Kitabı oku: «Erstrebtes und Erlebtes», sayfa 4

Yazı tipi:

Krawattenmacherin

Nun lernte ich unter Anleitung meiner Schwester das Krawattenmachen. Meine Eignung und meine leichte Hand ermöglichten es mir schon in kurzer Zeit, Maschen und Schleifen gefällig anzufertigen. Dagegen war das Stillesitzen, Tag für Tag elf Stunden, und darauf loszusticheln eine Qual für ein lebhaftes Kind, wie ich eines war. Manch tiefer Seufzer entfloh meinem Innern, und langsam ging in der ersten Zeit die Arbeit vor sich. Wenn mich der Rücken schmerzte, ich mich streckte und rankte, auf dem Stuhle hin und her rutschte, stupfte mich meine Schwester und meinte: «Das wird schon vergehen. Wehre dich, sonst verdienst du ja nichts!» Die Krawatten wurden vom Stück bezahlt.

An den früheren Stellen war ich in Abteilungen, in denen nur Kinder beschäftigt waren, und nun sass ich zum ersten Male in einem Arbeitsaal unter lauter Erwachsenen. Da hörte ich täglich Liebesgeschichten erzählen und vieles andere, das nicht für Kinderohren bestimmt war. Das meiste verstand ich nicht, manches blieb aber doch haften, wofür ich die Erklärung erst nach Jahren fand. Meine Schwester mahnte und bat öfters um Rücksicht mit einem bezeichnenden Blick auf mich. Kurze Zeit half es, war aber bald wieder vergessen. Wurde es ihr zu bunt, rief sie ärgerlich und laut: «D’Stube ischt nüd g’wüscht!»

Nach langjährigem Brautstand verheirateten sich meine beiden ältern Schwestern und arbeiteten fortan zu Hause statt im Geschäft. Nach der Hochzeit von Schwester Berta durften wir Kinder sie mit Schwester Albertine in einer Droschke zur Bahn begleiten und nachher noch eine kleine Rundfahrt machen. Unsere Rückfahrt das Limmatquai hinunter traf auf die Zeit, da die Massen zur Arbeit strömten. Ich sah Schulkameradinnen und andere Bekannte, die ich alle anrief und ihnen zuwinkte trotz des Verbotes meiner Schwester Albertine. Als wir von der Droschkenfahrt heimkamen, hatte sie einen hochroten Kopf vor Ärger über mein unschickliches Benehmen, und ich – ich glühte vor lauter Freude und Stolz über die Droschkenfahrt.

Der Lohn meiner Schwestern fehlte daheim sehr, was sie erübrigen konnten, brachten sie der Mutter. Es mag ihnen manchmal schwer geworden sein, denn es gab noch viel Nötiges für den eigenen jungen Haushalt anzuschaffen. Nun sollte ich etwas mehr verdienen, und ich fragte die Zuschneiderin um Heimarbeit für den Abend, die sonst nur Erwachsene bekamen. Mit Rücksicht auf unsere schwere Lage wurde eine Ausnahme gemacht, und nun arbeitete ich täglich bis Mitternacht. Das half nach, es war aber auch bitter nötig.

