Kitabı oku: «Der Salamander», sayfa 5
Nein, aber vielleicht haben die Kollegen damals aus weiß was für Gründen irgendetwas übersehen, zudem gibt es heute Methoden, die damals noch nicht zur Verfügung standen und so weiter und so weiter.
Sie schlug mit ihren Händen einen Trommelwirbel auf den Tisch, worauf sofort Bodmer erschien.
Haben Madame gerufen?
Sie lachte.
Nein, Madame haben nicht gerufen. Sie streitet sich mit Monsieur.
Bodmer machte ein zutiefst unglückliches Gesicht.
Das ist aber schade.
Er schickte Tanner einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann wandte er sich wieder besorgt an sie.
Darf ich noch ein wenig Wein eingießen? Oder darf ich vielleicht doch noch ein Dessert bringen? Bei Ihrer Linie!
Bodmer illustrierte diese Linie mit einer Handbewegung, als handle es sich um einen Strich mit oben einem Knick.
Sie dürfen. Wein ja, aber nur ganz wenig. Ich muss noch autofahren. Dessert nein. Wollen Sie mich eigentlich mästen, oder was? Zuerst verkuppeln und dann noch mästen. Und was heißt hier eigentlich Linie? Sie sind mir ja einer … der redet von meiner Linie und zeigt eine Linie mit so einer Kurve. Sollte dieser Knick etwa meine Oberweite darstellen?
Sie machte seine Bewegung nach und übertrieb natürlich schamlos.
Alle lachten. Bodmer schenkte Wein nach. Tanner brachte sein Glas in Sicherheit.
Mir lieber noch einen Kaffee, Bodmer.
Wird gemacht.
Tanner schaute sie auffordernd an.
Jetzt sagen Sie mir wenigstens in groben Zügen, um was für einen Fall es sich handelt, bitte.
Sie lächelte.
Deswegen habe ich mich ja auch zu diesem Treffen überreden lassen, sehr geehrter Herr Kollege, denn ich brauche Ihren erfahrenen Rat.
Tanner schmunzelte, behielt aber die Erkenntnis für sich, dass er sie bei einer kleinen Verdrehung der Situation ertappt hatte. Sogar bei einer doppelten Verdrehung. Tatsache war, dass sie ja von dem Fall erst seit heute Nachmittag wusste, zudem hatte sie ihn ja zu diesem Treffen aufgefordert.
Aber was solls. Er lehnte sich zurück und konzentrierte sich auf den Fall, den sie ihm jetzt wortreich zu erzählen begann.
SECHS
Tanner erwachte mit demselben Gefühl der Beunruhigung, mit dem er eingeschlafen war.
Im Schlaf verwandelte sich dieses Unbehagen in ein zähes, klebriges Gespinst, das ihn ganz und gar umwickelt hatte, und er konnte sich noch so viel herumwälzen, es hielt ihn die ganze Nacht fest in seinem Griff. Erst ganz früh am Morgen schien es sich wie ein Nebel aufzulösen, und er konnte immerhin noch eine Weile tief und fest schlafen.
Nachdem Lara Wille bis weit über Mitternacht ihren Fall (es war natürlich bereits ihr Fall) referiert hatte, und er ihr ein paar Ratschläge hatte geben können – nämlich wie man am gescheitesten an so was nicht herangehen sollte –, bequemte sie sich dann endlich, mit der angekündigten Information über Jean D’Arcy herauszurücken. Das war ja immerhin die eigentliche Begründung ihres Treffens gewesen.
