Kitabı oku: «Die Füchsin», sayfa 4
10 August
Valerie sitzt seit Stunden am Computer. Sie quält sich mit ihren Erinnerungen, die nur spärlich aus ihrem Unterbewusstsein tröpfeln. Nichts, das sie festhalten und aufschreiben kann. Sie fühlt sich wie eine Tennisspielerin, die den Ball des Gegners mit erhobenem Schläger erwartet, einen Ball, der immer wieder im Netz auf der anderen Seite hängen bleibt.
Grace will sie nicht fragen. Sie wird ihrer Mutter überhaupt nicht sagen, dass sie einen Roman schreibt, der autobiografische Züge trägt. Sie kann sich vorstellen, wie Grace reagieren würde. Mit einer Mischung aus Eitelkeit und der Furcht, dass Dinge ans Tageslicht kommen könnten, die sie lieber im Dunkeln lassen würde. Sie legt ihre riesige Lesebrille ab und lehnt sich zurück. Wie schwierig es ist, ehrlich zu sein, erkennt Valerie jetzt. Wie schildert man seine Gefühle, ohne sich völlig der Lächerlichkeit preiszugeben?
Sie macht sich den dritten Becher Kaffee und geht damit auf den Balkon. Das gelbe Fahrrad des Briefträgers steht vor dem Haus. Sie überlegt, ob sie nach der Post sehen soll. Die Briefkästen für alle Hausbewohner hängen unten im Eingang.
Es gibt nichts Frustrierenderes, als vor dem Laptop zu sitzen und auf den viel zu hellen unbeschriebenen Bildschirm zu starren, während man auf eine Eingebung wartet. Valerie geht am Laptop vorbei, ohne das Gerät eines Blickes zu würdigen. Sie muss raus. Frische Luft wird ihr guttun. Sie hat die Einladung zu einem TV- Interview noch nicht beantwortet, den Anruf ihrer Mutter ignoriert und im Verlag noch nicht zurückgerufen.
Sie zieht die Kühlschranktür auf. So gut wie leer. Nur ein halbes Glas Bens Blütenhonig, ein Geschenk von Mira, sieht ihr entgegen, sie starrt einen Moment zurück, lässt die Tür zufallen und stellt fest, dass sie hungrig ist. Sie hat nicht mal mehr ein Stück Brot in der Brotdose. Valerie öffnet den Kühlschrank noch einmal. Ben. Kurz blitzt das Gesichtchen des kleinen Jungen auf Adams Schoß auf. Sie sieht eine Apfelblüte und eine winzige Karte auf dem Schildchen des Honigglases. Demnach ist der Honig aus der Gegend hinter Wedel. Hinter Wedel am Deich ist auch Fährmannssand.
Wie lange ist sie nicht mehr dort gewesen?
Der Gedanke an Bratkartoffeln lässt sie beinahe ohnmächtig werden. Zuletzt hatte sie dort mit Stiefvater Nummer zwei Bratkartoffeln gegessen. Sie war noch in dem Alter, in dem man Drachen steigen lässt, er schon wieder. Sie erinnert sich gut an ihn und gerne. Ein netter Mann, reich, auf arme Männer ließ ihre Mutter sich nicht ein, und sehr viel älter als Grace. Er ist schon lange tot. Auf ihn folgte Stiefvater Nummer drei, an ihn erinnert sich Valerie nicht so gerne. Er war zu jung für ihre Mutter und zu alt für ihre Tochter.
Valerie sitzt zu ihrer eigenen Verblüffung nach dem Fund des Honigglases wieder am Computer und diesmal fliegen die Gedanken ungefiltert über das Netz zu ihr. Sie hackt die Buchstaben förmlich in die Tasten, spürt keinen Hunger mehr, denkt nicht an die Post und unbeantwortete Mails, ignoriert Telefonanrufe. Sie kann diesen Text ihrer Mutter niemals zeigen …
Sie wäre entsetzt. Auch wenn sie bestimmte Dinge sicher nicht mehr nur ahnt, sondern weiß, hat sie immer vermieden, darüber zu sprechen. Sie ist im Verdrängen noch besser als sie selbst.