Eines Tages führte mir die Zuschneiderin ein Mädchen zu, welches das Krawattenmachen lernen sollte. Julianne mochte vierzehn Jahre alt sein, trug ein hübsches grünes Jackettkleid, und ein Tirolerhütchen sass keck auf ihrem Strubelkopf. Sie hatte blasse Wangen und grosse braune Augen. Ich fand sie wunderschön und war stolz, ihre Lehrmeisterin zu sein. Dass das Lehren Zeitverlust bedeutete, bedachte ich nicht. Mit wichtiger Miene sagte ich: «Du sollst das Krawattenmachen bei mir gut lernen, ich werde mir Mühe geben, dir alles recht zu zeigen.» Da lachte Julianne hell auf, im reinsten Triller, und meinte: «Gib dir keine Mühe, ich werde es doch nicht lernen; bei mir ist Hopfen und Malz verloren. Meine Mutter ist eine feine Damenschneiderin; ich sollte bei ihr lernen, stellte mich aber so dumm, dass ihr die Geduld ausging. Nun soll ich das Krawattenmachen erlernen. Aber ich kann nicht, ich habe einfach keine Lust zu der langweiligen Näherei.» Ich war sprachlos vor Überraschung. War es möglich, dass ein Kind einfach sagen durfte: «Ich mag und will nicht lernen.» Und dazu noch die Damenschneiderei? Herrgott, wie gern hätte ich diesen Beruf erlernt! Schon als Schulkind verfertigte ich andern Mädchen für ihre Puppen – eine eigene besass ich nie – Kleidchen und Hüte, die allgemein bewundert wurden. Öfters sagten Erwachsene zu mir: «Kind, du musst Schneiderin werden, du hast besondere Begabung dazu!» Daran war nicht zu denken: zwei Jahre Lehrzeit! Für mich gab es nur eines – Verdienen!

Ein einziges Mal wagte ich daheim zu sagen, dass ich gerne Schneiderin oder noch lieber Modistin würde. Da kam ich schön an! Meine ältern Schwestern erwiderten gleich: «Das fehlte gerade noch, so ein eitler Fratz und Modenarr wie du bist. Du trägst den Kopf sowieso immer zu hoch.» Warum ich ein eitler Fratz und Modenarr sein sollte, wollte mir nicht in den «hohen» Kopf, denn nichts, auch gar nichts hatte ich, um darauf eitel zu sein. Meine Schwestern waren gewiss beide gut und aufopfernd, glaubten aber, arme Mädchen könnten nicht bescheiden und anspruchslos genug sein. Diese Tugenden fehlten mir in ihren Augen vollständig. Selbst in dürftigen Verhältnissen aufgewachsen, meinten sie, jeder noch so schüchterne Versuch nach etwas Besserem müsse unterdrückt werden.

Julianne hatte recht – es war vergebliches Bemühen, ihr das Krawattenmachen beizubringen; sie war nach Wochen nicht weiter als am Anfang. Ich konnte mir noch so viel Mühe geben, sie für die Arbeit zu begeistern, sie lachte mich nur aus.

Einmal kam Julianne mittags eine Stunde später mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen ins Geschäft, erzählte lebhaft von einer wunderschönen Kutschenfahrt mit einem Bekannten und zeigte mir ein Zwanzigfranken-Goldstück, das er ihr geschenkt hatte. Diese Mitteilung elektrisierte mich, ich bekam fast ebenso glühende Wangen bei der blossen Mitteilung wie Julianne vom wirklichen Erleben. Kutschenfahren und dazu noch ein Goldstück! Meine Phantasie sah ein Märchen Wirklichkeit werden, und ich sah schon den Prinzen, der das arme Mädchen als Gemahlin heimführte.

«Glaubst du nicht, dass dein Bekannter mich auch einmal in der Kutsche mitnehmen würde?», fragte ich zaghaft.

«Ja, ja, gewiss, warum nicht?»

Täglich fragte ich Julianne, ob sie den Herrn noch nicht gesehen und gefragt habe und erhielt als Bescheid immer das gleiche Nein. Nach etwa zwei Wochen kam sie wieder verspätet und wieder mit glänzenden Augen und glühenden Wangen. Sogleich fragte ich: «Bist du wieder Kutsche gefahren? Nimmt mich der Herr mit?» Ärgerlich wehrte sie ab: «Nein, nein, ich habe ihn nie mehr gesehen.» Ich fühlte, dass Julianne nicht die Wahrheit sprach, und – von diesem Tag an blieb sie vom Geschäft weg. Für mich war das eine grosse Enttäuschung. Erst später erkannte ich, welch glückliche Fügung mich vor schwerer Gefahr bewahrt hatte.

Seit einiger Zeit war in unserm Atelier eine junge Witwe, Frau Schulte, tätig. Sie war eine vorzügliche Erzählerin und verstand in einer Art und Weise zu schildern, dass die Ereignisse in meinen Gedanken geheimnisvoll anwuchsen und mir unvergesslich blieben.

