Kitabı oku: «Beurteilungsgespräche in der Schule», sayfa 3
2 Konversationsanalyse und darüber hinaus
„A speaker should, on producing the talk he does, orient to his recipient.“
(Sacks 1995: II: 438 [Fall 1971, lecture 4])
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit mündlichen Gesprächsaufnahmen und lässt sich grundsätzlich der Forschungstradition der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und damit der qualitativen Sozialforschung zuordnen (vgl. Deppermann 2008a: 10). Meine Studie orientiert sich hauptsächlich an der Konversationsanalyse, richtet sich jedoch in einigen Punkten nach den Anpassungen von Deppermann (2008a), der durch den Begriff Gesprächsanalyse seine methodischen Anpassungen in Abgrenzung zur ursprünglichen Konversationsanalyse anzeigt.1 Beispielsweise spricht sich Deppermann (2000; 2008a: 10) entgegen dem konversationsanalytischen Forschungsinteresse für den Einbezug von ethnografischem Datenmaterial aus (vgl. dazu Kap. 3.1).
Im Folgenden werden zuerst die Vorgehensweisen der Gesprächsanalyse sowie grundlegende Erkenntnisse der Gesprächsforschung vorgestellt (Kap. 2.1). In den weiteren Teilen werden theoretische und methodische Ansätze diskutiert, die sich als besonders zentral und fruchtbar für die Analyse zeigen. Es handelt sich dabei um die grundlegende Interaktivität und Ausrichtung an den Rezipierenden (Kap. 2.2), um Beteiligungsstrukturen in der Interaktion (Kap. 2.3) sowie um Theorien zu Identität(en) und Positionierungen im Gespräch (Kap. 2.4).
2.1 Gesprächsanalyse
Der theoretische und methodische Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird durch die ethnomethodologische Konversationsanalyse gegeben, wie sie in den 1960er Jahren entwickelt und massgeblich durch die Soziologen Sacks, Schegloff und Jefferson geprägt wurde (vgl. einführend in die Konversationsanalyse bspw. Auer et al. im Druck; Brinker & Sager 2010; Deppermann 2008a; Gülich & Mondada 2008; Henne & Rehbock 2001; Hutchby & Wooffitt 2008; Psathas 1995; Schegloff 1995; Schwitalla 2012; Sidnell 2011; Sidnell & Stivers 2013; ten Have 2007). Der Begriff Ethnomethodologie1 geht dabei auf Garfinkel (1967) zurück und wird allgemein definiert als „open-ended reference to any kind of sense-making procedure“ (Heritage 1984a: 5). Es sind dabei im Wesentlichen Methoden und Praktiken gemeint, die in einer sozialen Gemeinschaft verwendet werden, um Bedeutung herzustellen. Diese Praktiken werden als Ressourcen verstanden, die den Mitgliedern einer Gesellschaft für ihr Handeln zur Verfügung stehen und Forschende können wiederum durch Analysen der Praktiken Einblick in Handlungsweisen erlangen. Die Methoden und Praktiken sind gemäss Garfinkel accountable, was von ihm beschrieben wird als „observable-and-reportable, i.e. available to members as situated practices of looking-and-telling“ (Garfinkel 1967: 1). Damit wird davon ausgegangen, dass in einer sozialen Gruppe zumindest implizites Wissen über soziale Praktiken vorherrscht und dieses Wissen durch die AkteurInnen selbst in der situierten Praktik hervorgebracht wird.
Während es in der breiter soziologisch ausgerichteten Ethnomethodologie um jegliche soziale Prozesse geht und methodisch mehrheitlich mit teilnehmender Beobachtung oder Garfinkels berühmten breaching experiments2 gearbeitet wurde (vgl. Hutchby & Wooffitt 2008: 28f.), liegt der Fokus der Konversationsanalyse im Speziellen auf der sprachlichen Interaktion. Um genaues Hinhören und mehrfaches Abspielen zu ermöglichen, wurde seit den Anfängen der Konversationsanalyse mit Audio- und später dann auch Videodaten gearbeitet (vgl. z.B. Hutchby & Wooffitt 2008: 69ff.). Was die Interessen der Gesprächsanalyse sind, wird sehr treffend bei Deppermann (2008a: 9, Hervorhebung im Original) erläutert:
[Die Gesprächsanalyse] will wissen, wie Menschen Gespräche führen. Sie untersucht, nach welchen Prinzipien und mit welchen sprachlichen und anderen kommunikativen Ressourcen Menschen ihren Austausch gestalten und dabei die Wirklichkeit, in der sie leben, herstellen. Diese Gesprächswirklichkeit wird von den Gesprächsteilnehmern konstituiert, d.h. sie benutzen systematische und meist routinisierte Gesprächspraktiken, mit denen sie im Gespräch Sinn herstellen und seinen Verlauf organisieren.
