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»In was für einer beschissenen Welt leben wir eigentlich …«

Nicolas Eichborn

Die offizielle Trauerfeier der bei dem Absturz des Kampfjets ums Leben gekommenen Menschen fand in der Marienkirche in Rostock statt. Diese Kirche hatte eine bewegte Geschichte hinter sich. Sie war von allen vier Stadtkirchen die einzige, die die massiven Bombenangriffe des zweiten Weltkrieges zwischen 1942 und 1944, bei denen die Rostocker Innenstadt zur Hälfte in Schutt und Asche gelegt worden war, unbeschadet überstanden hatte.

Dreiundfünfzig Menschen waren bei dem Absturz des Jets getötet worden. Über dreißig lagen immer noch im Krankenhaus. Bei vielen von ihnen war der Zustand kritisch. Dementsprechend war die Kirche voll bis auf den letzten Platz. Da sich unter den Toten auch ein Offizier der Luftwaffe befand, waren eine Abordnung der Bundeswehr und ein Staatssekretär des Verteidigungsministeriums anwesend.

Von offizieller Seite waren der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern, sein Innenminister und ein Staatssekretär des Bundesinnenministeriums anwesend. Innenminister Schranz lag mit Grippe im Bett.

Das stimmte natürlich nicht, aber er stand auf einer Todesliste, daher hielten wir es für besser, zu dieser Notlüge zu greifen.

Die Trauerrede wurde vom Bischof der Nordkirche abgehalten.

Keiner der offiziellen Gäste sollte den Tag überleben.

Als die Bomben detonierten, stand der Bischof gerade in der Kanzel und zitierte aus der Bibel.

Sprengstoffexperten des BKA sollten später herausfinden, dass es sich um zwei Bomben gehandelt hatte. Eine war im vorderen Bereich der Sitzreihen versteckt worden, die andere im hinteren Bereich. So wurde ein maximales Ergebnis erzielt.

Über einhundertsechzig Menschen kamen bei der Explosion ums Leben.

Schrecklicherweise auch sehr viele Angehörige der Opfer des Absturzes.

Bei dem verwendeten Sprengstoff handelte es sich um Acetonperoxid, auch APEX genannt. Diese chemische Substanz war durch Spürhunde nicht auffindbar und der bevorzugte Sprengstoff des IS. Daher war es nicht überraschend, als Spezialkräfte des BKA nur wenige Stunden nach dem Anschlag vier als Islamisten bekannte Syrer in Rostock stellten und sie bei einem Schusswechsel töteten.

Der IS bekannte sich recht schnell zu dem Anschlag.

Tenor ihrer Verlautbarung war, dass sie Deutschland mit einer Seuche heimgesucht hatten, damit war der Ebola-Anschlag gemeint, dass sie unsere Anführer jederzeit eliminieren konnten, ein Hinweis auf den getöteten Verteidigungsminister, dass sie Flugzeuge vom Himmel fallen lassen konnten, und dass auch Gotteshäuser keine Sicherheit bedeuteten.

Die Bevölkerung war wie gelähmt.

Die Boulevard-Medien verbreiteten mit ihren Schlagzeilen Angst und Schrecken.

Und sie verurteilten unsere unfähige Regierung.

Wir trafen uns wie immer zu einem konspirativen Treffen in Helens und meiner Wohnung.

Kernberger und Schranz hatten zur Sicherheit den Wagen gewechselt. Es war mehr als wahrscheinlich, dass Dietrich mich noch immer überwachen ließ. Daher wäre es zu verdächtig gewesen, wenn immer derselbe Van mit verdunkelten Scheiben in meine Tiefgarage fahren würde.

Die Untersuchung meiner Wohnung ergab, dass niemand Wanzen versteckt hatte. Unsere Handys landeten wieder in der Stahlkiste. Die Stimmung als gedrückt zu bezeichnen, wäre stark untertrieben gewesen.

Schranz sah uns einen nach dem anderen an. »Ist jemand hier, der wirklich glaubt, dass die Anschläge von der IS begangen worden sind?«

Das war keiner von uns.