Nach dem Vorfall, wie Grace es nennt, wird Ehemann Nummer drei schnell zum Ex. Nicht, ohne eine beträchtliche Abfindung zu hinterlassen. Grace‹ Scheidungsanwalt, Georg, wurde Stiefvater Nummer vier. Und damit hoffentlich der letzte. Grace ist über sechzig. In diesem Alter lassen sich wohlhabende Ehemänner nicht mehr so leicht auftreiben. Ihre Mutter ist ihr ein Rätsel. Ohne Ehemann ist sie eine Suchende. Mit einem Mann an ihrer Seite beginnt sie zu leuchten. Eine hingebungsvolle Ehefrau, brillante Gastgeberin, perfekt in jeder Beziehung. Nur das Mütterliche müsste man ihr noch beibringen. Die Durststrecken zwischen den Ehemännern waren, dem Himmel sei Dank, nur kurz. Grace war und ist immer noch eine bestechend attraktive Frau.
Valerie streckt sich, sichert den Text, und greift nach dem letzten trockenen Keks neben dem Gerät. Sie überlegt ob sie nach Fährmannssand fahren soll. Der Abend ist mild und sie hat Hunger. Vielleicht mit Ruth …? Valerie besitzt kein Auto. Mit dem Rad ist sie in der Stadt mobiler. Außerdem, wozu gibt es Taxis? Sie ist so hungrig, dass sie die Katze fressen könnte. Nein, sie muss sofort … Bevor sie nach dem Telefon greifen kann, klingelt es Sturm. Und Sturm ist immer Ruth. Sie drückt auf die Sprechanlage und öffnet gleichzeitig die Tür.
Ruth mit einem Tablett Sushi. »Das müssen wir schnell essen, sonst wird es schlecht.«
»Du ahnst nicht, wie schnell ich essen kann.« Valerie umarmt die Freundin. »Woher wusstest du, dass ich am Verhungern bin?«
Sie geht in die Küche um Gläser und Weißwein zu holen. Als sie zurückkommt, erstarrt sie. Ruth steht vor dem Laptop und sieht auf den Schirm. Sie wendet sich ihr zu. »Was ist das für ein Vorfall, von dem du …«
Mit zwei Schritten ist Valerie bei ihr und klappt den Laptop zu. Ruth weicht einen Schritt zurück.
»Das ist nichts, nichts, was ich mit meiner Lektorin schon besprechen möchte.«
So abweisend hat Ruth Valerie selten erlebt. »Entschuldige, der Kasten stand offen ich dachte nicht, dass …«
»Vergiss es, ich bin noch nicht so weit, um über den Text zu sprechen.«
»Verstehe.«
Valerie stellt die Gläser neben das Tablett mit Sushi. Und lässt sich in einen der bequemen Balkonstühle fallen. Sie stöhnt auf, als sie das erste Fischröllchen in den Mund schiebt. »Du rettest mir das Leben.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass der Verlag dringend auf den nächsten Roman von dir wartet. Das allein ist der Zweck dieser Lebensrettung.«
Valerie lacht und greift nach ihrem Glas. »Ich ahnte, dass du Hintergedanken hast.«
»Ich soll dich von Viktor grüßen. Er will wissen, ob du das angefragte Interview annimmst.«
»Ich denke schon, aber ich habe noch nicht zugesagt. Das mache ich morgen.«
Der süßliche Duft von nicht ganz legalem Räucherwerk zieht kaum merkbar durch die Luft. Ruth beugt sich übers Geländer.
»Deine Halbstarken haben den Spielplatz übernommen.«
Valerie schaut auf ihre Uhr und nickt. Zweiundzwanzig Uhr. Sie gähnt.
»Ich würde auch gerne mal wieder eine rauchen.«
Sie erinnert sich, dass sie ihre Zigaretten und das Feuerzeug auf dem Tisch hat liegenlasen, an dem sie Adam getroffen hat. Wollte sie ihm damit sagen, dass sie ihn wiederzusehen wünscht? Freud hätte es vermutlich so interpretiert.
Ruth lacht. Ihre Zähne leuchten weiß in ihrem, von blauschwarzem Haar eingerahmten, dunklen Gesicht. »Das nächste Mal bringe ich dir, statt Sushi, ein Sträußchen Cannabis mit.«
Bei dem Wort Sträußchen fällt Valerie die Apfelblüte auf dem Etikett ihres Honigglases ein. Sie nimmt sich vor, nachzusehen, woher der Honig stammt.
