehst, lieber Stocker, Spekulationen geben sich meist die Hände und gehen im Kreis herum. Am Ende sind wir so klug als wie zuvor.

Gut. Du hast recht. Ja, ja, sicher. Du hast ganz bestimmt recht.

Also, Stocker. Wie ist es? Kommt jetzt noch die Pointe, oder wars das?

Nein, nein, das wars. Eine Pointe gibt es nicht, außer dass man den Fall nie aufgeklärt, also den wahren Mörder nie gefunden hat und mein Vater an dem mangels Beweisen freigelassen zerbrochen ist.

Das tut mir leid, Stocker. Das ist wirklich eine schlimme Sache. Aber … warum erzählst du mir das jetzt? Ich meine, erst jetzt? Wir kennen uns doch schon …

Stocker verzog sein Gesicht zu einer wahren Leidensmiene und beugte sich flüsternd zu Michel.

Ich musste diese Tage meine Mutter ins Pflegeheim bringen. Das war eine schlimme Sache, wie du dir denken kannst. Zu meiner Überraschung war sie nur dazu bereit, wenn ich ihr versprechen würde, den Fall noch einmal untersuchen zu lassen.

Michel blickte ihn fassungslos an.

Ist das dein Ernst?

Stocker nickte.

Du hast es ihr versprochen?

Stocker nickte wieder.

Bist du denn wahnsinnig? Ein Fall wird praktisch nie wieder aufgenommen, außer wenn erhebliche neue … außerdem … mein Gott, wie lange ist denn das jetzt her?

Nicht ganz dreißig Jahre, äh …, ziemlich genau siebenundzwanzig Jahre.

Michel ließ sich erschöpft sinken.

Sag mal, wenn ich heute nicht zu dir ins Restaurant gekommen wäre …

Stocker unterbrach ihn.

Dann wäre ich morgen früh in deinem Büro gestanden. Als du heute Mittag gekommen bist, hatte ich gedacht, schau an: Der Himmel schickt ihn, ja – und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, heißt es doch irgendwo, oder? Und eine Hand wäscht die andere. Denn eines verspreche ich dir, wenn es dir gelingen sollte, denn Fall wieder aufzunehmen …

Michel richtete sich auf.

Moment mal! Sagtest du, äh … Wille?

Stocker war ganz verdattert.

Ich sagte, wo ein Wille ist …

Gut. Gut. Ich glaube, äh … ich sehe da vielleicht einen Weg. Bring mir bitte die Rechnung. Ich muss schleunigst ins Büro.

Nein, nein, das geht selbstverständlich alles aufs Haus, das versteht sich doch von selbst.

Er winkte seiner Frau. Die brachte ihm sofort ein großes, gelbes Kuvert.

Hier, Michel. Ich habe dir alles, was ich dir erzählt habe, aufgeschrieben, inklusive sämtlicher Namen aller Beteiligten und so weiter. Für Fragen stehe ich selbstverständlich jederzeit zur Verfügung. Und meine Mutter auch.

Michel verschwand bereits durch die Tür.

Stocker rief ihm noch hinterher, dass er selbstverständlich auf Lebzeiten sein persönlicher Gast im Restaurant sei, aber dies konnte Michel längst nicht mehr hören.

Michel konnte sehr flink sein, wenn es sein musste.

FÜNF

Kurz vor ihrem Treffen hatte sie ihn per SMS wissen lassen, dass sie sich leider um eine ganze Stunde verspäten würde, da ihr Chef plötzlich noch eine dringliche Angelegenheit zu besprechen habe. Da er sich zwar noch in der Wohnung, aber bereits im Aufbruch befand, beschloss er, in der gewonnenen Zeit einen Spaziergang zu machen. Wie lange war er nicht mehr auf den gewohnten Wildwechseln spazieren gegangen!

Zudem brauchte er dringend eine Portion frische Luft, hatte er doch die letzten paar Monate vorwiegend draußen in der Natur verbracht. Er hatte sich sehr schnell an diese Lebensart gewöhnt, und sie fehlte ihm jetzt. Heute hatte er den ganzen Nachmittag lesend und schreibend in seiner Wohnung gesessen.