Zum ersten Male hörte ich einen Roman. In Italien war ein junges Paar, Emilio und Ninetta, das sich von Kindheit an innig geliebt hatte, durch einen falschen Freund getrennt worden. Während zwölf dumpfe Schläge vom Dome Mitternacht verkündeten, stand Emilio mit dem Dolch in der Hand hinter einem Torbogen, um an dem Verführer blutige Rache zu nehmen …

Mir verging fast der Atem vor Aufregung über das Gehörte, auch die andern Arbeiterinnen waren ganz benommen und atmeten tief auf, als die Erzählerin schwieg. Es gab nur einen Ausspruch: Er war zu schön, dieser Roman! Mir hatte er sich so tief eingeprägt, dass ich dreissig Jahre später, als ich nach Italien kam, vor einem Torbogen stehen blieb, in das tiefe Innere schaute und unbewusst nach etwas suchte. Da schlug eine Kirchenglocke dumpf an, und die Erinnerung an jenen ersten Roman wurde lebendig in mir. Wir baten Frau Schulte, uns bald wieder etwas zu erzählen. «Das geht nicht», erwiderte sie, «da müsste ich abends lesen und das kann ich nicht, denn ich habe eine alte Mutter und ein Kind zu Hause, für die ich sorgen muss; also heisst es tüchtig arbeiten.» Sofort waren wir alle einig, dass ihre Abendarbeit unter uns gleichmässig verteilt und am Morgen mit der unsrigen fertig ins Geschäft gebracht werde.

Eine Nebenarbeiterin gab mir «Rinaldo Rinaldini, Italiens grösster Räuberhauptmann», zu lesen. Nun sass ich jeden Sonntagnachmittag im Gartenhäuschen versteckt, in den Roman vertieft, sah und hörte nichts mehr, vergass sogar das Essen über Rinaldini! Ich wob einen Strahlenkranz um das geliebte Räuberhaupt, sah die mir begegnenden Männer prüfend darauf an, ob sie einem Rinaldini ähnlich seien, und – ich fand zum Glück keinen. Nachher fesselten mich «Isabella von Spanien» und ähnliche «wunderbare» Romane. Alle diese Romane beschäftigten meine Phantasie aufs lebhafteste. Ich, die kaum Vierzehnjährige, wurde zur Träumerin. Ich liess das Gehörte und Gelesene immer und immer wieder an mir vorbeiziehen und verträumte dabei die Zeit. Unter den vielseitigen Ablenkungen, die ein Atelier mit den verschiedenartigsten Arbeiterinnen in sich birgt, litt ich, litt auch meine Arbeit. Nicht, dass sie schlechter wurde, aber ich leistete weniger. Mein früherer Fabrikherr wäre nicht mehr in der Lage gewesen, mich wegen zu grosser Arbeitsamkeit zu büssen oder gar zu entlassen.

Ein Ereignis daheim rüttelte mich wach. Es kam oft vor, dass ein Nebenaufseher meines Vaters ihn besuchte. An einem Sonntag kam er sehr früh und sagte beim Eintritt in die Stube: «Ich bringe euch gute Nachricht, Kollege Knecht. Ihr werdet bald wieder sehen können!» «Wieder sehen können? – Bald?» ertönte es zweifelnd und freudig zugleich aus vier Kehlen. Ich stellte Herrn Thalmann einen Stuhl hin und bat: «Bitte, bitte, Herr Thalmann, berichten Sie schnell, wie kann unser Vater wieder sehend werden?» Herr Thalmann erzählte: «Mir ist letzte Woche etwas ins Auge geraten und ich ging darum zu Prof. Horner. Bei dieser Gelegenheit sprach ich auch über euer Leiden. Da sagte der Professor: ‹Knecht heisst er, sagen Sie?› Dabei schlug er ein Buch auf. ‹Da haben wir’s, der hat ja den grauen Star. Warum ist er nicht mehr gekommen? Drei Jahre seines Lebens hat er dadurch verloren! Er soll sofort herkommen, er wird bald operiert und sehend werden!›»