Nachdem Ruth gegangen ist, sucht sie nach der Adresse auf dem Aufkleber des Honigglases. Aber die ist unleserlich. Sie fragt sich, wie sie auf die Idee kommt, dass Adam der Honigproduzent sein könnte. Und sie fragt sich, was es ist, das sie so oft an diesen Mann denken lässt. Der Gedanke an ihn lässt ihr Herz schneller schlagen.
Valerie stellt das Glas zurück und geht ins Badezimmer. Immer noch spukt Adam in ihrem Kopf herum, sie sieht sein gebräuntes Gesicht vor sich, das auf Arbeit im Freien schließen lässt. Seine kräftigen, ebenfalls braungebrannten Hände, die den kleinen Jungen festhalten, sehen auch nicht nach Schreibtischtäter aus.
Sie ist hundemüde, aber sie kann, wie so oft, nicht einschlafen. Adam und Ben spuken in ihrem Kopf herum.
11 August
Adam fährt den Pritschenwagen auf den Hof. Er hat einige seiner Kunden mit Äpfeln beliefert. Unter anderem ein Café in der Nähe, das eine Apfelwoche anbieten will, mit Rezepten, wie ihm der Inhaber erklärt, in denen der Apfel eine Hauptrolle spielt. Von Apfelcrumble bis gebratenem Chicorée und Apfel zu Spagetti oder Apfelspatzen ist alles dabei.
Vor der Tür der Scheune parkt ein Jeep. Er winkt. Die Fahrerin des Wagens, die gerade aussteigt, kennt er inzwischen gut. Er hat sie einmal beleidigt, indem er ihren uralten Jeep als fahrenden Müllhaufen bezeichnet hat.
Die Bienenkönigin. Liz kennt sich mit Bienen so gut aus, wie niemand sonst. Sie weiß alles über Bienen. Sie kommt, wann immer es nötig ist. Adam hat drei Bienenvölker auf dem Hof vorgefunden. Ein Steckenpferd seiner Schwester. Als Biologe kann er Bienen perfekt sezieren, aber wie man sie pflegt und mit ihrer Hilfe Honig herstellt, davon versteht er nichts. Will er auch nicht, Arbeit hat er genug, ohne Honig zu machen. Liz kommt aus Hetlingen, ganz in der Nähe. Im Mai hat sie zwei der Bienenvölker geteilt. Jetzt hat Adam fünf Völker. Liz ist ihren Schützlingen nicht unähnlich. Sie trägt dicke, runde Augengläser mit gelber Umrandung. Ihr Gesicht ist gebräunt von zu viel Sonne. Der hellgelbe abgewetzte Overall, den sie gerade über Jeans und T-Shirt zieht, betont eine schmale Taille und ein sehr weibliches Hinterteil. Uneitel und alterslos. Er hat keine Ahnung, wie alt Liz ist. Irgendetwas zwischen fünfundvierzig und sechzig. Ihre Stimme ist dunkel und weich und beruhigend. Willie, ein grauer Mischling unbekannter Herkunft, ein Tier, von Respekt einflößender Größe, springt hinter ihr aus dem Jeep.
Ben hüpft aufgeregt in seinem Kindersitz auf und ab. Die einzige Person, außer ihm und Hinnerk, der er sein Vertrauen schenkt, ist Liz.
Adam beeilt sich, Ben aus seinem Sitz zu befreien.
»Moin.« Liz winkt ihm kurz zu, bevor sie mit Ben an der Hand zu den Bienenkästen, den sogenannten Beuten, geht. Willie folgt den beiden. Liz wird sich auch in Wintermonaten um die Bienen kümmern. Sie redet nicht viel. Vielleicht ist das der Grund, warum Ben sie mag. Sie fragt nichts, antwortet aber geduldig auf Bens Fragen.
Adam betritt das Gewächshaus, in dem er seltene Kräuter züchtet. Seine Idee, kleine Stadtbalkone oder Gärten mit blühenden Kräutern, statt mit Blumen zu bepflanzen, kommt in der Stadt gut an. Sein Blick gleitet über die vorgezogenen Pflanzen. Einige sind so weit, dass er Samen nehmen und trocknen kann. Hier experimentiert er mit natürlichem Dünger, der effizienter als handelsüblicher Naturdünger oder chemischer Dünger werden soll. Pestizide kommen ihm nicht ins Haus.