Das Ziel der Gesprächsanalyse ist es also, die verschiedenen kommunikativen Ressourcen und Gesprächspraktiken von Gesprächsteilnehmenden zu untersuchen, um besser zu verstehen, wie Gespräche verlaufen. Wie auch bei der Ethnomethodologie liegt das Erkenntnisinteresse darin nachzuvollziehen, wie Bedeutung und Sinn im Gespräch hergestellt werden und folglich wie die Gesprächsteilnehmenden diese bedeutungsvolle Gesprächswirklichkeit konstituieren und interaktiv aushandeln. Diese gemeinsame Herstellung oder Hervorbringung der Gesprächsrealität, welche Garfinkel (1967: 11) als accomplishment oder achievement bezeichnet, gilt als zentraler Grundgedanke der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (vgl. z.B. Gülich & Mondada 2008: 13; Stukenbrock 2013: 222). Der hergestellte Sinn wiederum kann in der Analyse nachvollzogen werden, indem beobachtet wird, wie die Teilnehmenden interaktiv auf das Gesagte reagieren und Bezug nehmen und dadurch den weiteren Verlauf prägen. Die Gesprächsbeteiligten orientieren sich dabei an der grundlegenden Sequenzialität (vgl. Stukenbrock 2013: 231) bzw. Prozessualität (vgl. Deppermann 2008a: 8) von Gesprächen, d.h. an zeitlich nacheinander realisierten Gesprächsbeiträgen. Ausgehend von der sequenziellen Organisation von Gesprächen versteht sich die konversationsanalytische Methode auch als Sequenzanalyse (vgl. Kap. 3.1.3).
Wichtig ist bei der Analyse von Gesprächen, dass nicht die Frage im Zentrum stehen soll, welche Beweggründe eine Person zur einen Sprachhandlung und nicht zur anderen motivieren, sondern die Frage nach den verwendeten Ressourcen und Praktiken, die zur Ausgestaltung von Sinn und Bedeutung beitragen. So hält Sidnell (2011: 18) fest: „Rather than asking what is going on in the speaker’s head (or mind, or brain) we should be asking […] what is being accomplished in interaction by speaking in just this way“. Deppermann (2013a: 35) spricht in diesem Zusammenhang auch vom mentalen Agnostizismus und bringt so dezidiert zum Ausdruck, dass in der Gesprächsanalyse nur die beobachtbare Interaktion im Fokus des Interesses steht und alle Erklärungen und Interpretationen in der Interaktion selbst verankert sein müssen.
Welche Prämissen der Gesprächsanalyse zugrunde liegen und das analytische Vorgehen massgebend beeinflussen, soll in Kapitel 2.1.1 dargestellt werden. In Kapitel 2.1.2 werden einige grundlegende Prinzipien der Gesprächsorganisation vorgestellt, die sich auf Erkenntnisse aus Studien stützen und die in späteren Analysen vorausgesetzt und nicht mehr speziell eingeführt werden.
2.1.1 Prämissen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse
Eine Grundannahme der ethnomethodologisch ausgerichteten Gesprächsanalyse betrifft die Ordnung im Gespräch, die als Ausspruch „order at all points“ (Sacks 1995: I: 484 [Spring 1966, lecture 33]; Sacks 1984: 22) bekannt ist und besagt, dass jedes Detail in der Interaktion seine Bedeutung hat. So erklärt Heritage (1984a: 241) „no order of detail can be dismissed, a priori, as disorderly, accidental or irrelevant“. Pausen und Stimmveränderungen haben also denselben Stellenwert wie semantisch reiche Wörter. Die Prämisse bedeutet, dass Menschen im Gespräch Sinn und Bedeutung aus dem Gesagten machen und deshalb eine grundlegende Ordnung vorhanden sein muss. Gerade Phänomene wie Reparaturen zeigen auf, wie die erwartete, ‚normale’ Ordnung wäre, indem durch den Fokus auf ‚fehlerhafte’ Bestandteile eine Abweichung von der Norm gekennzeichnet wird (vgl. Sidnell 2013: 87). Wenn man davon ausgeht, dass kein Detail in der Analyse ausser Acht gelassen werden darf, da es vielleicht bedeutungstragend ist und Aufschluss über die tatsächlichen Praktiken zulässt, wird klar, dass die Analyse von Gesprächen unersättlich weitergeführt werden kann. Es ist also wichtig, zwar einerseits offen an die Daten heranzutreten und möglichst alle Interpretationswege zu bedenken, andererseits jedoch auch klare Fokussierungen von Einzelphänomenen anzustreben, um nicht in der Fülle der Details die Grundstrukturen der Gespräche zu vernachlässigen.