Was ihm außerdem schmerzhaft fehlte, war die Nähe zu Solveig. Er hatte sie heute erneut in einem langen Brief gebeten, ihre strikte Telefonverweigerung noch einmal zu überdenken. Schöner noch wäre natürlich, sie würde sich umgehend auf die Reise machen und zu ihm kommen. Aber dies war im Moment eine Illusion, der er sich nicht hingeben durfte, denn er wusste, dass sie bis auf weiteres ihre Mutter nicht alleinlassen würde. Und dass ihre Mutter bereit wäre, sich in eine Pflege in der Stadt zu begeben – da müsste wohl erst ein Wunder geschehen. Sie hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, in ihrem Haus auf den Schären entweder gesund zu werden oder zu sterben. Und um gesund zu werden, bräuchte es gerade noch einmal ein Wunder. Somit war die Situation ziemlich verfahren.

Eigentlich war die ganze Angelegenheit viel verfahrener, aber darüber nachzudenken, verspürte Tanner nun gar keine Lust, obwohl er wusste, dass er das Problem damit nur vor sich herschob. Er verschanzte sich einmal mehr hinter der Devise: Kommt Zeit, kommt Rat. Genau genommen, tröstete er sich mit der viel schöneren Formulierung Shakespeares desselben Gedankens – O Zeit, du musst dies entwickeln, nicht ich; es ist ein Knoten, der zu hart verschlungen ist, als dass ich ihn auflösen könnte – und war damit ziemlich zufrieden.

Um sich ganz abzulenken und um notabene das Versprechen einzulösen, das er ihr zum Abschied geben musste, hatte er heute vier Stunden lang in dem Buch gelesen, das sie ihm geschenkt hatte. Die nassen Seiten waren zum Glück wieder trocken, aber die Widmung ihres Vaters hatte sich nunmehr unwiederbringlich in einen Klecks verwandelt hatte.

Ganz erfüllt von all den merkwürdigen Gestalten, die diesen ausufernden Roman bevölkerten, der im winterlich nasskalten St. Petersburg spielte, stapfte Tanner durch das ebenso nasskalte Dorf. Damit endeten aber auch schon restlos alle Parallelen, denn hier gab es weder breite Straßen noch eine breite Front von hell erleuchteten Beletagen, weder Frauen in aufwendigen Roben noch spinnerte Exgeneräle oder bleiche Fürsten.

Das Dorf lag wie ausgestorben. Die Straßenbeleuchtung war wie eh und je eine jämmerliche Behauptung, die der feuchtkalten Nacht nichts entgegenzusetzen imstande war. Keines der Häuser war hell erleuchtet. Nirgends pulsierte das Leben. Nirgends wurde gefeiert und gelacht. Da und dort schimmerte eine ärmliche Pfunzel durch ein Fenster. Da und dort sah man das auf- und abschimmernde bläuliche Licht eines Fernsehers durch geschlossene Fensterläden hindurchscheinen. Das war alles. Ein wahrhaft trostloser Anblick.

In diesem Augenblick begann es zu schneien. Tanner blickte gen Himmel, schloss die Augen und spürte die zarten Flocken auf seinem Gesicht wie viele kleine, nasse Küsse. Na, wenigstens etwas.

Als er gegen neun Uhr ins praktisch leere Bahnhofsrestaurant kam (auch hier gähnende Trostlosigkeit, nicht einmal die obligaten Alkoholiker verließen heute offenbar ihre Wohnungen), empfing ihn Bodmer mit der frohen Botschaft, dass ihro Ankunft sich wahrscheinlich noch einmal um ein paar Minuten verzögern würde. Er betonte das ihro so, als würde er eine leibhaftige Hoheit ankündigen.

Na, dann beruhigen Sie sich mal, Bodmer.

Tu ich ja. Sie hat mich eben gerade angerufen. Sie seien irgendwie nicht erreichbar und eben … in der Hauptstadt muss es wahnsinnig schneien … und deswegen …

Danke Bodmer, ich habe verstanden.