Adam geht hinüber zur Scheune. Er packt einen Stapel Holzkisten auf seinen Kastenwagen und fährt ihn vor das zweite Gewächshaus, wo die vorgezogenen Pflanzen, die noch vor dem Herbst gesetzt werden sollen, warten. Er füllt die Kisten mit graugrünem Salbei, Minze und Thymian, winterhartem Lavendel, Berg-Bohnenkraut, das anders, als Sommer-Bohnenkraut, kalte Temperaturen problemlos übersteht, und Rosmarin.
Hinnerk kann nach den Plänen, die Adam gezeichnet hat, arbeiten. Jede der Kisten bekommt ein Schildchen mit Namen und Adressen. Die Pläne legt er oben drauf.
Drei Balkone und ein Stadtgarten in Hamburg warten morgen auf die Bepflanzung. Mehr können Hinnerk und Piet nicht schaffen. Wenn sie Pech haben, müssen sie die schweren Kisten über zwei oder drei Etagen, ohne Aufzug nach oben wuchten. Dazu kommt noch das Arbeitsgerät und Säcke mit der Spezialerde. Bei der Hitze, die jetzt noch herrscht, kein reines Vergnügen. In jede der Pflanzkisten stellt er ein Gratis-Honigglas. Wenn Liz und die Bienen fleißig sind, denkt er, kann ich nächstes Jahr vielleicht schon Honig verkaufen. Den Großteil der letzten Ernte hat er Liz überlassen und nur wenige Gläser für den Eigenbedarf und seine Kunden behalten. Adam schaut nach der Bewässerungsanlage und schließt das Gewächshaus hinter sich ab.
In Gedanken prüft er noch einmal seine Telefonliste. Er hat am Morgen nicht alle Kunden erreicht, um für Hinnerk abzusagen und neue Termine zu machen. Er zieht sein Handy aus der Tasche und sucht eine Nummer. Ein AB schaltet sich ein. »Sprich mit mir«, hört er. Er lächelt. Was für eine ungewöhnliche Aufforderung. Und eine ungewöhnliche Stimme.
Sie klingt in seinen Ohren wie eine Einladung, ein Flirt, ein Versprechen. Ein Versprechen wofür? Er bittet um Rückruf und erklärt, dass Hinnerk den Termin für morgen nicht einhalten kann.
Schon von weitem sieht er Ben in seinem weißen Schutzanzug. Ben steht vor Liz und scheint etwas zu sagen. Beim Näherkommen hört er Liz: »Honigschleuder« sagt sie langsam und deutlich.
Gleich darauf wiederholt Ben fehlerlos: »Honigschleuder.«
Er strahlt über das ganze Gesichtchen und läuft Adam entgegen. Adam fängt ihn auf und wirbelt ihn herum. »Ich bin deine Honigschleuder.«
Ben kreischt vor Vergnügen.
»So«, sagt Liz, »wir sind fertig.«
Adam nimmt Ben auf den Arm und geht mit ihm und Liz zum Haus.
»Ich könnte dir zeigen, wie man sie gegen Milben schützt und im Winter füttert.«
»Nee, Liz. Lass mal. Mir ist es lieber, du machst das.«
Adam weiß, wie wichtig die Behandlung gegen Varroamilben ist. Sie können ganze Bienenvölker ausrotten, und nicht nur seine eigenen, sondern auch die der Nachbarn. Immer, wenn Liz da ist, essen sie zusammen. Normalerweise ist sie ausgeglichen und zum Reden bereit. Vorausgesetzt, sie reden über Bienen. Heute jedoch wirkt sie beunruhigt.
»Kann ich bei dir duschen?«
Adam schaut überrascht auf. »Ist deine Dusche kaputt?«
»Ja.«
»Ja, klar. Lass mich erst mit Ben duschen, danach bist du dran. Handtücher liegen auf dem Regal über der Badewanne.«
Irgendwas stimmt nicht mit Liz. Er rubbelt Bens Haare trocken und steckt ihn in ein frisches T-Shirt.