»Gut. Ich denke, es ist klar, was die Drahtzieher damit bezwecken wollten. Bislang gab es keine Verbindung zwischen dem Anschlag mit dem Ebola-Virus, dem Tod des Ministers und schlussendlich mit dem Absturz des Jets. Diese Verbindung bietet jetzt der angebliche Bekennerbrief des IS. Und wie zu erwarten war, stürzen sich die Medien darauf, als gäbe es kein Morgen.«

»Die zerreißen gerade die Bundesregierung in kleine Stücke. Ihrer Meinung nach ist nichts und niemand mehr sicher in Deutschland«, meinte Kernberger.

»Genau die Botschaft, die von den Arschlöchern provoziert werden sollte«, sagte ich.

»Ja«, bestätigte Schranz. »Ohne es zu wissen, treiben die Medien die Bevölkerung genau in die von denen gewünschte Richtung.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass die so weit gehen«, sagte ich leise. »Eine Kirche, mitten in einem Trauergottesdienst … Herrgott noch mal.«

»Im Prinzip haben die damit die Vorgehensweise von islamistischen Terroristen kopiert«, meinte Patrick.

»Stimmt. Die sprengen irgendetwas in die Luft, und wenn die Rettungskräfte kommen, zünden sie die nächste Bombe«, sagte Helen.

»So lange, bis keine Rettungskräfte mehr kommen«, sagte ich. »In was für einer beschissenen Welt leben wir eigentlich …«

»Okay, wir wussten schon, dass die Anschläge alle zusammengehören. Die Bevölkerung nicht, für die ist das neu. Was haben wir nun zu erwarten und was tun wir dagegen?«, wollte Kernberger wissen.

»Wenn ich Hagedorns Plan richtig erinnere, dann befinden wir uns nun am Anfang von Phase fünf«, äußerte Helen.

»Das war die Phase der Umsetzung, richtig?«, wollte Schranz wissen.

Helen nickte. »Ja.«

»Scheiße«, sagte ich.

Schranz sah mich prüfend an. »Ich vermute, Dietrich wird sich jetzt sehr schnell bei dir melden und dich zu einem Treffen einladen.«

»Ja, denke ich auch.«

»Wir müssen dich verkabeln«, sagte Kernberger.

»Auf keinen Fall«, rief Helen. »Die werden ihn garantiert durchsuchen.«

Schranz und Kerni wechselten einen kurzen Blick.

Schließlich nickte Kerni. »Okay, keine Wanze. Aber dafür ein Peilsender.«

»Und den finden sie nicht, oder wie?« Helen war wirklich sauer.

»Wir haben da ganz neue Sender. Die werden geschluckt und aktiviert, sobald der Magen etwas zum Verdauen bekommt. Hält sich etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, dann wird er ausgeschieden.«

»Ich habe ja schon vieles ausgeschieden, aber ein Peilsender war noch nie dabei«, stellte ich fest.

Helen verzog das Gesicht.

Wir einigten uns darauf, dass ich diesen Sender schlucken würde.

Nun hieß es warten.

24

»Willkommen in unserem geheimen Rückzugsort.«

Olaf Dietrich

Der Anruf von Dietrich erfolgte am nächsten Tag. Er bat mich, Sachen für zwei Tage zu packen, wollte mir aber nicht verraten, warum.

»Wie lange, sagtest du, hält der Peilsender?«, wollte ich von Kernberger wissen.

»Etwa vierundzwanzig Stunden.«

»Na toll. Wenn ich das Ding jetzt verschlucke, wisst ihr zwar, wo ich bin, aber wenn sie mich am nächsten Tag woanders hinbringen, funktioniert das Teil nicht mehr und keiner wird erfahren, wo ich bin.«

»Dann musst du entweder einen zweiten Peilsender mitnehmen oder aber den einen erst dann schlucken, wenn du da bist.«

Helen schüttelte den Kopf. »Den Sender mitnehmen und erst schlucken, wenn Nicolas da ist, ist zu riskant. Was, wenn sie den Sender finden? Oder wenn Nicolas keine Gelegenheit bekommt, ihn zu verschlucken? Er muss es tun, bevor er Dietrich trifft. Dann wissen wir wenigstens, wo er ist.«

Ich gab Helen recht. Aber die Idee mit dem zweiten Sender fand ich auch nicht schlecht.