Zuerst einmal hatte sie den Sachverhalt seiner Verhaftung vor über fünf Jahren geprüft und bestätigt erhalten. Jean D’Arcy sei tatsächlich an einem kleinen Grenzübergang zwischen Frankreich und Spanien von den spanischen Behörden wegen Besitzes und versuchten Schmuggels von Kokain im Wert von zweihundertfünfzigtausend Franken verhaftet worden. Er sei abseits der großen Grenzübergänge zu Fuß über die Grenze gegangen. Ein Grenzübergang in den Bergen, irgendwo in den Pyrenäen, wohlgemerkt! Auch dies sei doch merkwürdig und auffällig, meinte die frischgebackene Kriminalistin. Er sei dann ohne viel Federlesens zu sieben Jahren Haft verurteilt worden und wegen guter Führung nach fünf Jahren entlassen und abgeschoben worden. Nach Spanien dürfe er allerdings nicht so schnell wieder einreisen.
An dieser Stelle hatte sie kurz Atem holen müssen, was Tanner eine vorsichtige Anmerkung erlaubt hatte, im Sinne von … viel Anderes habe Jean D’Arcy ja auch nicht behauptet.
Ja, schon, hatte sie gekontert, aber er habe ja drauf bestanden, dass er unschuldig verhaftet worden sei. Man habe ihm die Drogen sozusagen heimlich ins Gepäck implantiert. Von wegen. Ihre Recherchen hätten ergeben, dass der ach so unschuldige Jean D’Arcy hierzulande ein behördlich bekannter Drogenabhängiger gewesen sei, mehrfach in Kliniken eingewiesen und vorbestraft – ebenfalls wegen Drogendelikten, und jetzt komme der Hammer, Tanner solle sich bitteschön festhalten: Er sei in ein Mordfall verwickelt gewesen! Also, Mord sei vielleicht etwas zu viel oder zu vorschnell behauptet, schränkte sie gleich etwas ein, aber: Er sei immerhin in eine dubiose Geschichte um eine verschwundene Frau verwickelt gewesen, deren Leiche man aber nie gefunden habe. Jean D’Arcy sei zeitweise verdächtigt worden, sie umgebracht zu haben. Dafür habe es Anschuldigungen durch Zeugen gegeben, aber mangels Beweisen und weil man eben die Leiche der Frau nie gefunden habe, sei der Fall als ungeklärt abgelegt und die Anklage gegen D’Arcy fallengelassen worden. Im Übrigen sei dieser Jean D’Arcy der Abkömmling einer der reichsten Familien in der welschen Schweiz, allerdings gehöre er nicht direkt zu dem reichen Zweig im Stammbaum, sondern zu dem verarmten – aber immerhin. Was sie mit ihrem auftrumpfenden immerhin meinte, ließ sich zur späten Stunde nicht eruieren. Tanner hatte auch bereits Mitleid mit Bodmer, der allein ihretwegen auf seinem Posten ausharren musste. Der Vater D’Arcys sei selbst schon früh irgendwie in Ungnade gefallen, wegen falscher Heirat oder so, und beide Eltern seien kurz nach der Geburt von Jean bei einem Unfall ums Leben gekommen und der Kleine bei einer Tante aufgewachsen.
Dies alles hatte sie praktisch ohne Atem zu holen berichtet, begleitet von einem Unter-, vielmehr einem Überton, den man nicht anders als triumphierend bezeichnen konnte. Warum dies bei ihr ein Gefühl des Triumphs ausgelöst hatte, wurde Tanner nicht klar.
Er hatte zu dem Zeitpunkt gedacht, dass sie vielleicht doch schon ein bisschen zu viel Wein getrunken habe, trotz ihrer mehrmaligen Versicherung, sie trinke nur ganz wenig. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war ihm klar geworden, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde, als sie nach Hause zu fahren.
So war es denn auch geschehen, obwohl sie sich zuerst gesträubt hatte. Der Hinweis, dass es in ihrer Testphase kein gutes Bild abgäbe, käme sie in eine Polizeikontrolle, hatte dann den Ausschlag gegeben.
Sie wohnte in einem der besten Viertel der Hauptstadt, nämlich da, wo ausländische Botschaften stehen wie Pilze im Herbstwald. Tanner hatte es tunlichst vermieden, irgendetwas über ihr Privatleben zu erfragen, obwohl er sich natürlich wunderte, wie es sich eine Polizistin leisten konnte, hier zu wohnen.