Adam steht am Herd. Er brät Zwiebeln in Öl an, wirft kleingeschnittenes Gemüse, Zucchini, Bohnen und Möhren in die Pfanne und fährt die Hitze herunter. In einer zweiten Pfanne brutzeln rohe Kartoffelscheiben.
Liz kommt, nach Duschgel duftend, aus dem Bad. Sie nimmt drei Teller und Gläser aus dem Schrank und stellt alles auf den Tisch.
»Wein steht im Kühlschrank«, sagt Adam.
Nach dem Essen bringt er Ben ins Bett und setzt sich zu Liz. »Also, was ist?«
»Was soll sein? Nix is.«
»Liz.«
Adams Handy meldet sich. »Entschuldige.«
Er steht auf und geht ans Fenster. Hinnerk teilt ihm mit, dass er in zwei Tagen wieder fit sein wird.
»Die Entzündung ist raus«, sagt er, »und die Zahnschmerzen sind weg.«
»Alles klar, Hinnerk.«
Adam steckt das Handy ein. Als er sich umdreht, ist Liz gegangen.
»Verdammt!« Adam seufzt. Etwas ist nicht in Ordnung mit ihr, da ist er sich sicher. Er lauscht dem kaputten Auspuff ihres Jeeps nach.
Seit einer Stunde sitzt Adam am Schreibtisch. Er schreibt Rechnungen und macht Überweisungen. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass es nach zweiundzwanzig Uhr ist. Ganz schön spät für ein Kundengespräch. Er zupft das Handy noch einmal aus der Tasche.
»Gartenbaufirma Frank.«
Stille.
»Hallo?«
»Herr Frank, entschuldigen Sie bitte, dass ich so spät anrufe, ich hatte mit einem Anrufbeantworter gerechnet.«
Adam drückt den Hörer fester ans Ohr. Da ist sie wieder, diese berückende Stimme. Er hat sie schon einmal gehört, aber wo?
»Ich hoffe, ihr Hinnerk ist nicht krank?«
»Nichts Schlimmes«, sagt Adam und kommt sich dämlich vor. Warum sagt er nicht, dass Hinnerk Zahnschmerzen hat? »Tun Sie einfach so, als sei ich der AB.«
Ihr leises Lachen. »In Ordnung. Hier ist Valerie Fuchs, ich bin eine Woche lang auf einer Geschäftsreise. Wenn ich wieder da bin, können wir einen neuen Termin vereinbaren. Ich melde mich bei Ihnen.«
»Geschäftsreise, was macht man da?«
»Man reist und macht Geschäfte.« Wieder dieses Lachen. »Seit wann stellt ein Anrufbeantworter Fragen? Gute Nacht, AB, schlafen Sie gut.«
Damit ist sie weg. Er starrt sein Handy an, als könnte er sie damit zurückholen.
Valerie, ein melodischer Name, altmodisch. Sie hat Witz. ›Gute Nacht, AB`. Er wird Hinnerk nach ihr fragen. Adam geht sehr nachdenklich ins Bett.
Mitten in der Nacht wird Adam von einem Geräusch geweckt, das ihm gar nicht gefällt. Schwere Schritte unter dem Dach seines Hauses. Er lauscht noch eine Weile. Als seien Möbelpacker unterwegs. Morgen muss er etwas gegen die Marder unternehmen.
12 August
Valerie zwingt sich, ihre Mutter anzurufen. Da sie nur den AB erreicht, steckt sie, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, das Smartphone wieder ein. Sie ist ohnehin an ihrem Ziel. Vor ihr ragt riesig die Elbphilharmonie auf. Sie bezahlt das Taxi und steigt aus.
Hier, mit Blick auf die Konzerthalle, liegt das Restaurant Carls, ein Ableger des Hotel Louis C. Jacob an der Elbchaussee. Die Elbe glitzert im Sonnenlicht. Der Sommer ist noch nicht vorbei. Ein gewaltiger Containerriese bewegt sich, von Lotsenbooten begleitet, den Strom hinunter.
Simone, die TV-Moderatorin, mit der sie verabredet ist, sitzt mit dem Rücken zur Elbe. Sie erhebt sich bei Valeries Anblick. Ihr Designer Kostüm sitzt straff wie eine Uniform. Ihre Stimme bringt Glas zum Schmelzen. Valerie sieht sich unruhig um. Jeder Gast an den Tischen um sie herum kann ihrem Gespräch folgen.