Tanner suchte sein Telefon. Tatsächlich fand er es nicht. Er hatte es wohl zu Hause liegengelassen.

Merkwürdig …!

Er überlegte.

Na ja. Ist ja egal. Bodmer! Wo haben Sie denn für uns gedeckt?

Kommen Sie, Tanner. Meine Frau hat sich um alles gekümmert. Liebevoll, muss ich sagen.

Er zwinkerte ihm ganz verschmitzt zu.

Tanner verstand erst, als sie im kleinen Speisesaal standen und Bodmer ihn erwartungsvoll anschaute. Das Licht war sehr gedämpft. Ein einziger Tisch war gedeckt, inklusive Blumendekoration und Kerzenlicht.

Tanner lachte.

Ja, Bodmer. Da habt ihr euch aber was Schönes ausgedacht. Nachtigall, ick hör dir tra…

Er schüttelte den Kopf.

Seien Sie mir nicht böse, aber ich hätte es gerne ein bisschen weniger dramatisch.

Bodmer machte ein enttäuschtes Gesicht.

Seien Sie nicht beleidigt. Sie können ja von mir aus die Blumen und die Kerzen lassen, in Gottes Namen, aber machen Sie bitte die Beleuchtung heller. Und zwar deutlich.

Widerwillig ging Bodmer zum Schalter.

Gut so?

Ja. So ist besser. Übrigens – wie geht es Ihrem Gast? Hat er schon gegessen?

Nein. Er hatte sich für heute ganz abgemeldet. Er kommt wohl erst gegen morgen Mittag wieder.

Aha, schau an …

In diesem Moment kam sie im Restaurant an.

Er hätte sie kaum wieder erkannt. Sie trug keine Uniform, was sie um Jahre jünger erscheinen ließ, überdies war sie zwischenzeitlich beim Friseur gewesen und trug ihre Haare jetzt ganz kurz. Sie übergab Bodmer ihren Mantel und lachte.

Na, Herr Kollege, sind Sie mir böse, dass ich zu spät komme?

Tanner staunte immer noch.

Sie können den Mund übrigens gerne wieder zumachen und mich zu Tische führen, denn ich bin am Verhungern. Ich hoffe, Sie haben schon bestellt. Ich lasse mich nämlich am liebsten überraschen.

Tanner hatte natürlich noch nicht bestellt, machte aber das Spiel mit, reichte ihr den Arm und führte sie in den Speisesaal. Hinter ihrem Rücken gab er Bodmer Handzeichen, dass er ihm und seiner Frau die Wahl der Speisen überlassen würde. So wie immer.

Was möchten Sie denn gerne trinken, Kollegin?

Da ich heute keine Uniform trage, dürfen Sie mich gerne Lara nennen, denn so heiße ich im zivilen Leben.

Gut, Lara, was möchten Sie denn trinken?

Vielviel Wasser und wenigwenig Rotwein. Denn ich fahre ja Auto.

Bodmer nickte und schob ihr den Stuhl hin. Sie blieb aber stehen und klatschte entzückt in die Hände.

Lieber Bodmer, Sie haben ja den Tisch schön arrangiert, sogar Blumen und Kerzenlicht. Alles perfekt, das muss ich sagen. Einzig die Beleuchtung kommt mir etwas zu grell vor. Könnten Sie da noch ein bisschen dran arbeiten, bitte?

Bodmer schickte Tanner ein triumphierendes Grinsen, dann verneigte er sich ehrerbietig in ihre Richtung. Ganz die alte Schule.

Wird sofort gemacht, Madame.

Bodmers offensichtliche Sehnsucht, einem großen, vornehmen Hotel als altmodischer Hoteldirektor vorzustehen, war plötzlich unübersehbar.

Er drehte am Schalter.

Ist es recht so, Madame?

Jetzt ist es wirklich perfekt. Danke, Bodmer.

Sie setzte sich burschikos schwungvoll hin und griff sofort nach einem Stück Brot.

Entschuldigen Sie, Tanner, aber ich habe einen solchen Heißhunger.