Die Fahrt war schweigend verlaufen. Sie hatte die ganze Zeit die Augen geschlossen gehalten, und Tanner wusste nicht, ob sie eingeschlafen war. Exakt hundert Meter vor dem Ziel hatte sie plötzlich hellwach und ziemlich trocken bemerkt, sie hätte dann übrigens keinen Kaffee zuhause, nur im Falle eines Falles … also, sie wolle ihm nichts unterstellen, nur falls er an so etwas herumstudiere.
Tanner hatte über diese letzte Provokation nur müde lächeln können und stumm mit der Hand auf das Taxi gezeigt, das bereits vor ihrem Haus gestanden und darauf gewartet hatte, ihn wieder nach Hause zu bringen, denn sie waren ja mit ihrem Wagen gefahren.
Halten Sie direkt hinter dem Taxi. Ich kann das Auto selbst in die Parkgarage fahren. Sie ist gleich um die Ecke. Oder trauen Sie mir das nicht zu, Tanner?
Er hatte nur genickt und ein Gähnen unterdrückt.
Oh, Tanner ist müde.
Tanner lachte.
Ich habe immerhin auf meiner Reise zwei Nächte nicht geschlafen, das holt man nicht so schnell wieder auf.
Sie hatten sich eine Weile schweigend angeschaut. Sie hatte als Erste das Schweigen gebrochen.
Welche Abschiedszeremonie schlagen Sie vor, Tanner? Sie wis sen ja, statistisch gesehen, fangen die meisten Verführungen beim Sich-Verabschieden an.
Sie hatte gekichert.
Vielleicht besser gar keine, liebe Kollegin. Ich sage ganz schlicht Auf Wiedersehen und bedanke mich für den unterhaltsamen Abend.
Er hatte kurz die Hand gehoben, sich auf dem Absatz umgedreht und war ins Taxi gestiegen. Die Fahrerin war sofort losgefahren.
Tanner hatte sich gezwungen, sich nicht umzudrehen. Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, denn gar zu gern hätte er Lara Willes Verblüffung gesehen. Danach hatte er es sich bequem gemacht und die Augen geschlossen.
Er hatte sie aber gleich wieder geöffnet, denn vor seinem inneren Auge tauchte sofort ihr Gesicht mit dem frechen Lachen auf, aber er wollte sich partout nicht mit ihr beschäftigen. Er wollte lieber darüber nachdenken, was sie ihm über den jungen Mann erzählt hatte.
Tanner seufzte und blickte in die dunkle Nacht.
Hatte er sich in Jean D’Arcy so getäuscht?
Kriminelle Energie konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Andererseits wusste er aus Erfahrung, wie sehr man sich von einem Menschen ein katastrophal falsches Bild machen konnte. Grundsätzlich hatte ihn die Erfahrung gelehrt, dass man sowieso nur das sah, was man sehen wollte. Bis einen die Tatsachen eines Besseren belehrten. Er bereute jetzt tatsächlich, dass er ihm auch den Schlüssel des Schrankes mitgegeben hatte. Wie gerne würde er den Koffer öffnen, in der Hoffnung, dass ihm vielleicht der Inhalt weiterhelfen könnte.
Vielleicht hatte Lara in ihrer Unerfahrenheit einige Fakten falsch interpretiert, wo immer sie Einsicht genommen hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich längst die notwendigen Autorisierungen für die nationalen und internationalen Archive und Informationskanäle besorgt, die der Polizei zur Verfügung standen. Nachdem Tanner gefrühstückt hatte, wählte er kurz entschlossen die Nummer von Michels Büro.
Na, Tanner, brauchst du wieder einen Streifenwagen? Ach nein, du suchst sicher Lara.
Wer ist Lara?
So leicht wollte es Tanner ihm nicht machen.
Ha, ha. Guter Versuch.
Michel lachte seinen tiefen Bass ins Telefon.
Warst du gestern Abend nicht rein zufällig mit einer Kollegin namens Lara Wille zum Essen verabredet?
Ach so die! Die Kollegin Wille! Reden wir von deiner neuen Mitarbeiterin, die du einen fast dreißig Jahre alten Mordfall aufklären lässt?
Hat sie dir das erzählt?
Michel schnaubte ungehalten ins Telefon.
So viel also zum Thema Diskretion. Gut. Ich notiere fünf Minuspunkte für die Kandidatin. Nein, da sie es ausgerechnet dir erzählt hat, gibts gleich zehn Punkte Abzug.
Als Tanner nicht darauf reagierte, räusperte sich Michel ungehalten.
Es stimmt übrigens. Hast du was dagegen?
Nein, aber du könntest ihr ja auch direkt sagen, dass du sie nicht in dein Team aufnehmen möchtest.
Wie kommst du denn darauf?
Weil du die Lösung des Falles zur Bedingung für ihre Aufnahme gemacht hast.
Tja, das Leben ist hart und verfügt bekanntlich selten über ein Geländer.
Tanner wechselte das Thema.
Hast du ihr die Einsicht in die Akte D’Arcy verschafft?
Nein. Ich höre den Namen zum ersten Mal. Wer ist das, und was hat sie damit zu tun?
Sie hat damit gar nichts zu tun. Sie wollte mir wohl nur beweisen, dass ich naiv bin und dass sie mit ihrer Skepsis oder weiblichen Intuition – oder mit beidem – recht hatte.
Tanner erklärte in knappen Worten, wer Jean D’Arcy war. Den Koffer verschwieg er allerdings, ebenso D’Arcys rätselhafte Bemerkung, dass er wisse, wer ihm damals die Drogen untergejubelt habe.
Jetzt wurde Michel wütend.
Der werd ich aber den Kopf waschen! Was denkt sich diese Dame eigentlich! Wie kommt die dazu, einfach im Archiv zu wühlen. Eine offizielle Genehmigung hatte sie ganz sicher nicht. Auf jeden Fall nicht von mir. Ich werde sie mir gleich vorknöpfen. Danke, dass du es mir gesagt hast, Tanner. Das macht gleich noch einmal zehn Punkte Abzug.
Sei nicht so streng mit ihr. Sie nimmt ihre Arbeit sehr ernst.
Aha. Hat sie dich schon um den Finger gewickelt. Das hätte ich mir denken können. Ich muss ja zugeben, dass sie verflucht attraktiv ist, mit ihrem frechen Lachen. Und dann erst noch diese …
Hier unterbrach ihn Tanner, denn er hatte keine Lust auf Michels sprachlich delikaten Wortschatz, mit dem er über weibliche Körper zu schwärmen pflegte.
Ich würde die Akte übrigens auch gerne einsehen, lieber Michel.
Michel produzierte ein dramatisches Stöhnen.
Welche Akte?
Na ja, die von Jean D’Arcy.
Michel stöhnte dramatisch.
Oh je. Jetzt fängt das wieder an! Du kannst es einfach nicht lassen.
Dann schwieg er.
Tanner wartete geduldig.
Michel stöhnte.
Also gut. Unter zwei Bedingungen: Erstens gehen wir heute Abend bei Stocker essen, und zwar auf deine Rechnung. Und zweitens versprichst du mir, dass du der Wille nicht unter die Arme greifst, falls sie dich bittet, ihr bei dem Fall behilflich zu sein.
Gut, machen wir! Heute Abend um zwanzig Uhr.
Wie – machen wir? Versprichst du es?
Ja, ja! Ich verspreche es. Warum sollte ausgerechnet ich ihr bei dem Fall helfen?
Michel lachte.
Ach, Tanner … vielleicht, weil es dir Zugang verschaffen würde …
Zugang?
Tja … dahin und dorthin …
Blödmann.
Tanner hängte auf.
SIEBEN
Michel saß allein in seinem Büro und wartete.
Auf was er wartete, war ihm selbst nicht klar. Abgesehen davon, dass er die Wille in sein Büro bestellt hatte und sie – laut Sommer, der die Telefonzentrale hütete – nicht auffindbar war. Aber er wartete natürlich nicht wirklich auf sie. Er wartete auf etwas anderes. Aber worauf?
Seit Wochen gab es im Grunde nichts zu tun, und das war ihm in seiner ganzen Karriere als Polizist noch nie passiert. Nach dem Telefonat mit Tanner hatte er einen halben Morgen lang über dieses Phänomen nachgedacht, war aber zu keiner befriedigenden Antwort gekommen. Seine Gedanken kreisten zwanghaft um die Idee, dass es sich um so etwas wie die Ruhe vor einem Sturm handelte. Aber um welchen Sturm denn, um Gottes willen? Woher wird er kommen? Und wird er ihm gewachsen sein?
In der Nacht hatte er schon wiederholt von seinem eigenen Tod geträumt. Diese Träume, deren Bilder jeweils spätestens beim Duschen verblassten – als wären es Figuren am Sandstrand, und ein, zwei Wellen genügten, um sie zum Verschwinden zu bringen –, hatten trotz allem ihre Wirkung auf seine Tage. Er ertappte sich immer häufiger dabei, unbeweglich dazusitzen, ein Loch in die Luft zu starren und nachzudenken.
Jetzt hatte er aus schierer Verzweiflung begonnen, über sich selbst nachzudenken, und da das gänzlich ungewohnt für ihn war, denn er hatte keinerlei Übung in diesem Geschäft, quälte er sich langsam wie eine Schnecke auf ihrem Schleim von einem Gedanken zum nächsten.
Gegen Mittag kam er zum Schluss, dass er doch im Grunde ein durch und durch gutmütiger Mensch sei. Jawohl: durch und durch gutmütig.
Er lächelte mitfühlend bei diesem Gedanken, als rühre ihn die Person, über die er gerade so angestrengt nachdachte. Auch die Formulierung gefiel ihm, sie erfüllte ihn mit einem seligen Glücksgefühl.
Durch und durch gutmütig!
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Er konnte zwar fuchsteufelswild werden, ja sogar toben, fluchen wie ein Bürstenbinder und wüten, dass der Boden zitterte, auf dem er stand, aber meist hatten diese Zustände eine sehr kurze Halbwertszeit. Seine zornigen und aufbrausenden Gemütszustände waren wie Gewitter: heftig und mächtig, theatralisch und laut, aber zeitlich begrenzt. Sie entwickelten sich selten zu Dauerregen und langen Schlechtwetterperioden.
An dieser Stelle seiner Analyse nickte er beifällig mit seinem mächtigen Haupt. Dann ergänzte eine Stimme in ihm: Und wenn er zornig wäre, hätte das sowieso immer einen triftigen Grund. Jawohl.
Er legte seine Stirn in Falten.
Was ihm allerdings in letzter Zeit immer häufiger passierte: Er hatte schlechte Laune. Und zwar eine alles durchdringende grimmig griesgrämige, bodenlos schlechte Laune. Dieser Zustand stellte sich schon ein, wenn er sich am Morgen schwer ächzend aus dem Bett hievte. Dieses Gefühl legte sich, so schien es ihm, wie eine zweite Haut um sein ganzes Wesen. Es umschloss ihn gar mit einem Panzer, der zäh, zerfurcht und wie aus hartem Leder schien.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er zugebenermassen schlechte Laune quasi als Mimikry benutzt. Als ein Kostüm sozusagen, das er immer griffbereit zur Hand hatte. Gegen alle möglichen Ansinnen und Situationen konnte er sich beliebig hinter der Maske der schlechten Laune verkriechen, auch wenn er innerlich fröhlich und aufgestellt war. Was die Leute dann von ihm hielten, war ihm egal.
Aber jetzt war die miese Laune nicht gespielt. Sie hatte ihn fest im Griff. Es war ihm beinahe unheimlich, und er fühlte sich unfähig, diesen Zustand zu ändern. War das jetzt die Strafe für sein frevelhaftes Spiel? Hatte ihn seine Mutter nicht oft genug davor gewarnt, dass ihm seine Grimassen eines Tages bleiben würden, wenn er sie zu oft schneiden würde.
Michel stutzte.
Vielleicht könnte er jetzt ja den umgekehrten Weg gehen? Nämlich so tun, als hätte er gute Laune.
Er versuchte zu lächeln, aber er spürte, dass sich sein Gesicht nur zu einer weiteren Variante des Grimms verzerrte. Er versuchte, sich an etwas Lustiges zu erinnern, aber es war wie verhext, es wollte ihm nicht einmal ein Witz in den Sinn kommen. Er schlug verärgert mit der flachen Hand auf den Bürotisch, sodass die Bleistifte fröhlich ins Hüpfen kamen.
Heißt das, dass ich eintreten darf, Chef?
Zwischen Tür und Angel stand ein Wesen, das übers ganze Gesicht strahlte. Michel schaute verständnislos.
Sie hob die Hand und winkte, als wollte sie eine Nebelwolke wegwinken, die sich im Büro gebildet hatte.
Hallo, ich bins, Ihre neue Mitarbeiterin, Lara Wille.
Jetzt erst erkannte Michel sie.
Er glotzte sie weiter an. Dann schüttelte er seinen Kopf, als wolle er dadurch seine Starre lösen.
Was ist denn mit dir passiert? Bist du in Trauer?
Sie schüttelte fröhlich ihren Kopf.
Nicht dass ich wüsste. Wie kommst du denn darauf?
Ich dachte immer, Frauen schneiden sich nur die Haare freiwillig so kurz, wenn entweder jemand gestorben ist oder sie verlassen wurden.
Nein, ganz im Gegenteil.
Sie schüttelte unwillig den Kopf.
Das ist ja eine merkwürdige Theorie, muss ich sagen.
Er machte eine unwirsche Bewegung mit derselben Hand, mit der er gerade noch auf den Tisch gehauen hatte.
Es geht mich sowieso nichts an.
Ja. Das stimmt.
Sie lachte.
Darf ich mich setzen?
Michel konnte gerade noch verhindern, dass aus seinem Mund eine unfreundliche Bemerkung entschlüpfte.
Sie wartete nicht auf seine Erlaubnis. Sie setzte sich einfach.
Was kann ich denn für Sie, also äh … ich meine für dich tun, neue Mitarbeiterin Wille?
Im Grunde bereute er jetzt, dass er ihr so schnell das kollegiale Du angeboten hatte, obwohl es natürlich üblich war. Aber er hätte ja auch warten können, bis die Probezeit um war. Sie aber lachte ihn entwaffnend an.
Du hast mich doch bestellt. Wenigstens hat es Kollege Sommer mir so ausgerichtet.
Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
Aber ich kann auch wieder …
Michel winkte ungeduldig ab.
Ja, ja, stimmt. Ich habe dich tatsächlich suchen lassen. Wo warst du übrigens?
Sie legte ihren Kopf schräg.
Erinnerst du dich, dass du geruht hast, mir einen Fall zu übergeben? Übrigens …
Sie betonte das Wort ziemlich frech.
Wusstest du, dass zu besagtem Fall keinerlei Akten mehr existieren, Michel?
Er guckte sie irritiert an.
Wie? Keine Akten? Das kann doch nicht …
Doch, doch. Es ist so. Der Fall ist zwar nie gelöst worden, aber nach fünfundzwanzig Jahren spätestens werden Papierakten entsorgt. Damals gab es ja noch keine elektronische Datenverarbeitung.
Das Letzte sagte sie achselzuckend mehr zu sich selbst.
Er verlagerte sein Gewicht in Richtung Stuhllehne, genussvoll, wie es schien, und – siehe da: jetzt konnte er plötzlich lächeln.
Tja, das macht deine Aufgabe natürlich nicht einfacher. Ich nehme an, du willst mir den Fall zurückgeben, Wille?
Sie beantwortete sein Lächeln und fing an, mit dem Stuhl zu kippeln.
Nein, nein, so einfach ist das nicht mit mir. Ich kann ziemlich hartnäckig sein. Ich habe nämlich auch schon etwas gefunden.
Aha. Und was hast du gefunden?
Genauer gesagt: Ich habe eine Person gefunden. Nämlich einen pensionierten Beamten, der damals an den Untersuchungen beteiligt gewesen ist. Und zwar in leitender Position.
Michel schnäuzte sich in eine seiner Windeln. Es klang wie bei der Morgentoilette im Elefantenhaus.
Ich gratuliere. Und wie hast du den aufgestöbert?
Sie ließ sich mit dem Stuhl wieder nach vorne kippen und nestelte in ihrer Tasche.
Ich habe in den Personalakten geguckt, wer denn damals in der Abteilung Leib und Leben so gearbeitet hatte. Und wer wann pensioniert wurde und wer wann gestorben ist.
Michel runzelte seine Stirn.
Wie bist du denn an die Personalakten gekommen?
Sie seufzte und verdrehte die Augen.
Keine Angst, Chef, alles nach Dienstvorschrift. Ich habe ganz brav in der Personalabteilung nachgefragt. Das ist ja nicht verboten, oder?
Michel wiegte zwar bedeutungsvoll den Kopf, aber leider hatte sie recht, und er konnte nichts einwenden.
Und weiter?
Ich werde Albin Blumenstengel gleich nachher in seiner Wohnung besuchen.
Blumenstengel? Ist das wirklich sein Name? Michel konnte ein Grinsen nicht verkneifen.
Ja, so heißt er. Du kannst ja seine Personalakte anschauen, bitte.
Nein, nein. Ich glaube dir ja. Das war wohl vor meiner Zeit. Wie lange ist er denn schon pensioniert?
Sie blätterte in ihrem Notizbuch.
Seit vierundzwanzig Jahren.
Na, dann drücke ich die Daumen. Der ist ja dann … äh …
Ja, Herr Blumenstengel ist siebenundachtzig Jahre alt. Er hat sich zwei Jahre früher pensionieren lassen. Er klang am Telefon aber, äh … wie soll ich sagen … ganz klar und vernünftig. Er hat sich auch sofort an den Fall erinnern können.
Hat er? Was du nicht sagst, Wille! Na, dann kann ja alles noch gut werden.
Michel beugte sich vor und schwebte plötzlich in einer Wolke guter Laune.
Aber was erwartest du denn von ihm? Offensichtlich konnte der Fall ja nicht gelöst werden, oder?
Lara Wille erhob sich.
Ich weiß ja nicht, wie es zu deiner Zeit war, aber ich habe in meiner Ausbildung gelernt, dass Erwartungen und vorgefasste Meinungen der Todfeind jeder Ermittlung sind.
Sie blickte ihn herausfordernd an.
Kann ich jetzt gehen, Chef?
Ja, klar, geh nur, geh nur. Wie heisst es so schön: wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, ha, ha, ha.
Er lachte unbändig. Sie verdrehte die Augen. Michel kappte sein Lachen.
Okay, tut mir leid. Den Spruch hast du sicher schon tausendmal gehört, stimmts?
Sie antwortete nicht.
Also, geh nur. Aber, äh … bring mir bitte noch die Akte D’Arcy vorbei. Du hast sie ja, nehme ich an, noch auf deinem Schreibtisch liegen. Selbstverständlich nur, wenn es dir nichts ausmacht, äh … wollte ich sagen.
Sie drehte sich noch einmal um, als wollte sie etwas erwidern. Sie hob aber nur die Hand, nickte und verließ dann betont langsam das Büro.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.