»Kommen Sie, ja, kommen Sie. Ich habe schon gewählt, ja, gewählt.« Sie setzt sich wieder. Die Moderatorin reicht ihr die Karte. »Simone, sagen Sie Simone zu mir.«
»Valerie.«
Sie ist irritiert. Die Frau scheint jedem ihrer Sätze Nachdruck verleihen zu wollen, indem sie das Gesagte wiederholt.
»Das Essen hier ist ausgezeichnet, ja, sehr gut.«
Valerie vertieft sich in die Karte. Sie isst selten um diese Zeit und hat auch jetzt keinen Hunger. Als der Kellner an ihren Tisch tritt, bestellt sie Salade César mit Parmesan und Riesengarnelen. »Den Speck lassen Sie bitte weg.«
»Sehr wohl, Madame.«
Simone bestellt ein Drei-Gänge-Menü. Valerie schaudert es. So lange wird sie die Frau nicht ertragen. Sie sieht auf ihre Uhr. Das Essen zieht sich dank der drei Gänge, die Simone zu sich nimmt, wie Valerie befürchtet hat. Sie sitzt inzwischen bei einem Mocca, von dem sie hofft, dass er sie vor einer Ohnmacht bewahrt. Nachdem sie zum x-ten Mal auf die Uhr gesehen und genug von Simones Small Talk hat, sagt sie: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir jetzt zum Punkt kommen. Ich bin spät dran und habe noch eine Verabredung.«
»Oh, natürlich, natürlich.«
Simone, denkt Valerie, als sie das Carls verlässt, ist eine unglaublich indiskrete Frau. Eine Frau, die mit ihrem Wissen um die Promis dieser Welt nicht eben sparsam umgeht. Sie fragt sich, was Simone wohl von ihr erzählen wird. Ein Interview mit ihr kommt jedenfalls nicht in Frage, auch wenn sie sich damit Viktors Unmut zuziehen wird. Viktor ist geil nach nahezu jeder Art von Werbung. Vor allem dann, wenn sie nichts kostet.
Wie aufs Stichwort meldet sich ihr Smartphone. Viktor!
»Und, was habt ihr ausgemacht?« Viktor meldet sich nie mit seinem Namen. Er erwartet, dass sie seine Stimme erkennt und fällt jedes Mal mit der Tür ins Haus. Wie Grace.
»Gar nichts, wir haben gar nichts ausgemacht. Diese Frau ist unerträglich. Interview ja, mit ihr, nein.«
»Warum nicht?«
»Hab ich gerade erklärt, wir sind nicht kompatibel.«
Sie steckt das Handy in die Tasche, ohne sich zu verabschieden, und biegt links ab auf Am Kaiserkai, als das Handy vibriert.
»Endlich erreiche ich dich mal.« Auch ihre Mutter macht keine Umwege.
»Hallo, Grace.«
Valerie überlegt, in die Speicherstadt zu gehen. Diese roten Backsteinbauten, die zum Weltkulturerbe gehören, faszinieren sie. Nach Tagen der Isolation braucht sie frische Luft und Bewegung. Dieser Tag ist zu schön, um ihn wieder vor dem PC zu verbringen.
»Bist du noch dran?«
»Ja, natürlich.«
Sie überquert eine Brücke. Kehrwiedersteg. Ein hoffnungsvoller Name für die Seeleute, die oft monatelang auf See sind. Gleich darauf biegt sie rechts ab und steht vor dem Miniatur Wunderland. Die ganze Welt im Miniformat. Wie lange ist sie nicht mehr hier gewesen? Kurz überlegt sie, hineinzugehen, verwirft den Gedanken, als sie die Schlange der Wartenden vor dem Gebäude wahrnimmt.
»Was hältst du davon?«
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Ich habe dich zum Essen …«
»Grace, ich rufe dich an, wenn ich zu Hause bin. Es ist furchtbar laut hier, ich kann dich kaum verstehen.«
Valerie steckt das Gerät in die Tasche. Sie hört gerade noch ein: »Aber …«
Sie kann sich vorstellen, wie beleidigt ihre Mutter sein wird, wenn sie nachher zurückruft. Damit stürzt sie Valerie noch immer in Verzweiflung. Grace ist in der Lage, tagelang kein Wort mit ihr zu reden. Sie fragt sich, wen ihre Mutter diesmal zum einem ihrer eleganten Essen eingeladen hat. Sie kann es nicht lassen, einen attraktiven Junggesellen dazu zu bitten. Georg, ihr derzeitiger Ehemann, Stiefvater Nummer vier, kann nach Bedarf frisch Geschiedene herbeizaubern. Er ist nicht umsonst Scheidungsanwalt.