Tanner setzte sich und betrachtete sie.

Sie trug zu engen Jeans eine weiße Hemdbluse, darüber einen gemusterten Pullunder mit farbigen Rhomben. Dann war da natürlich der neue Haarschnitt. Die Veränderung war wirklich verblüffend. Sie strich mit beiden Händen genussvoll durch ihre kurzen Haare.

Ich musste mir einfach die Haare abschneiden. Heute hat sich etwas außerordentlich Wichtiges entschieden, und dann muss ich so was immer auch äußerlich nachvollziehen. Können Sie das verstehen, Tanner?

Ja, das kann ich verstehen. Bei mir reicht meist eine gründliche Wohnungsreinigung.

Sie lachte herzlich.

Tanner putzt seine Wohnung! Das ist ja lustig! Das möchte ich sehen!

Ja, ja. Da staunen Sie. Was hat sich denn heute so Wichtiges entschieden?

Das sag ich Ihnen erst beim Kaffee. Jetzt will ich essen und trinken. Ah! Da kommt ja auch schon die Suppe. Gott sei Dank. Die Rettung naht.

Sie sprühte vor Energie.

Wissen Sie, Tanner, wenn ich Hunger habe, werde ich zum Raubtier, und dann kann ich auch nicht beides gleichzeitig.

Tanner schaute fragend.

Ja, ich kann nicht essen und reden. Schon gar nicht über wichtige Sachen. Aber ich kann zuhören. Wenn Sie also Lust haben, mir etwas zu erzählen – voilà. Wenn nicht – essen wir einfach gemütlich und reden danach.

Sie nahm den Löffel und wünschte ihm einen guten Appetit.

Sie könnten mir ja, zum Beispiel, erzählen, was Sie sich gedacht haben, als ich Sie zu diesem Treffen gebeten habe. Kam doch überraschend – gestehen Sie es ruhig.

Er gestand ihr freimütig, dass er überrascht gewesen sei und dass er genau so gespannt auf ihre Neuigkeiten sei. Sie gab sich mit der Antwort zufrieden und löffelte genussvoll die Kürbissuppe.

Er begann, ein bisschen aus Verlegenheit, denn er wusste wirklich nicht, was er ihr erzählen sollte, von dem Buch zu berichten, das er gerade zu lesen begonnen hatte. Sie hörte aufmerksam zu und war dann vor allem an Nastassja Filippowna interessiert, an dieser gefallenen Frau, in der sie sofort eine verwandte Seele vermutete.

Danach aßen sie eine Weile schweigend, unterbrochen nur von Ausrufen der Bewunderung über das Essen, denn Frau Bodmer hatte sich heute Abend wahrhaftig selbst übertroffen. Lara interessierte sich im Weiteren für Tanners beruflichen Werdegang. Er würde dann nachher schon verstehen, warum sie ihn das frage.

Er erzählte ihr eher widerwillig und stockend von seinen verschiedenen Stationen als Kommissar. In Schwung kam er erst richtig, als er von Marokko und dem Aufbau einer international tätigen Spezialabteilung sprach und – obwohl er das gar nicht vorhatte – vom furchtbaren Verbrechen an den Kindern berichtete und dass er aufgrund seiner Recherchen aus Marokko ausgewiesen worden und aus demselben Grund hierher zurückgekommen sei. Hier habe er nämlich die Spuren dieses Verbrechens aufgespürt und den Fall mit Michel zusammen lösen können. Seitdem arbeite er dann und wann mit ihm zusammen. Mehr oder weniger inoffiziell. Als so eine Art Berater.

Sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als beide satt waren und der Kaffee vor ihnen stand, blickte Tanner sie erwartungsvoll an.

So!

Sie blickte ihn ernst an.

Ja. Ich weiß, jetzt bin ich dran. Danke für Ihre Geduld. Wenn es Ihnen recht ist, erzähle ich zuerst, warum ich mir die Haare geschnitten habe.

Tanner nickte.