Auf einmal steht mein Vater auf, tastet sich zu Thalmann hin, umklammert zitternd seine Hände und ruft mit vor Aufregung heiserer Stimme: «Thalmann, Thalmann, ist das wahr? Sagt mir doch, kann das wirklich wahr sein? Ich soll wieder sehend werden? Ich soll die Mutter wieder sehen, die Sonne und die Bäume und das Gras, und ich soll wieder arbeiten können? Gott, mein Gott, das ist fast zu viel des Guten für mich!» In einer solchen Aufregung hatten wir unsern allzeit geduldigen Vater noch nie gesehen. Wir waren alle tief ergriffen und hatten Tränen in den Augen, auch Herr Thalmann. Dann tastete sich Vater wieder zu seinem Stuhl zurück, sank in diesem ganz zusammen und murmelte immer wieder vor sich hin: «Mehr als drei Jahre meines Lebens verloren – Not – Elend!» Herr Thalmann konnte diesen Jammer nicht mehr länger mit ansehen; er drückte uns wortlos die Hand und ging hinaus, ohne dass der Vater es bemerkte.

Wir überliessen den Vater einige Zeit sich selbst. Dann setzte sich die Mutter zu ihm, streichelte ihn und fing an, von dem grossen Glück zu erzählen, das uns bevorstehe, wenn er operiert sei. Nach und nach wich die Starrheit. Aber dann kamen ihm wieder seine verlorenen Lebensjahre in den Sinn. Er drückte der Mutter die Hand und sagte: «Ich habe ja nicht gewusst, dass ich den Star habe, der Professor hat mir nie etwas davon gesagt. Glaubst du mir das, Mutter?» Und wieder jammerte er von der Not, die er über uns gebracht habe. Die Mutter fiel ihm ins Wort: «Papperlapp! Das ist nicht so schlimm; verhungert sind wir nicht, sind sogar recht gesund, und dafür wollen wir dankbar sein! Und du, Vater! Erst Mitte fünfzig und dazu kräftig und gesund; du wirst sehen, wie schön wir es haben werden! Du wirst wieder schaffen können, Vreneli verdient auch, wir werden ja ein Herrenleben zusammen führen und nachholen, wo wir zu kurz gekommen sind.»

Länger hielten meine Schwester und ich es nicht mehr aus, wir mussten unsern verheirateten Schwestern die Freudenbotschaft überbringen. Bald kamen sie mit ihren Männern, um dem Vater Glück zu wünschen, und baten die Mutter, gleich am andern Tag den Professor aufzusuchen. Das war das erstemal in meinem Leben, dass wir alle in solchem Glück – einem berauschenden Glück – beisammensassen. Es wurde den ganzen Abend nur von der Zukunft gesprochen und da zeigte sich, wie unendlich schwer Vaters Schicksalsschlag auf allen gelastet hatte, ohne dass je geklagt oder gejammert worden wäre.

Am andern Tage waren sie bei Professor Horner, der den Vater mit den Worten begrüsste: «Warum seid ihr nicht mehr gekommen? Ich habe es euch doch seinerzeit gesagt, dass ihr den grauen Star habt und dieser eine längere Zeit brauche, bis er operationsreif sei.» Mein Vater erwiderte nur: «Herr Professor, das habe ich nicht gehört. Ich weiss, wie es sich mit dem grauen Star verhält, und manchmal habe ich gewünscht, wenn es doch so wäre.»

Es musste mit der Operation noch drei Wochen gewartet werden, ob wegen Behandlung der Augen, ob wegen Platzmangel im Spital ist mir nicht mehr erinnerlich. Endlich kam der wichtige Tag. Wie waren wir alle in Aufregung, bis wir wussten, ob die Operation gelungen sei. Dann aber fühlten wir uns erlöst und konnten kaum die erste Besuchsstunde erwarten. Der Vater lag in einem dunkeln Zimmer. Als wir ihm in unserer Freude die Hände schütteln wollten, verwies uns dies der nebenstehende Arzt, da jede Erschütterung den Erfolg der Operation gefährde.