Anscheinend ein florierendes Geschäft, denkt sie zynisch.
Wie dumm von ihr, Grace die Trennung von Magnus zu gestehen, das musste ja ihren Kupplerinnen-Instinkt aktivieren.
Es war Grace wichtig, was Freunde und Nachbarn dachten. Eine verheiratete Tochter wäre ein Erfolg, vor allem für sie als Mutter. Selbstverständlich mit einem gut situierten, angesehenen Mann.
Valerie verzieht die Lippen. Ich sollte mir einen Clochard suchen.
Ein halbes Leben lang hat sie getan, was Grace von ihr verlangte. Jetzt nicht mehr, schwört sie sich. In Gedanken versunken läuft sie bis zum Rödingsmarkt. Sie überlegt, ein Taxi zu rufen, entscheidet sich dann aber vorher den Michel, das Wahrzeichen Hamburgs, zu besuchen. Zuletzt ist sie im Dezember dort gewesen. In dieser wunderschönen Kirche Bachs Weihnachtsoratorium zu hören, ist eines der wenigen vorweihnachtlichen Rituale, das sie noch pflegt.
Valerie ist nicht gläubig, eine Kirche betritt sie nur, um Konzerte zu hören oder vor der Hitze zu flüchten, wie heute. Sie setzt sich in eine der vorderen Bänke, die deutlich breiter und bequemer sind, als die hinteren. Das Senatsgestühl ist bei Festakten, auch Trauerfeiern, für Regierende vorgesehen. Sie fragt sich, ob die feineren Leute empfindlichere Hintern als das gewöhnliche Volk haben. Der lichtdurchflutete Raum umfängt sie mit wohltuender Stille. Sie legt den Kopf in den Nacken und genießt die schlichte Schönheit des Deckengewölbes. Verkehrslärm, der nur ein leises Rauschen in den Kirchenraum schickt, macht die Stille noch stiller.
Babygeschrei lässt sie hochfahren. Diesmal ist es nicht das Schreien des Säuglings, der sie in ihren Träumen heimsucht. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen durch den Gang neben ihr.
Valerie erhebt sich und flieht. Sie friert trotz der Hitze. Über die Taxi-App bestellt sie einen Wagen. Während sie wartet, blickt sie zum Turm der Kirche empor. Sie denkt an den Text, den sie nur für sich schreibt. Ob sie ihn jemals veröffentlichen wird, weiß sie nicht. Ob er ihr helfen wird, von ihren Albträumen loszukommen, weiß sie auch nicht. Je länger sie hinaufstarrt, desto schneller scheint der Turm auf sie herabzustürzen. Erst als sie das Taxi hört, wendet sie sich ab.
Sie wird sich an den Roman setzen, für den sie bei Viktor schon den Vorvertrag unterschrieben hat. Noch hat sie keine Zeile geschrieben. Von dem Honorar, das er vorab zahlt, kann sie leben. Sie vermutet, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Schweigegeld? Vielleicht. Soll er sich fürchten. Obwohl er eigentlich wissen müsste, dass sie über ihre Affäre niemals ein Wort verlieren würde. Sie mag seine Frau.
Valerie steigt aus dem Taxi und stöckelt mühsam zur Haustür. Die hochhackigen Schuhe anzuziehen war keine gute Idee. Bei dieser Hitze fließen ihre Füße von alleine aus den Schuhen. Sie bleibt stehen, zieht die Pumps aus und läuft barfuß die Stufen zum zweiten Stock hoch. Wie immer sucht sie nach dem Schlüssel.