In direktem Zusammenhang mit der Prämisse order at all points kann auch die induktive, materialgestützte Vorgehensweise verstanden werden. Wenn nämlich alle Details im Gespräch potenziell bedeutungskonstitutiv sind, so müssen all diese Details in den Daten selbst betrachtet werden. Es ist demnach bezeichnend, dass in der Gesprächsanalyse die Fragestellungen am Material selbst entwickelt werden und nicht von Hypothesen ausgehend die Daten analysiert werden (vgl. z.B. Deppermann 2008a: 21; Sidnell 2011: 28f.).
Allerdings muss die Ansicht der rein induktiven Methode m.E. ein wenig relativiert werden. Wenn Heritage (1984a: 238) sagt, „original data are neither idealized nor constrained by a specific research design or by reference to some particular theory or hypothesis“, so kann dieser strikten Forderung kaum nachgekommen werden. Zwar wird hier deutlich gemacht, dass grundsätzlich nicht Theorien und Hypothesen als Ausgangspunkt der Analyse genommen werden, sondern die Daten jederzeit als primären Bezugspunkt betrachtet werden sollen. Damit setzt sich die Gesprächsanalyse methodisch gegen andere Ansätze der Linguistik ab, in denen zu Beginn klare Hypothesen eingefordert werden. Allerdings wird es kaum möglich sein, die Augen vor bereits existierenden Studien zu verschliessen und ein Projekt ohne Forschungsdesign zu planen. Auch das mehrfach postulierte „unmotivated looking“ (Psathas 1995: 45; vgl. auch Hutchby & Wooffitt 2008: 89) ist problematisch, wenn man bedenkt, dass alleine die Wahl, welche Daten aufgenommen werden oder wie die Aufnahmegeräte positioniert werden, eine gewisse Motivation für die Fokussierung von bestimmten Kontexten und Phänomenen zeigen. So behaupte ich, dass sich bei der Mehrheit der gesprächsanalytischen Projekte eine gewisse Erwartungshaltung nicht komplett vermeiden lässt. Beispielsweise wurde das Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit durch die Annahme motiviert, dass es sich beim spezifischen Kontext des schulischen Beurteilungsgesprächs um einen interessanten und potenziell emotional geladenen Gesprächstyp handelt, bei dem also die Beziehungsebene und die Rollenaushandlung von Interesse sein könnte. Trotzdem wurden keine konkreten Hypothesen aufgestellt, die es zu prüfen galt, sondern die weitere Arbeit war zunächst ganz im Sinne der Gesprächsanalyse so organisiert, dass die Daten für sich betrachtet wurden. Die am Ende tatsächlich analysierten Phänomene sind also durchaus materialbasiert zum Fokus geworden und so war beispielsweise eine Vertiefung der Adressierungsmechanismen vor Sichtung der Daten nicht vorgesehen. Jedoch müssen diese induktiv gewonnenen Erkenntnisse mit Resultaten aus früherer Forschung abgeglichen und komplettiert werden, um nachhaltige Forschung zu betreiben. Es kann nicht das Ziel sein, dass jede Studie in sich geschlossen durchgeführt wird, denn jede Erkenntnis trägt zur Theoriebildung bei. Es handelt sich also m.E. um ein mehrheitlich induktives Vorgehen, jedoch mit dem Ziel, sich trotz vielleicht bestehender Erwartungen von den Daten leiten zu lassen und nach den ersten materialgestützten Beobachtungen, die eigenen Erkenntnisse mit den theoretischen Annahmen zu verknüpfen. So trägt jede einzelne Studie zu einem vollständigeren Konzept zur sprachlichen Interaktion bei.
Ein wichtiger Grundsatz in der Gesprächsanalyse ist die Beschäftigung mit realen, ‚natürlichen’ Gesprächsdaten. Darunter sind jene Kontexte zu verstehen, die auch ohne Forschende ihre Existenz haben und nicht speziell für ein Forschungsprojekt arrangiert wurden. Arrangierte Gesprächskontexte wären beispielsweise Befragungen, Rollenspiele oder fiktive Gespräche aus literarischen Werken. Da es jedoch bei der Gesprächsanalyse im Wesentlichen darum geht, Aspekte der sozialen Ordnung in realen Gesprächen aufzudecken und zu verstehen, können nur reale Gesprächsdaten als Datengrundlage dienen. Dies wird bei Mondada (2013: 33) deutlich:
CA insists on the study of naturally occurring activities as they ordinarily unfold in social settings, and, consequently, on the necessity of recordings of actual situated activities for a detailed analysis of their relevant endogenous order.
Wichtig ist also, dass untersuchte Gesprächssituationen authentisch sind und auch normalerweise in denselben Kontexten auftreten. Dass dabei mit Aufnahmen gearbeitet werden soll, scheint eine logische Konsequenz zu sein. So besteht dann bei einer Aufnahme auch das Ziel darin, möglichst die reale Situation in ihrer Ganzheit zu bewahren und für Detailanalysen aufzuzeichnen. Erst bei der wiederholten Analyse der Daten können die relevanten Mikrophänomene der Gesprächsordnung im entsprechenden sozialen Kontext herausgearbeitet werden und es ist daher notwendig, die Daten für mehrfache Analysezugänge aufzunehmen.
Durch die Aufnahme der Daten entsteht jedoch das wohlbekannte observer’s paradox, das erstmals von Labov (1972: 113) besprochen wurde und von ihm folgendermassen beschrieben wird:
To obtain the data most important for linguistic theory, we have to observe how people speak when they are not being observed.
Er geht also davon aus, dass die Forschenden durch ihre blosse Anwesenheit Einfluss auf das Geschehen nehmen können und folglich muss die Natürlichkeit der Daten wiederum infrage gestellt werden.1 Durch ein entsprechendes Forschungsdesign kann der mögliche negative Einfluss ansatzweise eingegrenzt und kontrolliert werden. Mondada (2013: 34) betont, dass einerseits die technologischen Entwicklungen so fortgeschritten sind, dass kleine und unauffällige Geräte eingesetzt werden können. Andererseits könne man die Forschungssituation derart in die Analyse einbeziehen, dass Ausschnitte diskutiert werden, in denen sich Teilnehmende in irgendeiner Weise der Kamera oder dem Aufnahmegerät zuwenden. Dadurch wird das Beobachterparadoxon akzeptiert, indem diejenigen Momente, in denen die anwesenden Forschenden offensichtlich Einfluss auf das beobachtete Geschehen nehmen, selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Wie gross der Einfluss der Forschungssituation tatsächlich ist, lässt sich schwer abschätzen und auch ten Have (2007: 69) hält fest, dass das Beobachterparadoxon wohl immer einwirkt, dass aber das Ausmass durch das Verhalten der Forschenden und das Arrangement der Aufnahme klein gehalten werden kann.
Während also Konsens darüber besteht, dass Aufnahmen von natürlichen Daten verwendet werden, herrscht noch Uneinigkeit darüber, ob zusätzlich zu den Gesprächsdaten auch ethnografische Daten erhoben werden sollen. Es gibt dazu längere Debatten, die sich mit der Frage des nötigen Kontextes in der Gesprächsanalyse beschäftigen (vgl. ten Have 2007: 73; Mondada 2013: 37). Nach Vorgaben der klassischen Konversationsanalyse werden grundsätzlich keine zusätzlichen Daten zu den Aufnahmen erhoben und miteinbezogen, da es sich bei ethnografischen Daten um Kontextfaktoren handelt, die im Gespräch nicht zwingend relevant gesetzt werden und so auch nicht unbedingt die soziale Aktivität mitstrukturieren, die wir zu analysieren versuchen. Diese Forderung wird beispielsweise von Schegloff (1991: 52) vertreten, der mit dem Ausdruck procedural consequentiality betont, dass der Kontext nur insofern relevant ist, wenn er im Gespräch einen direkten Einfluss auf die Sequenz hat. Nur wenn die Gesprächsteilnehmenden in irgendeiner Weise eine Orientierung am Kontext zeigen, soll dieser spezifische Aspekt des Kontextes oder Settings in die Analyse einbezogen werden. Demnach ist es nicht zulässig und der Analyse von Gesprächen nicht dienlich, weitere Kontextinformationen zu erheben. Die Analysen sind einzig auf die Gesprächsdaten zu stützen und Kontext wird nur dann relevant, wenn die Gesprächsteilnehmenden dies im Gespräch anzeigen.
Wenn also in der Konversationsanalyse von Kontext gesprochen wird, ist in der Regel der unmittelbare Kontext im Gespräch gemeint und nicht etwa das Setting oder Informationen zu den Teilnehmenden. Zentral im Zusammenhang dieser Diskussion ist das Begriffspaar context-shaped und context-renewing und die damit verstandene doppelte Kontextleistung jeder Äusserung (vgl. z.B. Drew & Heritage 1992a: 18f.; Heritage 1984a: 242; Heritage & Clayman 2010: 21f.). Eine Äusserung wird in einem lokalen Kontext produziert und rezipiert und ist demnach direkt beeinflusst von den vorgängigen Handlungen. Gleichzeitig konstruiert jede neue Äusserung einen wiederum veränderten Kontext, welcher die Folgehandlungen beeinflussen kann. Der Kontext wird also durch die indexikalische Leistung sprachlicher Praktiken gebildet und laufend reflexiv von den Gesprächsteilnehmenden aktualisiert und verändert (vgl. Garfinkel & Sacks 1970 zur Indexikalität und Reflexivität; vgl. auch Auer 1999: 127ff.; Stukenbrock 2013: 221f.).2
Obschon dieser ausschliessliche Fokus auf die Gesprächsdaten bei Untersuchungen zur grundlegenden Organisation von Gesprächen seine Berechtigung hat, gibt es dennoch Forschungsinteressen, für die der Einbezug weiterer Daten wünschenswert ist. Insbesondere in institutionellen Kontexten wird vermehrt empfohlen, zusätzliche ethnografische Daten zu erheben, um dadurch ein besseres Verständnis der Gespräche in ihrer sozialen Umgebung zu gewährleisten (vgl. Kap. 2.1.3 zu ethnografischen Daten in institutioneller Kommunikation sowie Kap. 3.1 zum konkreten Vorgehen in dieser Studie).
2.1.2 Prinzipien der Gesprächsorganisation
Gespräche verlaufen nach bestimmten Ordnungsprinzipien, die eine wechselseitige Interaktion überhaupt erst ermöglichen und verhindern, dass mehrere Beteiligte unkoordiniert durcheinander sprechen. Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) definieren in ihrem zum Klassikertext avancierten Artikel A simplest systematics for the organization of turn-taking for conversation die grundlegende Organisation des sogenannten Sprecherwechsels (turn-taking). Es geht dabei zum einen um die Struktur von Redebeiträgen (turn-constructional component) und zum anderen um die Regelhaftigkeit der Verteilung von Rederechten und Redegelegenheiten (turn-allocation component).
Ein Redezug (turn) ist in Bezug auf die Länge nicht vordefiniert und kann ein einzelnes Wort, eine Phrase, einen Satz oder gar ein längeres konversationelles Projekt wie eine Erzählung umfassen (vgl. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 702; Stukenbrock 2013: 230). Redezüge können aus mehreren kleineren Turnkonstruktionseinheiten (turn constructional units, TCU) bestehen, welche jeweils von den Gesprächsbeteiligten als redeübergaberelevante Stellen (transition relevance place, TRP) interpretiert und für Sprecherwechsel genutzt werden können (vgl. Gülich & Mondada 2008: 39; Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 703). Durch die syntaktische, prosodische und nonverbale Realisierung zeigen Gesprächsbeteiligte an, wann sie einerseits einen Turn beginnen möchten und andererseits ihn als (vorläufig) beendet betrachten (vgl. Gülich & Mondada 2008: 40; Stukenbrock 2013: 237). Diese Anzeigeleistung bezeichnet man als Projektion (vgl. Auer 2005: 8). Es kommt dabei an übergaberelevanten Stellen immer wieder zu Überlappungen, die aber wiederum bezeugen, dass sich Gesprächsbeteiligte an Turnkonstruktionseinheiten orientieren und basierend auf ihrer ständigen Verarbeitung der laufenden Interaktion Erwartungen bezüglich der Fortsetzung bilden und den Fortgang antizipieren (vgl. Gülich & Mondada 2008: 40f.). Grundsätzlich gilt aber die Regel „one party talks at a time“ (Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 700), die auch im interkulturellen Vergleich von Stivers et al. (2009) getestet wurde und die sich in einer generellen Vermeidung von Überlappungen sowie zu langen Pausen zwischen Redebeiträgen manifestiert.
In Bezug auf die Verteilung von Rederechten formulieren Sacks, Schegloff und Jefferson (1974: 704) die folgenden Regeln: An redeübergaberelevanten Stellen kann eine aktuelle Sprecherin durch Fremdwahl einen nächsten Sprecher auswählen (current speaker selects next), welcher sodann das Recht und die Pflicht hat, das Rederecht zu übernehmen. Wählt die aktuelle Sprecherin keinen nächsten Sprecher aus, können Gesprächsbeteiligte durch Selbstwahl einen Sprecherwechsel herbeiführen, wobei in der Regel der bzw. die Schnellere (first starter) das Rederecht erlangt. Falls es zu keiner Selbstwahl kommt, kann die aktuelle Sprecherin das Rederecht behalten. Diese Regeln kommen bei jeder redeübergaberelevanten Stelle erneut zum Tragen.
Die Funktionalität der Gesprächsorganisation zeigt sich insbesondere bei Paarsequenzen (adjacency pairs) wie Frage-Antwort, Gruss-Gegengruss etc., welche dadurch charakterisiert sind, dass der erste Teil der Paarsequenz (first pair part) einen zweiten Teil (second pair part) erwartbar macht und so konditionell relevant setzt (vgl. Schegloff 1968: 1083; Schegloff & Sacks 1973: 296). Diese Erwartbarkeit von Folgebeiträgen kann auch als Zugzwang beschrieben werden:
Aus den konditionellen Relevanzen ergeben sich für die Beteiligten Zugzwänge, die im Verlauf des Gespräches eingesetzt, bedient, aber auch außer Kraft gesetzt werden können. (Hausendorf & Quasthoff 2005: 115)
Es bedeutet also nicht, dass ein Zugzwang notwendigerweise eingehalten werden muss, jedoch zeigt sich beispielsweise beim Ausbleiben einer Antwort, dass ein Nichterfüllen der konditionellen Relevanz erklärt oder anderweitig (z.B. durch Nachfragen) weiter bearbeitet werden muss (vgl. Gülich & Mondada 2008: 51f.; Hausendorf & Quasthoff 2005: 115). Solche Abweichungen vom System zeigen wiederum, dass eine Regelhaftigkeit zugrunde liegt und Gesprächsbeteiligte sich an konditionellen Relevanzen orientieren.
Ebenfalls im Zusammenhang mit Paarsequenzen wurde das Konzept der Präferenzstrukturen in der Interaktion herausgearbeitet: In der konversationsanalytischen Forschungstradition besagt die Präferiertheit, dass bei Paarsequenzen eine Reaktion rasch und direkt erfolgt und demnach unmarkiert ist. Hingegen zeigen sich bei der dispräferierten Form einer Antwort diverse Verzögerungselemente, Abschwächungen etc. (vgl. Gülich & Mondada 2008: 52f.; Pomerantz 1984; Pomerantz & Heritage 2013). Es handelt sich also nicht um psychologische Präferenzstrukturen, sondern darum, ob eine Reaktion rasch und knapp auf die Frage folgt, oder ob ein kommunikativer Mehraufwand betrieben wird (vgl. auch Kotthoff 2015a). Typischerweise werden Übereinstimmungen, Bestätigungen und beispielsweise die Annahme einer Einladung in präferierter Form realisiert, während Dissens, Widerlegungen und Ablehnungen in dispräferierter Form, d.h. nach Verzögerungen, mit Abschwächungen, zusätzlichen Erklärsequenzen o.ä. hervorgebracht werden (vgl. zusammenfassend Pomerantz & Heritage 2013).
Nun kommt es in Gesprächen auch immer wieder zu Störungen, die u.a. mit der Organisation des Sprecherwechsels zu tun haben. Beispielsweise kann in der Mehrparteieninteraktion die Adressierung bei getätigter Fremdwahl unklar sein, sodass vor der eigentlichen Antwort ausgehandelt werden muss, wer gemeint ist. Andere Störquellen sind z.B. Artikulationsschwierigkeiten, akustische und inhaltliche Verständnisprobleme o.ä. und die setzen ähnliche Korrekturmechanismen in Gang. Man spricht bei solchen korrigierenden Handlungen von Reparaturen (repair), die einerseits selbst- oder fremdinitiiert und andererseits in Form von Selbst- oder Fremdreparatur bearbeitet werden können (vgl. Gülich & Mondada 2008: 59ff.; Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 723ff.; Schegloff, Jefferson & Sacks 1977; Selting 1987).