»Wie sieht das Ding aus? Können wir den Sender in einer Packung Bonbons verstecken, ohne, dass er auffällt?«

Kerni nickte. »Ja, das wird funktionieren.«

»Ich müsste nur den Sender erkennen. Ich will nicht eine ganze Packung Bonbons auf einmal fressen, nur weil ich nicht weiß, was was ist.«

»Auch das kriegen wir hin.«

Wir trafen alle Vorbereitungen, dann packte ich, schluckte den ersten Peilsender und fuhr zum vereinbarten Treffpunkt, der Tiefgarage eines Hotels am Potsdamer Platz.

· · ·

Wir waren etwa eine halbe Stunde unterwegs, als ich Dietrich mitteilte, dass ich aufs Klo musste.

Auf der Höhe Hoppegarten fuhr er rechts ran. Ich stieg aus, verkroch mich hinter einem Baum und pinkelte eine gefühlte halbe Stunde.

»Haben Sie Hunger?«, fragte Dietrich mich, als ich wieder neben ihm saß.

Nein, danke, ich hatte einen Peilsender zum Mittag.

Natürlich sagte ich das nicht, aber es lag mir auf der Zunge.

»Dauert es noch lange, bis wir da sind?«

»Noch etwa eine Stunde«, antwortete er.

»Und da, wo wir hinfahren, gibt’s nichts zu essen?«

»Doch, natürlich. Ich meinte ja bloß. Hätte ja sein können, dass Sie Hunger haben.«

»Nein, bis wir da sind, halte ich es noch aus.«

»Schlimme Sache, das mit dem Anschlag in Rostock, oder?«, wechselte er das Thema.

»Ja. Aber das kommt davon, wenn die Geheimdienste sogar vor anderen Behörden Geheimnisse haben. Genau aus diesem Grund ist es den Arschlöchern damals gelungen, in die Twin Tower zu fliegen. FBI und CIA hatten unterschiedliche Informationen und haben im Traum nicht daran gedacht, sie untereinander auszutauschen. Hätten sie es getan, hätten sie das Gesamtbild gesehen und die Anschläge verhindern können. Wir lernen einfach nicht dazu.«

»Ja, das habe ich auch schon gehört. Ich wusste jedoch nicht, dass wir in Deutschland dasselbe Problem haben.«

»Oh ja, haben wir. BND, BKA, Verfassungsschutz, sie alle kochen ihre eigene Suppe und wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, den anderen ihr Rezept zu verraten. Das nimmt zum Teil bizarre Formen an. Zum Beispiel dann, wenn das BKA an einer Sache dran ist, an der auch der Verfassungsschutz arbeitet. Dann schlägt das BKA zu und verhaftet – na, kommen Sie drauf? Genau, einen Beamten des Verfassungsschutzes.«

Er sah mich aus großen Augen an. »Echt jetzt?«

»Ja. Und das Spiel funktioniert in beide Richtungen.«

»Du meine Güte …«

»Professionell geht anders«, sagte ich.

Er nickte. »Das ist wohl wahr.«

Wir hingen beide unseren Gedanken nach. Längst hatten wir die Stadt verlassen und fuhren durch dünn besiedeltes Gebiet. Schon bald waren gar keine Häuser mehr zu sehen. Nur noch Felder und kleine Wäldchen. Wir befanden uns in der Märkischen Schweiz. Wir fuhren tatsächlich noch durch eine letzte Ortschaft mit dem spannenden Namen Bollersdorf, dann hinein in einen Wald.

»Wollen wir zur Jagd?«

Dietrich lachte. »Nein. Aber es wird rustikal, so viel kann ich sagen.«

Wie verließen den Wald und bogen dann rechts ab. Dietrich setzte sogar den Blinker, obwohl uns seit einer gefühlten Ewigkeit kein Fahrzeug mehr begegnet war.

Schließlich erreichten wir unser Ziel. Ein großes Holzhaus und mehrere kleinere Blockhütten, die rings um einen kleinen See standen.

Er parkte den Wagen vor dem Haupthaus und schaltete den Motor aus.

»Willkommen in unserem geheimen Rückzugsort.«

25

»Wie kommen Sie denn auf diesen Gedanken?«

Leonard Wittgenstein

Ich bezog eines der Blockhäuser und als ich es betrat, war ich erstaunt, wie komfortabel es war. Ich hatte sogar einen offenen Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Ich packte meine Sachen in den Massivholzschrank, in dem es ein klein wenig muffig roch. Dann setzte ich mich draußen auf die Terrasse und rauchte eine Zigarette.

Eine halbe Stunde später holte Dietrich mich ab. Gemeinsam schlenderten wir zum Haupthaus.

Vor der Tür blieb Dietrich stehen und sah mich prüfend an.

»Es kommt nicht sehr oft vor, dass die beiden jemanden hierher einladen, Herr Eichborn. Ich hoffe, Sie wissen diesen Vertrauensbeweis zu würdigen.«

»Es kommt auch nicht sehr oft vor, dass ich einfach so in einen Wagen steige, ohne zu wissen, wohin die Reise geht und wer oder was mich erwartet. Ich habe es trotzdem getan. Ich hoffe, das gibt Bonuspunkte bei Ihnen und den Herren, die da drin auf uns warten. Aber wenn Sie glauben, ich sage zu allem Ja und Amen, dann sollten wir wieder zurückfahren. Ich sage, was ich denke, Herr Dietrich. Wenn mir etwas nicht passt, erfährt man das recht schnell. Ich werde mein Verhalten nicht ändern, nur weil irgendjemand mir einen Vertrauensvorschuss gibt. Darum habe ich nicht gebeten. Wollen wir?«

Er sah mich einen Augenblick schweigend an, dann setzte er sich wieder in Bewegung.

Wir betraten das Haupthaus, das genau wie alle anderen Gebäude hier aus Massivholz bestand. Die Diele gab noch nicht sehr viel her, aber das änderte sich, als wir den Wohnraum betraten.

Ein offener Kamin, so groß, dass man einen Ochsen darin hätte zubereiten können, dominierte den etwa achtzig Quadratmeter großen Raum. Die südliche Seite des Raumes war fast vollständig verglast und bot einen mehr oder weniger freien Blick auf den See.

Die gegenüberliegende Seite bestand aus einem mächtigen Bücherregal. Rechts davon stand ein Esstisch, an dem zwölf Personen Platz fanden.

Auf der linken Seite standen mehrere Sessel und eine große Couch. Jeder der Plätze bot sowohl einen Blick auf den See als auch auf den Kamin.

Zwei Männer standen vor der Glasfront. Sie wandten sich uns zu, als wir eintraten.

Ich musterte sie aufmerksam.

Beide schätzte ich auf Anfang sechzig. Sie waren schlank, leicht gebräunt und trugen legere Klamotten. Der eine hatte kurzes graues, der andere kurzes dunkles Haar. Der Graue sah nach Geldadel aus. Ich vermutete, er war der Chef hier.

Als er mich sah, lächelte er breit und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne, die so ebenmäßig waren, dass sie nicht echt sein konnten.

»Herr Eichborn, endlich lernen wir uns persönlich kennen«, sagte er und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Mein Name ist Leonard Wittgenstein.«

Wittgenstein hatte ein scharf geschnittenes Gesicht mit energischem Kinn und stahlblauen Augen. Sein Händedruck war trocken und fest.

Er wandte sich an seinen Partner. »Darf ich vorstellen: mein Geschäftsfreund Klaus Hoffmann.«

Wir gaben uns die Hand und nahmen in der Sitzgruppe Platz.

Wittgenstein sah mich aufmerksam an. »Ich muss gestehen, ich war sehr gespannt darauf, Sie persönlich zu treffen.«

»Und ich muss gestehen, dass ich überrascht bin.«

Wittgenstein hob kunstvoll die Augenbrauen. »Warum?«

»Wegen Ihrer laxen Sicherheitsvorkehrungen. Was, wenn ich bewaffnet bin? Oder gar verkabelt?«

Er lächelte. »Aber Herr Eichborn, nur weil Sie nicht abgetastet worden sind, heißt es doch nicht, dass wir Sie nicht überprüft haben. Sie sind, ohne es zu bemerken, zweimal durchleuchtet worden. Sie sind weder bewaffnet, noch tragen Sie ein verstecktes Mikrofon.«

»Aha«, sagte ich.

»Wir legen sehr viel Wert auf Vertraulichkeit und Sicherheit, glauben Sie mir. Unsere technischen Mittel entsprechen dem neusten Stand.«

»Wie beruhigend.«

Er nickte. »Ja, nicht wahr.«

Hoffmann ergriff das Wort. »Sagen Sie, Herr Eichborn, glauben Sie auch, dass der IS hinter den Anschlägen steckt?«

»Nicht eine Sekunde.«

»Ach nein? Und warum nicht?«

»Der IS soll dazu in der Lage sein, einen Kampfjet abstürzen zu lassen? Ich bitte Sie. Und wenn die Typen in den Besitz von Ebola-Viren gekommen wären, hätten sie die in Washington freigesetzt, aber nicht in Berlin. Das ist totaler Humbug.«

Wittgenstein und Hoffmann wechselten einen Blick. Wenn mich nicht alles täuschte, waren sie ein klein wenig beunruhigt, was mich freute.

»Wissen Sie, ob es noch weitere Personen gibt, die das so sehen?«, erkundigte sich Wittgenstein.

»In meiner Firma glaubt keiner, dass das Bekennerschreiben authentisch ist.«

»Und bei den Behörden?«, erkundigte sich Hoffmann.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie wollen, höre ich mich um.«

»Das wäre sehr hilfreich«, sagte Wittgenstein. »Aber sagen Sie, Herr Eichborn, wenn es nicht der IS war, wer dann?«

Ich sah ihn direkt an. »Ich wette eine stattliche Summe, dass Sie und Ihre … Organisation dahinterstecken.«

Das verschlug ihm erst mal die Sprache.

Dann lachte er. »Wie kommen Sie denn auf diesen Gedanken?«

»Ich kann eins und eins zusammenzählen.«

»Das müssen Sie mir erklären«, sagte Wittgenstein.

»Okay, Herr Dietrich hier hat mir bei unserem ersten Treffen interessante Fragen gestellt. Unabhängig davon, ob meine Antworten der Wahrheit entsprachen, hat mir die daraus resultierende Diskussion einiges an Interpretationsmöglichkeiten gelassen. Und als ich eben begründete, warum der IS meiner Meinung nach nicht für die Anschläge verantwortlich sein kann, haben Sie und Ihr Kumpel Hoffmann ziemlich besorgt aus der Wäsche geschaut. Das war ebenfalls vielsagend.«

»Sie sind ein sehr guter Beobachter, Herr Eichborn«, stellte Wittgenstein fest.

»Haben Sie etwa vergessen, was ich mal beruflich gemacht habe?«

»Selbstverständlich nicht«, sagte Wittgenstein angesäuert.

Vielleicht sollte ich etwas vom Gas gehen.

»Aber beantworten Sie mir bitte eine Frage: Wenn es zutrifft, was Sie hier unterstellen, wenn also tatsächlich wir für die Anschläge verantwortlich sind; warum, glauben Sie, machen wir das alles?«

»Um das herauszufinden, bin ich hier.«

»Und wenn Ihnen die Antwort nicht gefällt?«

»Ich schätze, dann haben wir ein Problem.«

Wittgenstein schmunzelte. »Wir oder Sie?«

Ich sah ihn nur schweigend an.

Er erwiderte den Blick und es entstand daraus so was wie ein kleiner Machtkampf.

Wittgenstein zwinkerte als Erster. »Sie waren sehr offen, nun will ich es auch sein. Ich denke, wir sind uns einig, dass in Deutschland eine Menge schiefläuft.«

Er sah mich an und als ich zustimmend nickte, fuhr er fort. »Wir alle leben in einer ausgesprochen großen Komfortzone, Herr Eichborn. Diejenigen, die sehr viel besitzen, vermehren ihr Vermögen, und die, die nicht über viel Geld verfügen, kommen dennoch wunderbar zurecht. Nur ein verschwindend kleiner Anteil hat nichts. Und auch sie müssen nicht verhungern. Tun sie es trotzdem, liegt es an ihnen selbst. Es geht uns im Vergleich zu anderen Staaten gut. Zu gut. Wir merken nicht einmal, wie andere Länder, Länder, die früher keine Rolle spielten, uns technologisch abhängen. Deutschland rutscht langsam, aber sicher in die Zweitklassigkeit ab, und keinen interessiert es. Weil es uns ja so gut geht. Niemand denkt an die langfristigen Konsequenzen.«

»Ich gebe Ihnen soweit absolut recht«, sagte ich.

Zum Teil stimmte das sogar.

Im Vergleich zu manch anderen Ländern wie beispielsweise Portugal oder Griechenland ging es uns tatsächlich sehr gut. Bekanntermaßen waren die Deutschen ja Weltmeister im Jammern. Auf recht hohem Niveau.

Verhungern oder Not leiden musste bei uns niemand. Allerdings stimmte es auch, dass wir von anderen Ländern – gerade im Bereich Bildung – abgehängt worden waren. Vor allem in Skandinavien zeigten sie uns, wie so etwas organisiert werden müsste.

Er lächelte kurz. »Warum waren wir als Land so erfolgreich? Zum einen haben wir einen ungemein starken Mittelstand, das Rückgrat unserer Gesellschaft. Zum anderen waren wir über Jahrzehnte Export-Weltmeister. Unsere Technologie war überall auf dem Planeten heißbegehrt. Nehmen wir nur die Autobranche. Aber wir verlieren diesen Status. Andere haben aufgeholt. Und was den Mittelstand betrifft, hier haben wir gleich mehrere Probleme. Ich kenne kein anderes Land, in dem es kleineren Unternehmen so schwer gemacht wird, erfolgreich zu arbeiten. Komplizierte Steuergesetze, Hürden bei der Expansion ins europäische Ausland, immer schärfere Kündigungsregeln, und zu guter Letzt gelingt es immer weniger Unternehmern, Nachfolger zu finden. Denn die jüngere Generation hat all die Tugenden verlernt, die uns groß und erfolgreich gemacht haben. Unser Mittelstand steht vor dem Aus. Und wenn das geschieht, bricht alles zusammen.«

»Die Globalisierung ist, wenn sie unkontrolliert abläuft, ein riesiger Kannibale«, sagte ich.

Wittgenstein schlug sich auf die Schenkel. »Ha! Was für eine treffliche Bemerkung. Herr Eichborn, genauso ist es. Das Problem ist, dass der Mittelstand kaum über eine Lobby verfügt, die internationalen Konzerne jedoch schon. Deren Lobby ist so groß und so mächtig, dass man den Eindruck bekommt, sie lenken die Geschicke der Republik. Und so ist es ja auch.«

Hoffmann schaltete sich ein. »Wissen Sie, wie es um die Einsatzbereitschaft unserer hochgeschätzten Bundeswehr steht?«

»Nicht gut, so viel ist sicher«, brummte ich.

»Ich nenne Ihnen exemplarisch ein paar Zahlen der neuesten Waffensysteme. Beim Schützenpanzer Puma liegt die Einsatzbereitschaft bei nur siebenundzwanzig Prozent. Transportflugzeug A400M zwanzig Prozent. Kampfhubschrauber Tiger, dreiundzwanzig Prozent. U-Boot Klasse 212A sage und schreibe siebzehn Prozent. Die Moral der Truppe ist am Boden. Seitdem die Wehrpflicht ruht, hat die Bundeswehr riesige Probleme, Nachwuchs zu finden. Bedingt einsatzbereit ist stark untertrieben.«

»Ich weiß. Eine katastrophale Entwicklung«, bestätigte ich.

Wittgenstein beugte sich vor. »Wissen Sie, vorhin sagte ich, dass es uns in Deutschland sehr gut geht. Das stimmt soweit auch. Allerdings müssen viele Rentner in unserem Land einem Job nachgehen, weil das Geld hinten und vorne nicht ausreicht. Die Generation, die demnächst in den Ruhestand geht, steht noch schlechter da. Ohne eigenes Vermögen sieht es ganz düster aus.«

»Und die Jugend von heute hat keinen Bock auf richtige Arbeit«, fügte ich an.

»Korrekt. Und dann lassen wir auch noch seit Jahren zigtausende Flüchtlinge in unser Land und geben ihnen mehr als nur eine Grundversorgung. Teilweise ist deren neuer Lebensstandard höher als der eines Arbeitslosen oder Rentners. All das muss angegangen werden, Herr Eichborn. Es muss geändert werden. Nur mit der momentanen Regierung wird das nicht geschehen. Mit unserem politischen System wird es nicht funktionieren.«

Allmählich näherten wir uns dem Kern. Jetzt hieß es, behutsam vorzugehen.

»Aber wie sollten wir das machen? Ich meine, es dauert Jahre, einen Systemwechsel durchzuziehen. Und die Zeit haben wir wahrscheinlich nicht. Wenn es überhaupt funktioniert.«

Wittgenstein nickte so heftig, dass ich schon befürchtete, er hatte einen Anfall.

»Diese Probleme sind ja nicht neu. Sie existieren seit vielen Jahren. Nur kumulieren sie sich mittlerweile zu einem nicht mehr beherrschbaren Turm auf. Und um zum Kern Ihrer Anmerkung zu kommen: Wir arbeiten ebenfalls schon seit vielen Jahren an unserem Projekt. Um konkret zu werden, befinden wir uns in der Endphase.«

»Wozu brauchen Sie dann mich?«

Wittgenstein und Hoffmann tauschten erneut einen kurzen Blick aus.

Hoffmann beugte sich jetzt auch vor. »Als wir unser Projekt starteten, haben wir natürlich auch damit begonnen, unsere Leute in die Nachrichtendienste einzuschleusen. Aber mitten in Stufe vier tauchte urplötzlich eine neue Behörde auf. Eine, die wir nicht auf dem Schirm hatten, da niemand vorhersehen konnte, dass es sie geben würde. Sie wurde zu einer unbekannten Größe. Einem nicht abschätzbaren Risiko. Und das können wir uns nicht leisten.«

»Sie meinen das Amt für Innere Sicherheit«, stellte ich fest.

»Richtig.«

»Und natürlich wissen Sie, dass ich das Amt mit aufgebaut habe.«

»Deshalb sind Sie so wichtig für uns, Herr Eichborn. Sie sind für uns von unschätzbarem Wert«, bekräftigte Wittgenstein.

»Was hätte ich davon, wenn ich Ihnen helfe?«

»Eine sehr hohe Position in einer neuen Gesellschaft.«

»Haben Sie vor, noch mehr Kirchen in die Luft zu sprengen? Das ist nämlich eine Grenze, die ich nur sehr ungern überschreite.«

Wittgenstein senkte betrübt das Haupt. »Es ist uns sehr, sehr schwergefallen, diese Entscheidung zu treffen. Bitte glauben Sie mir das. Aber uns blieb keine andere Wahl. Zivilisten sind nicht unser Ziel, Herr Eichborn. Und sie werden es auch nicht sein.«

»Dann bin ich dabei.«

Wittgenstein klatschte in die Hände.

»Ausgezeichnet«, rief er und strahlte mich an. »Ich schlage vor, wir essen jetzt und danach besiegeln wir unsere Zusammenarbeit bei einem Glas exquisiten Rotwein.«

Ich verzog das Gesicht. »Haben Sie auch Bier?«

Als wir später beim Abendessen zusammensaßen, schaltete Dietrich einen großen Fernseher an. Ich blickte auf meine Uhr; zwanzig Uhr – Tagesschau-Zeit.

Nach wenigen Augenblicken wusste ich, warum er das Gerät eingeschaltet hatte.

Es war die Top-Nachricht.

In Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt waren hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die desolate Sicherheitssituation im Allgemeinen und die macht- und führungslose Regierung im Besonderen zu demonstrieren.

Hagedorn hatte das prognostiziert.

Das und noch mehr.

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