Ich werde ab sofort keine Uniform mehr tragen. Ich arbeite ab jetzt in der Abteilung vom Michel, also in der Abteilung Leib und Leben.

An so etwas hatte Tanner überhaupt nicht gedacht.

Ach, das ist ja großartig. Ich gratuliere. Ich wusste natürlich nicht, dass Sie so etwas anstreben, aber …

Glauben Sie, ich will mein Leben lang Streife schieben? Sicher nicht! Deswegen bin ich nicht zur Polizei. Zudem habe ich alle Kurse gemacht und wirklich ziemlich gut abgeschnitten, ich muss es selber sagen.

Dann ist ja alles gut, und ich gratuliere wirklich von Herzen.

Ihr guter Freund Michel hat mich ziemlich lange hingehalten, wissen Sie. Und ich weiß aus gewöhnlich gut unterrichteter Quelle, dass er ein bisschen Angst hat vor mir.

Aha.

Tanner gab sich ganz erstaunt.

Wieso denn das?

Attraktive Frauen haben es im beruflichen Leben schwer. Wussten Sie das nicht, Tanner?

Er musste lächeln. An Selbstbewusstsein fehlte es ihr nicht.

Ich sehe, Sie lächeln, und Sie denken jetzt sicher, ein bisschen Bescheidenheit würde ihr auch nicht schlecht stehen, oder? Aber wissen Sie, ich habe meine Erfahrungen gemacht. Darunter einige sehr bittere, das können Sie mir gerne glauben. Die Polizeiwelt ist immer noch mehr oder weniger eine Männerdomäne, und reine Männerwelten reagieren auf Weibchen immer noch reflexhaft.

Sie lachte.

Und wenn das Weiblein kein Blaustrumpf ist, sondern einen knackigen Arsch und Brüste hat, die den Namen auch verdienen, dann – Sie können sich die Schwierigkeiten ja vorstellen. Wie gesagt, es hat eine Weile gedauert, bis …

Sie brachte dies alles in einem heiteren Ton hervor. Verbittert schien sie darüber auf jeden Fall nicht zu sein. Dann wischte sie mit einer Handbewegung einige Brosamen vom Tisch.

Lassen wir das.

Sie lachte.

Heute konnte es dem Herrn Hauptkommissar Michel plötzlich nicht schnell genug gehen, und er hat mir einen Fall hingeknallt, den ich selbständig lösen soll. Voilà. Sozusagen mein persönlicher Testfall. Er meinte, das Gute an dem Fall sei, dass nichts schief gehen könne, falls ich irgendwie versage. Wenn ich es hingegen schaffte, dann bekäme ich einen festen Platz in seinem Team. Ist das nicht großartig?

Tanner hatte kein besonders gutes Gefühl dabei.

Ja, das klingt gut. Um was für eine Art Fall handelt es sich denn?

Sie verzog ihre Miene.

Die Sache hat einen Haken: Es ist ein ziemlich alter Fall. Ein ungelöster Mordfall, der sich vor nicht ganz dreißig Jahren ereignet hat.

Tanner verdrehte die Augen.

Ach nein? Und Sie sollen ihn jetzt aufklären? Da wünsch ich aber viel Vergnügen.

Sie hob theatralisch ihre Hände in die Luft.

Sie trauen mir wohl gar nichts zu, Tanner. Danke für die Blumen. Statt dass Sie mir Mut machen …

Ach, Lara, so meine ich das doch nicht. Ihnen traue ich übrigens alles zu.

Darauf lächelte sie kokett – und verdrehte dann aber gleich ihrerseits die Augen.

Äh … wie meinen Sie das jetzt? Was trauen Sie mir denn alles zu?

Tanner ließ sich nicht beirren.

Hören Sie mir zu: Ich weiß, wie es sich mit Fällen verhält, die vor vielen Jahren nicht aufzuklären waren. Was soll sich denn mit dieser zeitlichen Distanz vereinfacht haben? Dass vielleicht die eine Hälfte aller Zeugen schon tot ist und die andere sich an nichts mehr erinnert?

₺606,99

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
361 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9783857919046
Sanatçı:
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок