Kitabı oku: «Erstrebtes und Erlebtes», sayfa 2
Ich wollte zu Hause die Neuigkeit erzählen, aber meine Eltern und Schwestern wussten schon alles und noch mehr dazu: dass die Regierung verboten habe, in Gruppen zusammenzustehen, und dass niemand weder Waffen noch Steine in den Taschen tragen dürfe.
Jedenfalls hatte die Bevölkerung das Verbot übertreten, denn es wurde Militär aufgeboten. Wir bekamen einen Soldaten ins Quartier und ich hatte eine mächtig grosse Meinung von unserm Vaterlandsverteidiger. Natürlich machte ich mich bei den andern Kindern mit ihm wichtig, aber auch deren Eltern hatten Einquartierung, und jedes von uns wollte den besten, den stärksten und den heldenhaftesten Soldaten haben. Es wird den anderen Kindern gegangen sein wie mir, sie werden ihren «Helden» nie gesehen haben. Morgens, wenn ich aufstand, war er schon fort, und abends, wenn er heimkam, lag ich längst im Bett. Aber in einem Punkt waren wir einig: Unsere mitleidvollen Kinderherzen liessen die Franzosen als gute, brave Menschen gelten, die nur durch die bösen deutschen Soldaten in einen so jammervollen Zustand gebracht worden waren, wie wir ihn bei ihrer Ankunft gesehen hatten.
Mit dem Militäraufgebot bekam das Rennwegtor eine neue Bedeutung. Es lag nur wenig unterhalb der Strafanstalt am Oetenbach, in der die beim Krawall Verhafteten untergebracht waren. Um die geplante Befreiung der Gefangenen zu verhindern, war das Rennwegtor und damit der Zugang zur Strafanstalt ständig bewacht. Kaum war das Militär abmarschiert, machten wir Kinder «Kriegeris». Immer waren die Buben die Soldaten und wir Mädchen in der Rennwegtorruine gefangen; wir mussten bewacht werden, damit keines in die Freiheit entrinnen konnte. Auch «Räuberis» spielten wir, Dornröschen und Rosa von Tannenburg. Dabei waren wir zu Tränen gerührt, wenn Rosa ihren Vater im Burgverlies so jammervoll anrief. So wurde uns die alte Torruine zum unvergesslich schönen Kinderparadies.
Seitdem wir in der schöneren Gegend wohnten, war ich wie umgewandelt, war fröhlicher und selbstbewusster geworden. Ich kam mir gar nicht mehr so arm vor, obwohl ich nicht besser gekleidet ging als vorher und wir nur eine kleine Hinterwohnung hatten. Aber die Sonne! Gewiss war es die Sonne, durch die ich so viel freudiger und sicherer geworden war. Ich hatte in unserer Gegend auch nette Gespielinnen gefunden. Sie gingen gerne mit mir, obwohl keine einzige von ihnen an freien Nachmittagen und nach der Schule Holz sammeln musste wie ich. Es wurden damals viele alte Häuser abgebrochen. Da gab es eine Menge kleiner Späne, die mit dem Schutt an einen Haufen geworfen wurden, und diese Schutthaufenspäne gehörten den armen Kindern.
Nach etwa zwei Jahren zogen wir in eine Seitengasse gegen den St. Peter zu und hatten auch dort Sonne, nicht nur in der Stube, sondern in allen Zimmern. Zu meiner grossen Freude brauchten wir beim Umzug für mein gesammeltes Holz einen besonderen Wagen. Wie glücklich war ich, als die Mutter zu mir sagte: «Wenn du noch einige Zeit recht fleissig bist, dann haben wir den Winter über für den Herd und den Ofen Holz genug!»
Am neuen Wohnort befreundete ich mich mit meiner Mitschülerin Anny Walser, die ganz in meiner Nähe wohnte. Anny war einziges Kind und hatte schöne Spielsachen. Ihre Eltern ermunterten mich, sie recht fleissig zu besuchen, was ich bei jeder Gelegenheit tat. Wir machten gemeinsam die Schulaufgaben, spielten mit ihren schönen Puppen, und abends machten Herr und Frau Walser oft Gesellschaftsspiele mit uns. Das waren schöne, glückliche Stunden für mich! Dafür hing ich aber auch mit abgöttischer Liebe an meiner Gespielin und hätte alles für sie getan.
Walsers besassen unterhalb des Lindenhofes einen Garten mit Hühnerhof, und oft ging ich mit Anny hin, um die Eier zu holen. Darunter waren manchmal grössere Eier mit brauner Schale und Anny erklärte mir, dass ihr Hahn diese lege. Als wir einst den Hühnerhof betraten, schoss der Güggel vom Nest herab, darin ein grosses braunes Ei lag, das noch warm war. Freudig rief Anny: «Ist unser Güggel nicht ein lieber Kerl? Jetzt hast du selbst gesehen, welch schöne Eier er legt.» Natürlich hatte ich es gesehen und stimmte mit ein in das Loblied. Beim Mittagessen erzählte ich von dem Wunderhahn. Meine Eltern und Schwestern lachten hell heraus und sagten: «Bist du ein Dummes! Seit wann legen denn die Güggel Eier?» «Aber wenn ich es doch selbst gesehen und das warme Ei gefühlt habe», sagte ich ganz aufgeregt. Sie aber lachten noch mehr, und ich weinte vor Verdruss, dass sie mir nicht glauben wollten.
Eines Tages klagte mir Anny, dass ihr Nähschächtelchen in die Dachrinne gefallen sei und bat mich, es zu holen. Ich war sogleich bereit, und wir stiegen auf die kleine Zinne, unter der ein steiles Dach war, wie sie die hohen, alten Häuser haben, in dessen Kännel das Schächtelchen lag. Ängstlich schaute ich hinunter und meinte: «Du Anna, da hinunter – glaube – kann ich nicht, es ist zu steil!» «Doch, doch», fiel sie mir ins Wort, «das geht schon. Warte nur einen Augenblick, ich hole in der Werkstatt einen Besen; an seinem Stiel kannst du dich halten.» Und fort war sie, bevor ich hätte erwidern können. Dann brachte sie einen Besen mit langem Stiel und befahl: «So, jetzt steige über das Geländer, halte dich fest am Stiel und ich halte den Besen!» Willenlos folgte ich den Anordnungen – ängstlich rutschte ich das steile Dach hinunter. Der Stiel reichte kaum, ich erwischte aber das Schächtelchen doch und kam glücklich wieder oben an. Als ich in Sicherheit war, wurde mir schwindlig und ich zitterte am ganzen Körper. Da erst kam mir zum Bewusstsein, was ich leichtsinnig gewagt hatte und wie unglücklich alles hätte ausfallen können. Ich durfte nie mehr, auch in spätern Jahren nicht, an ein steiles Dach hinaufsehen, ohne zu schaudern, konnte auch nie mehr aus einem Fenster sehen oder an einem steilen Abhang vorbeigehen, ohne dass mir die Knie zitterten. Anny dagegen fand nichts Besonderes daran. Als sie ihren Eltern das Schächtelchen zeigte und erzählte, dass ich es heraufgeholt habe, wurden sie sehr böse und meinten: «Ihr müsst einen ganz besondern Schutzengel gehabt haben, sonst läge jetzt Vreneli mit zerschmetterten Gliedern vor unserm Hause. Dann noch zu wissen, dass unser unvernünftiges Kind seine Freundin in den Tod getrieben hätte! Nicht auszudenken! Schrecklich!» Auch mir machten sie Vorwürfe, dass ich ihrem eigensinnigen Kind in allem folge. Ein Arbeiter hätte das Ding leicht mit einem Haken heraufholen können. «Aber wenn er es hinuntergestossen hätte», sagte Anny weinerlich. Da polterte Herr Walser zornig heraus: «So, um das Lumpenzeug jammerst du, aber für deine Freundin, die wie durch ein Wunder dem Tode entgangen ist, hast du kein Wort! Schäme dich!»
Einige Wochen später musste ich für meine Mutter etwas besorgen und konnte nicht, wie gewöhnlich, mit Anny aus der Schule heim. Auf der Gemüsebrücke holte ich sie ein. Mit noch zwei Mitschülerinnen stand sie dort, eine Tüte Kirschen in der Hand. Jeder steckte sie der Reihe nach eine Frucht in den Mund, ich dagegen wurde regelmässig übergangen. Es kränkte mich tief, dass Anny mich, ihre Freundin, vor anderen Schülerinnen abfallen liess. Traurig schlich ich hinweg. In der Nähe unserer Wohnung fand ich auf der Strasse zwei schöne schwarze Kirschen an einem Stiel. Ich nahm sie auf, legte meine Schulsachen hinter die Kellertüre und kehrte zurück. Vor der Gemüsebrücke guckte ich um die Ecke und richtig, sie standen noch dort. Schnell rieb ich mit der einen Kirsche den Mund schwarz, hielt die andere lässig in der Hand und traf zu ihnen hin. Erstaunt fragte mich Anny: «Hast du auch Kirschen gehabt?» «Ja, ja», erwiderte ich, «die Mutter hat einen ganzen Korb voll daheim.» Annys enttäuschtes Gesicht entschädigte mich für die Zurücksetzung, und voller Genugtuung ging ich weiter.
Unsere Freundschaft hatte durch dieses Vorkommnis einen tiefen Riss erhalten. Ich ging nicht mehr zu Anny, trotzdem Frau Walser ihr Dienstmädchen mehrmals zur Mutter schickte mit der Bitte, ich möchte wieder einmal zu einem Spiel kommen. Meine Mutter fragte nicht, warum ich wegbleibe; sie mischte sich nicht in Kindersachen. Erst als Frau Walser selbst erschien, im Glauben, ich dürfe wegen der Dachsteigerei nicht mehr kommen, erfuhr die Mutter alles. Sie war nicht wenig erschrocken, machte mir bittere Vorwürfe wegen meiner Unbesonnenheit und bat mich dringend, verständiger zu sein. Dann wollte sie wissen, warum ich nicht mehr zu Anny gehe, trotz der Einladungen ihrer Eltern. Da erzählte ich, wie Anny mich beim Verteilen der Kirschen gekränkt habe, verschwieg aber wohlweislich meine Rache mit den gefundenen Kirschen. «Siehst du, Mutter», sagte ich, «jetzt weiss ich auch, dass Anny mich nur einlud und mir schön tat, damit ich ihr die Aufgaben machte. Seit ich nicht mehr hingehe, hat sie ihre Heimaufgaben entweder gar nicht oder dann falsch. Und antworten kann Anny auch selten, seit ich ihr’s nicht immer einblase. Es geschieht ihr ganz recht, sie soll’s jetzt nur haben!» Da drohte die Mutter mit dem Finger und sagte: «Kind, Kind, so empfindlich darf man nicht sein! Du wirst noch manche Zurücksetzung und Kränkung erfahren im Leben und dich wundreiben, wenn du nicht lernst, die Empfindlichkeit zu bekämpfen und zu unterdrücken.» Weitere Worte wegen der Besuche bei Anny verlor sie nicht. Anny und ich versöhnten uns mit der Zeit wieder, aber der Riss wollte nicht mehr recht heilen. Lag es an Anny oder mir? Ich weiss es nicht mehr.
An einem nasskalten Herbsttag schaufelten mein Schwesterchen und ich den ganzen Nachmittag an der Pelikanstrasse in einem Schutthaufen herum und klaubten das Holz heraus. Es waren nur kleine Späne, aber sie machten den Sack so schwer, dass ich ihn nicht zu tragen vermochte. Ich rannte nach Hause und holte die Mutter, während mein Schwesterchen den Sack hütete. Auch die Mutter hatte an der Last schwer zu schleppen. An der Bahnhofstrasse kam ein Maurer auf uns zu und polterte: «Ich bin Polier auf dem Platze, wo ihr das Holz weggenommen habt. Sofort tragt ihr den Sack zurück oder ich rufe die Polizei!» Meine Mutter erwiderte ihm: «Der Schutt samt den Spänen wird doch nur als Füllmaterial fortgeführt, deshalb ist es auf allen Bauplätzen den armen Kindern gestattet, vorher das Kleinholz herauszulesen. Den ganzen Nachmittag haben meine Kinder mit steifgefrorenen Fingern Spänchen um Spänchen herausgeklaubt. Sehen Sie nur nach, es ist kein einziges grösseres Stück dabei! Es wäre ein Unrecht, wenn Sie uns dieses Abfallholz wegnehmen wollten!»