Von innen hört sie die Katze maunzen und an der Tür kratzen. Eine hässliche Angewohnheit. Man kann an der Tür dunkle Kratzspuren erkennen. In dem Moment, in dem sie den Schlüssel ins Schloss steckt, hört sie Schritte im Treppenhaus. Sie hebt den Kopf und lauscht. Der alte Meckerer von oben? Valerie dreht den Schlüssel und stößt die Tür so heftig auf, dass die Katze einen Satz rückwärts macht. Bevor sie die Tür zuschlägt, sieht sie die schlanke Gestalt ihrer Nachbarin nach unten hasten. Was tat sie dort oben? War sie ihrem Ehemann entflogen. Vielleicht hieß sie nicht umsonst Katja Vogel?
Valerie hebt die Katze auf. Von unten ist nichts zu hören. Entweder ist der Ehemann nicht zu Hause, oder die beiden vertragen sich zur Abwechslung mal.
Nachdem die Katze versorgt ist, betritt sie ihr Badezimmer. Sie hat nur noch einen Gedanken: Duschen.
In ein weißes Frotteetuch gehüllt, nimmt sie ein Glas Leitungswasser mit auf den Balkon. Auch die Pflanzen brauchen Wasser. Sie zieht den Topf mit der weißen Euphorbia weiter nach vorne, sodass sie die eingegangene Pflanze dahinter, deren Namen sie vergessen hat, verdeckt. Sie betrachtet ihre Finger, die das Wasserglas umspannen, keiner davon ist grün. Nein, sie besitzt keinen Grünen Daumen. Bevor sie zum Schreibtisch geht, berührt sie die zarten Blüten des Zauberschnees, der tatsächlich bis zum Winter blüht.
Valerie setzt sich an ihren Computer, ruft eine neue Seite auf und tippt den Arbeitstitel des Romans, den sie ihrem Verlag angeboten hat: Königskinder.
Zwei Stunden später hat sie immer noch keine Zeile geschrieben und stellt sich die Frage, ob ihre Mutter sich einem ihrer vier Ehemänner je ungeschminkt gezeigt hat. Sie kann sich nicht erinnern, Grace einmal ohne Make Up gesehen zu haben. Wie hat sie das angestellt? War sie blitzschnell nach dem Aufwachen zum Schminktisch gejumpt?
Valerie tappt zum Badezimmerspiegel. Was siehst du?, fragt sie sich. Mit zehn Fingern fährt sie sich durch die von Hitze und Feuchtigkeit gelockten Haare. Sie bringt ihr Gesicht ganz nah an das Spiegelglas.
Halb geschlossene Augen, gerade Augenbrauen. Schnell wechselnde Bilder, ihr Gesicht wird jünger, so jung. Als ob sie ein Kalenderblatt nach dem anderen abreißt. Dahinter immer sie, immer jünger, immer kindlicher. Jahre blättern ab, Valerie sieht sich mit fünfundzwanzig, mit zwanzig, achtzehn, sechzehn, fünfzehn, vierzehn. Nein, weiter zurück kann sie nicht, will sie nicht gehen. Sie reißt den Kopf hoch.
Tränen in ihren Augen, hinter ihrer Stirn das Gesicht eines Cherubs.
Der Junge ist schön und in seinem Rollstuhl gefangen. Sie trifft ihn auf den langen Krankenhausfluren, später im Garten der Klinik, in der Grace sie untergebracht hat. Die letzte kleine Operation, die nur eine kosmetische ist. Ihre Mutter kann sich nicht mit einer sichtbar beschädigten Tochter abfinden. Manchmal fragt sie sich, warum sie sich niemals gewehrt hat.
»Ich werde nie mehr gehen können«, sagt Samuel, ihre erste und einzige Liebe.
Valerie hat keinen Trost für ihn. Sie beugt sich zu ihm, hält seine Hand und küsst ihn auf die Stirn. Sie weint. »Ich werde morgen ganz früh entlassen. Meine Mutter holt mich ab.«
Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände. Von ihm bekommt sie ihren ersten richtigen Kuss. Den ersten richtigen Kuss von einem querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrer auf einem menschenleeren Klinikflur. Absurd? Sie hat es nie so empfunden.
Valerie findet ihn am Morgen darauf. Angeschnallt in seinem leise schlingernden Rollstuhl, auf dem Grund des Schwimmbeckens. Sein langes aschblondes Haar schwebt auf der Wasseroberfläche. Nie wird sie diesen Anblick vergessen. Samuel war erst achtzehn, als er sich ertränkt hat.
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