«Recht oder Unrecht», brauste der Polier auf, «das geht mich gar nichts an! Tragt ihr den Sack nicht sofort zurück, hole ich die Polizei, und ihr werdet wegen Diebstahl eingesperrt!» Mit herzbrechendem Weinen begleiteten wir die Mutter zum Bauplatz zurück, wo sie stillschweigend den Sack dem groben Polier vor die Füsse schüttete. Wir Kinder weinten nicht wegen der mühsamen, vergeblichen Arbeit; aber dass unsere gute Mutter ohne Schuld von dem grässlichen Menschen so böse angeschnauzt worden war, drückte uns fast das Herz ab.
Auf dem Heimweg meinte die Mutter tröstend: «Seht, liebe Kinder, es ist immer besser Unrecht leiden als Unrecht tun!» So ruhig nahm ich das Unrecht nicht hin, musste ich doch zum erstenmal in meinem Leben erfahren, dass Gewalt vor Recht geht. Durch dieses Ereignis wurde mein Gerechtigkeitsgefühl ausgeprägter, und wo ich fortan Unrecht sah, setzte ich mich mit heiligem Eifer für die Betroffenen ein, unbekümmert darum, ob es mir zum Schaden gereichte oder nicht. Als die Mutter sah, wie schwer das erlittene Unrecht mich plagte, suchte sie mich zu trösten. «Du hast ja so viel Holz zusammengetragen, Vreneli, dass es bis zum Frühjahr reicht. Denke, wie schön das ist, dass ich den ganzen Winter kein Holz kaufen muss und wir doch eine warme Stube haben. Jetzt darfst du ausruhen und brauchst vor dem Frühjahr nicht mehr ins Holz. Freut dich das nicht?» Natürlich freute es mich und ich lächelte mit meinem verweinten Gesicht der Mutter glückselig zu. Gleich tauchte in mir eine grosse Hoffnung auf: Bekomme ich nun wohl Staubs Bilderbuch mit den schönen Gedichten, das ich mir schon oft zu Weihnachten gewünscht hatte? Das fragte ich mich nur heimlich, laut hätte ich es nicht gewagt. Trotz unserer Armut freuten wir uns auf Weihnachten und aufs «Christkindli» wie die andern Kinder, bei denen es reichlich Einkehr hielt. An einen Weihnachtsbaum bei uns daheim erinnere ich mich nicht; wir feierten nie Weihnachten. Dagegen fanden am Neujahrsmorgen jedes Kind und auch die Eltern ihre Geschenke auf einem Teller. Immer waren es praktische Sachen: Taschentücher, wollene Strümpfe oder ein wollenes Halstuch. An jedem Neujahrsmorgen lag zur Feier des Tages ein grosser Butterwecken auf dem Tisch. Schon frühe waren meine jüngere Schwester und ich wach; wir tuschelten hin und riefen her, was wohl unsere Teller enthalten möchten. Wir wussten genau, dass es nur etwas ganz Einfaches sein konnte, und doch war unsere Vorfreude gross.
Ein grosser Wunsch, unbewusst der grösste, fand seine Erfüllung in einem schwarzen Regenschirm, der auf meinem Teller lag. Den Schirm in den Arm nehmen und ganz närrisch vor Freude in der Stube herumtanzen war eins. Meine Eltern und Schwestern ärgerten sich über das «blöde Getue» und zankten mich zum Eintritt ins neue Jahr schon gehörig aus. Meine unsinnige Freude an dem baumwollenen Schirm konnten sie natürlich nicht verstehen, weil sie von den vielen Kränkungen, denen ich durch den alten Schirm ausgesetzt gewesen, nicht wussten. Wir hatten noch seit Urgrossvaters Zeiten zwei mächtige Familiendächer. Der eine Schirm war himmelblau mit braunen Streifen, der andere hellbraun mit roten Streifen. In ganz Zürich waren keine Kinder mit solchen Scheusalen, wie ich sie heimlich nannte. Ich wäre viel lieber unter dem Regen durchgerannt, aber meine Mutter kannte in solchen Sachen keinen Spass; gegen einen erteilten Auftrag oder Befehl war bei ihr nicht aufzukommen. Ich musste den Schirm bei jedem Regenwetter mitnehmen und hörte oft wohlmeinende Erwachsene sagen: «Wo will auch der Schirm mit dem Maiteli hin?» Die Kinder dagegen spotteten darüber und riefen: «Die hat einen Einsiedlerschirm!» Zu jener Zeit mussten die grossen Pilgerzüge, die zur Wallfahrt nach Einsiedeln gingen, vom Bahnhof bis zur Schiffstation die Stadt durchwandern und manche der Pilger trugen solch farbige Ungetüme. Ich konnte es fast nicht erwarten, meinen neuen Schirm spazieren zu führen, und glaubte, alle Leute würden ihn anstaunen. Leider war just das prächtigste Winterwetter, das mir gar nicht den Gefallen tat, sich zu ändern. Jeden Abend betete ich um Regen, jeder Morgen war strahlend schön, und der Schnee knirschte unter den Füssen. Länger als acht Tage hielt ich es nicht aus. Ich nahm den Schirm heimlich aus dem Kasten, ging auf den Platz vor der St. Peterskirche und tauchte ihn in den Brunnentrog. Stolz spazierte ich unter dem neuen Dach, an dem das Wasser in Bächlein herunterlief. Als ich heimgehen wollte – o Schrecken! – brachte ich den Schirm nicht mehr zu; der nasse Schirm war gefroren und alle acht Teile spreizten sich steif auseinander. Trotz aller Mühe konnte ich sie nicht zusammenfalten. «Wie bringe ich den verhexten Schirm heim, ohne dass es die Mutter sieht?», dachte ich in meiner Angst. Es liess sich schwer etwas verbergen in unsrer kleinen Wohnung, wo man erst in die Küche eintreten musste, um in die Stube zu gelangen. Als die Mutter mich mit dem unseligen Schirm kommen sah, gab sie mir in ihrem Ärger einen gehörigen Klaps und sagte: «Man muss sich schämen, so ein dummes, närrisches Mädchen zu haben; die Leute glauben ja, du seiest überschnappt.» Die Strafpredigt liess ich ruhig über mich ergehen, sie rührte mich wenig; aber als sie dann hinzufügte, zur Strafe werde der neue Schirm fürs ganze Jahr eingeschlossen, da war es mit meiner Ruhe vorbei. Ich weinte laut und gestand: «Aber Mutter, ich habe mich doch so recht von Herzen gefreut!» Das hat sie nachher wohl auch gedacht, denn das alte Familiendach blieb für alle Zeiten verschollen.
Meine kleine Schwester flüsterte mir heimlich zu: «Weine nur nicht Vreneli, weisst, es ist mir mit meinem Schirm auch nicht besser ergangen; aber die Mutter weiss es nicht, und du darfst es ihr nicht sagen, gelt? Ich habe meinen Schirm heimlich in die Schule genommen und in den Schulbrunnen getaucht. So triefend brachte ich ihn ins Schulzimmer, dass der Boden nass wurde, und ich bekam zwei Tatzen und musste aufs Schandbänkli sitzen. Gemerkt hatte es die Mutter nicht, als ich ihn heimbrachte, denn ich stellte ihn erst in den Keller, dort wird er schon trocken werden.» Daran hatte ich, die um vier Jahre ältere, nicht gedacht. Im Frühjahr fragte eine Bekannte bei meiner Mutter an, ob ich neben der Schule zu ihr kommen könne, um ihren Bubi zu hüten. Sie müsse für einige Zeit ihrem Manne im Geschäfte helfen und möge den lebhaften Kleinen ihrer Mutter nicht gerne allein überlassen. So wurde ich Kindermädchen. Es gefiel mir, denn die Leute waren gut zu mir. An einem Nachmittag ging die Grossmutter aus, um eine Besorgung zu machen, und ich sass, an einem Strumpfe strickend, auf der Zinne, die sich vor den Zimmern des zweiten Stockwerkes befand. Da wurde geläutet und immer wieder geläutet. Ich ging nachzusehen. Es war der Briefträger, der glaubte, die Grossmutter höre ihn nicht. Als ich wieder hinaufkam, sah ich den Kleinen nirgends, hörte aber vom Hofe herauf plötzlich laute, jammernde Stimmen, und als ich über das Geländer hinunterblickte, hielt jemand den Kleinen in den Armen; ich glaubte Bubi tot. Die Wohnung offen lassend, rannte ich ausser mir vor Schrecken heim und es dauerte einige Zeit, bis ich erzählen konnte, was geschehen sei. Als die Mutter es endlich herausgebracht hatte, eilte sie schweren Herzens in das Unglückshaus; sie fürchtete, eine Leiche zu finden. Bubi aber sass heil und vergnügt auf Grossmutters Schoss, ein Stück Kuchen in der Hand und einige Kratzwunden im Gesicht. Meine Mutter traute ihren Augen nicht, als sie das totgeglaubte Kind wohlbehalten sah und meinte, meine Phantasie hätte mir einen Streich gespielt. Doch die Grossmutter erzählte ihr, noch schreckensbleich, den Hergang. «Wie ich heimkam, fand ich das ganze Haus in Aufregung. Verschiedene Nachbarinnen standen beisammen im Hof, hielten mir unsern Kleinen entgegen und berichteten, wie sie plötzlich einen Schrei gehört, nachgesehen und unser Kind mit dem Röcklein an dem grossen Holderstrauch im Hofe hängend gefunden hätten. Dieses Kindlein müsse einen besonderen Schutzengel haben. – Als ich in die Wohnung hinaufkam, standen alle Türen offen, aber kein Vreneli war da; die Postsachen lagen auf dem Tisch und das Garn der «Lismete» (Strickerei) hing über das Geländer hinunter. Da konnte ich mir freilich schon denken, wie das Unglück sich zugetragen hatte. Sehen Sie, Frau Knecht», so schloss die Grossmutter ihren Bericht, «noch zittern meine Beine, dass ich kaum stehen kann.»
In tiefer Angst harrte ich auf die Heimkehr der Mutter. Endlich trat sie über die Schwelle. Ein Blick in ihr Gesicht – und erlöst atmete ich auf; es konnte so schlimm nicht stehen. Die Mutter erzählte mir nun, wie alles sich so glücklich gefügt habe und sagte: «Kind, Kind, der liebe Gott hat es gut mit dir gemeint!» Und beide weinten wir vor Freude. Mit meiner Kindermädchenlaufbahn aber war es endgültig vorbei.
Der Sommer war in voller Pracht eingezogen. Wie jedes Jahr war eines Morgens auf der Wandtafel der bekannte Spruch zu lesen:
Der Himmel ist blau, das Wetter ist schön,
Herr Lehrer, wir möchten spazieren geh’n!
Wir wollen lieber draussen schwitzen,
Als auf der harten Schulbank sitzen.
Zum erstenmal fand unsre Bitte Gehör, und der Jubel war unbeschreiblich. Schon in der folgenden Woche sollte unsre erste Schulreise auf den Zugerberg stattfinden. Freude und Aufregung waren so gross, dass keine Aufmerksamkeit aufkam und der Lehrer uns nach Hause schickte. Ich eilte heim, stürmte die Treppe hinauf und rief zur Türe hinein: «Mutter, wir machen eine grosse Reise, und wir fahren Eisenbahn, das erstemal Eisenbahn! Und wir müssen etwas zum Essen und zum Trinken mitnehmen, und wir müssen einen Franken mitbringen!» Das alles sprudelte ich in einem Atemzuge hervor. Die Mutter liess den Wortschwall über sich ergehen und meinte lächelnd: «Nur langsam, Kind, du wirst schon bekommen, was du brauchst.» Bei jedem Essen erzählte ich nur noch von der Reise, für mich war sie eine Weltreise. Am Abend vorher liess mich die freudige Erwartung kaum einschlafen und weckte mich früh am Morgen. Als ich aufstand, drehte sich alles im Kreise und ich musste brechen. Die Mutter tröstete liebreich: «Bleib noch ein wenig liegen; es wird schon besser.» Aber es wurde nicht besser; bei jedem Versuch aufzustehen musste ich Galle brechen – und aus der Reise wurde nichts. Der Lehrer gab mir das einbezahlte Reisegeld, achtzig Rappen, zurück; dabei überkam mich ein grosser Schreck. Meine Mutter hatte mir einen Franken mitgegeben. An einer Konditorei, deren süsse Auslagen meine Sehnsucht täglich weckten, kam ich mit meinem Geld nicht vorbei. Der Lehrer hatte gesagt, wer keinen Franken habe, könne auch weniger bringen; also konnte ich die Reise mitmachen und erst noch für zwanzig Rappen Süssigkeiten kaufen. Das gab es daheim nie, nicht einmal an Weihnachten. Nur wenn ich unwohl war, gab es gezuckerten Kamillentee, den ich fast nicht schlucken konnte. Nun hatte mich der liebe Gott fürs Naschen gestraft, indem ich nicht mitreisen konnte. Als ich der Mutter die achtzig Rappen brachte, fragte sie erstaunt: «Hat dir der Lehrer nicht mehr gegeben?» Ich verneinte es, und sie glaubte mir ohne weiteres. Ihr Vertrauen in meine Redlichkeit beschämte mich tief und ich gelobte mir, die Mutter nie mehr zu hintergehen.
Die Kinder unserer Nachbarschaft durften Sonntags mit ihren Eltern spazierengehen. Bei uns war es dann immer so still und einsam, dass meine Schwester und ich gar nicht wussten, was anfangen, denn Spaziergänge waren bei uns eine Seltenheit. Da fanden wir den Weg in den St. Petersturm. Wie und durch wen, ist mir nicht mehr erinnerlich. Ich weiss nur noch, dass es schöne Stunden waren, hoch über der Stadt beim Turmwart; weiss, dass er Freude hatte, wenn wir zwei kleinen Plaudertaschen in seine Einsiedelei kamen. Er erklärte uns das Feuerhorn, das er bei jedem Brande blasen musste, und erzählte uns manche schöne Geschichte aus dem alten Zürich. Wir durften dann die Häuser und Gegenden, in denen sich diese abgespielt hatten, durch das Fernrohr, das uns der Turmwart vorher richtete, anschauen. Wie ein Wunder erschien es uns, wenn wir die Leute in Oerlikon, auf dem Uetli- und Zürichberge oder gar die Schiffe voll Menschen auf dem See sehen konnten, als ob sie gerade vor uns ständen. Einige Male durfte ich sogar eine kleine Glocke läuten, als sie bereits im Schwunge war.
So grosse Freude uns die Besuche im St. Petersturm machten, so wenig Gefallen fand die Mutter daran. Sie befürchtete immer, es könnte uns etwas zustossen. Wohl begriff sie, dass wir lebhaften Kinder an schönen Sonntagnachmittagen, an denen in unserer Umgebung eine fast unheimliche Stille herrschte, nichts anzufangen wussten, und sie brachte uns in die Sonntagsschule zu St. Anna. Dort wurden wir einer sehr lieben Lehrerin, Fräulein Usteri, zugeteilt, und ich freute mich während der ganzen Woche auf die Sonntagsschule. Oft kamen Gäste, darunter ein Herr von Rechberg, ein grosser, schöner und vornehm aussehender Herr mit langem Bart und freundlichen Augen. Immer wieder musste ich den Herrn ansehen, und sein brauner Bart verwandelte sich vor meinen Augen in einen schneeweissen und ich dachte bei mir: «So, grad so muss der liebe Gott aussehen!»
Es ging gegen den Winter, und die Lehrerin erzählte von den vielen armen Menschen, die krank oder in bitterer Not seien und eine traurige Weihnachten hätten, wenn wir nicht alle versuchten, ihnen zu helfen. Sie erzählte weiter: «Denkt an die vielen armen Heidenkinder, die auf ihren Loskauf warten und den Weg zum Heiland finden möchten. Dazu brauchen wir viele, viele Briefmarken und ihr seid ja tapfere Sammlerinnen! Sammelt fleissig weiter und bringt sie in die Sonntagsschule. Ihr werdet Freude haben und glücklich sein, da ihr mithelfen könnt an dem grossen schönen Werk.»
Unserm Vater unterstand in der Papierfabrik auch eine Abteilung, in der alte Papiere sortiert wurden; die durchstöberten meine Schwester und ich gründlich. Die Marken, die wir hier fanden, waren bei den Lehrerinnen besonders beliebt und sie baten uns eindringlich, recht viele zu bringen, damit noch mehr Heidenkinder losgekauft werden könnten. Mit Feuereifer suchten wir unter den alten Briefen nach den gewünschten Marken und waren glücklich, immer wieder eine schöne Menge abgeben zu können. Wie ich später erfuhr, waren es in der Tat wertvolle Marken, neben andern seltenen Arten waren die alten Zürcher am meisten vertreten. Wir kannten ihren Wert nicht, wohl aber kannte ihn die Fabrikdirektion. Möglich, dass sie von unsern Lieferungen hörte, möglich auch, dass ihr die Verwertung durch Angestellte bekannt wurde. Sie beauftragte deshalb meinen Vater, das Sortieren der Briefschaften genau zu überwachen und strenge darauf zu halten, dass alle Marken ihm abgegeben würden. Er seinerseits habe sie der Direktion abzuliefern.
An dieses Verbot dachte ich bei der neuen Aufforderung zur Markensammlung. Woher sollte ich Marken bekommen, da der Vater mir und meiner Schwester verboten hatte, den Sortiersaal zu betreten? In tiefen Gedanken und bemüht, einen andern Weg zu finden, kaute ich an den Fingernägeln. Das sah Herr von Rechberg. Er kam auf mich zu und sagte freundlich: «Höre, Maiteli, du kaust an den Fingernägeln und das ist ungesund. Du könntest krank werden, bete deshalb jeden Abend zum lieben Heiland, dass er dir dieses Übel abgewöhne.» Er streckte mir die Hand hin und sagte herzlich: «Gelt, du versprichst mir das?» Ich schlug mit einem «Ja» ein. Die anderen Kinder beneideten mich, dass der freundliche Herr so liebevoll zu mir sprach; sie wollten wissen, was er alles gesagt habe. Ich erzählte nichts, denn ich schämte mich sehr, dass ich hatte gemahnt werden müssen.
Abends im Bett überdachte ich das in der Sonntagsschule Erlebte noch einmal und wollte beten. Ich konnte nicht! Stets musste ich an den Heiland denken, der jetzt im Winter und besonders auf Weihnachten gar so viel zu tun hatte, der so vielen Armen und Kranken und zugleich allen Heidenkindern helfen sollte. Da durfte ich ihn nicht auch noch belästigen, und das wegen einer Unart, die ich mir selbst abgewöhnen konnte. Dafür aber betete ich inniglich, dass der liebe Heiland allen Kranken und Armen helfe und versprach ihm, mir alle Mühe zu geben, nicht mehr an den Fingern zu kauen. –
Bald nach Neujahr 1874 zeigte sich beim Vater ein Augenleiden. Er begab sich in Behandlung eines tüchtigen Augenarztes, sah aber trotzdem immer weniger. Im Herbst darauf zogen wir vor die Stadt, um billiger zu wohnen, denn wir mussten gewärtigen, dass der Vater noch gänzlich erblinde. Das Leiden wurde zusehends schlimmer, in seiner Verzweiflung ging mein Vater nicht mehr zum Arzt, sondern brauchte Mittel von verschiedenen Quacksalbern, auch sie hatten keinen Erfolg; die gefürchtete Erblindung trat ein. Der Vater konnte nicht mehr zur Arbeit und es bestand keine Aussicht, dass es wieder besser werde. Das war ein harter Schlag.
Meine ältern Schwestern Albertine und Berta hatten sich inzwischen beide verlobt; ich besuchte die sechste, meine jüngere Schwester Luise erst die zweite Klasse.