Nach etwa vierzehn Tagen sass Vater, als ich heimkam, am Mittagstisch und erzählte, wie ihm zuerst alles neu und gespensterhaft vorgekommen sei, aber mit jedem Schritt vertrauter und schöner; auch seine Brille erklärte er uns. Wie beredt doch auf einmal der Wortkarge war; wir mussten staunen, merkten wohl, das tat die Freude, die grossmächtige Freude. Keines dachte mehr an Essen, keines fühlte Hunger.

In der Fabrik erhielt der Vater wieder seine frühere Stellung, und nun war es mit der Not vorbei.

Bald aber wuchs der Star wieder; trüber und trüber wurde unseres armen Vaters Augenlicht, und es folgte eine längere Zeit drückender Untätigkeit, bis die zweite Operation möglich wurde. Wohl erleichterte die Zuversicht auf eine bessere Zukunft die Wartezeit; aber bitter und schwer war sie doch, für den Vater und für uns alle, da sein Verdienst aufs neue ausblieb. Ich versuchte durch vermehrte Heimarbeit den Lohnausfall auszugleichen, aber der Verdienst war bei allem Fleiss sehr gering.

Da meldete ich mich in einem Geschäft gleicher Art, von dem es hiess, es zahle gut. Wie gross war meine Enttäuschung schon beim ersten Schritt in den neuen Arbeitsraum; er befand sich im fünften Stockwerk und bestand aus zwei kleinen Mansardenzimmern, in denen die Arbeiterinnen eng zusammengedrängt sassen, und ich wunderte mich, dass sie beim Nähen einander nicht verletzten. Schon in den ersten Tagen sah ich mich getäuscht. Die Arbeit war schlechter bezahlt als die vorherige, und ich musste tagsüber sehr fleissig sein und abends noch ein grosses Paket Arbeit nach Hause nehmen, um nur auf den früheren Verdienst zu kommen. Selten bekamen wir den Lohn, der alle vierzehn Tage ausbezahlt werden sollte, rechtzeitig. Kam der Zahltagabend, kam auch der Geschäftsinhaber mit der Nachricht: «Meine Frau hat Kopfschmerzen; es kann nicht ausbezahlt werden.» Und oft hatten wir bis Dienstag oder Mittwoch auf unser sauerverdientes «Gerstli» zu warten. An Spötteleien und Witzen über das unvermeidliche Zahltagskopfweh fehlte es unter den Arbeiterinnen natürlich nicht. Es tat mir leid, mit leeren Händen heimzukommen, wusste ich doch, wie sehnsüchtig die Mutter auf mein Löhnlein wartete. Nun musste sie das Nötigste mit der Vertröstung auf die nächste Woche zu bekommen suchen, oder wir hatten schmale Küche bis zum Lohneingang.

Es sollte aber noch schlimmer kommen. Gegen den Sommer hin wurden die Bestellungen knapp; es gab keine Arbeit mehr für den Abend. Da stichelten dann tagsüber alle Arbeiterinnen, und ich mit ihnen, wie wahnsinnig drauf los. Wir waren ganz schweissgebadet vor Anstrengung und wegen der glühenden Hitze des Daches unmittelbar über uns. Eines Tages hiess es: «Die jüngeren Arbeiterinnen sind entlassen bis zum Herbst.»

Nun ging das Elend an! Tagtäglich lief ich von Geschäft zu Geschäft, um Arbeit zu suchen, doch vergeblich. Hie und da vertröstete man mich auf Ferienende. Doch bis dahin dauerte es noch sieben Wochen, während welcher Zeit wir alle verhungert sein konnten. Ob ich vierzehn Tage oder einen Monat um Arbeit umherirrte, daran erinnere ich mich nicht mehr; ich weiss nur – es waren schreckliche Tage! Wie machte ich mir Vorwürfe, an der vorherigen Stelle nicht fleissiger gewesen zu sein und so viel Zeit mit Träumen verloren zu haben. Wie hatte ich dort weggehen können, ohne mich vorher über das neue Geschäft genau zu erkundigen. Die Zuschneiderin hatte nur zu recht, als sie mich beim Abschied gemahnt hatte: «Glaube mir, Kind, die gebratenen Tauben fliegen dir auch dort nicht in den Mund!»

Wir wohnten zu jener Zeit in einem kleinen Haus auf einer Anhöhe. War ich schon hoffnungslos elend von den vergeblichen Bemühungen um Arbeit – das kleine Gässchen hinauf zu unserm Häuschen wurde mir vollends zum Martergang. Ich fühlte meine Beine wie Bleiklötze, kaum zu schleppen. Am Fenster stand jeweilen meine liebe Mutter und erwartete mich mit Bangen. Kam ich endlich in die Stube, sagte sie in gütigem Tone: «Du hast nichts gefunden, ich habe es dir schon angesehen.» Weinend schüttelte ich den Kopf: «Gar nichts!» Wie hat mich damals beim Nachtessen jeder Kaffeebrocken gewürgt, und wie gerne hätte ich auf jegliche Speise verzichtet! Das aber hätte meiner Mutter noch mehr Kummer bereitet.

Mein Vater fragte nichts; aber es war rührend, wie der Arme in seiner Blindheit und Hilflosigkeit uns nach dem Abendbrot zu zerstreuen suchte. Bei seinen hübschen Erzählungen vergassen wir ein wenig des Tages Schwere.

Endlich lachte auch mir wieder das Glück! Das Seidenhaus Zürrer an der Bahnhofstrasse hatte eine Stelle ausgeschrieben; ich meldete mich und wurde sogleich eingestellt. Alle Müdigkeit war verschwunden und schnell eilte ich heim. Geflügelten Schrittes ging es das Gässchen hinauf. Die Mutter empfing mich schon vor der Haustüre mit den freudigen Worten: «Du hast Arbeit! Ich sah es schon auf den ersten Blick!» «Ja, ja», rief ich jubelnd, «und was für welche!»

Beim Mittagessen erzählte ich in sprudelnder Freude: «Ein feiner Herr hat mich über meine bisherige Tätigkeit ausgefragt und war befriedigt von meinen Antworten. Ich darf mich immer in dem schönen Verkaufslokal aufhalten und habe dort die bestellten Krawatten zu machen. Und denkt euch nur: auch Kunden darf ich bedienen, und dafür bekomme ich sechzig Franken Monatslohn!»

Mutter und Schwester strahlten vor Glück und der Vater verzog alle Augenblicke sein Gesicht, um das Weinen zu unterdrücken. Unsere Kartoffelsuppe schmeckte uns an diesem Mittag so gut wie noch nie. In unserer Freude dachten wir nicht daran, wie lange es dauern werde, bis wir aus den ärgsten Geldnöten sein würden. Wochenlang war durch den eingeschränkten Geschäftsbetrieb an meiner letzten Stelle der Verdienst gering gewesen. Dann war völlige Arbeitslosigkeit gekommen. Und nun dauerte es ja noch einen ganzen Monat, bis ich das erste Gehalt erwarten durfte. Trotzdem ging ich nie hungrig an die Arbeit und schlüpfte nie hungrig unter die Decke. Wie meine liebe Mutter das fertig gebracht hat, ist mir heute noch ein Rätsel, denn wir hatten keine Unterstützung, ausgenommen, was meine Schwestern ihrem eigenen Haushalt absparen konnten. Es mag ihnen manchmal schwer genug geworden sein, als ihre Familien sich vergrösserten. Es wundert mich heute noch, dass es mir nie bewusst wurde, wie arm wir waren. Ich glaube, das ist einzig das Verdienst unserer wackern Mutter. Wie manchmal sie selber im Verborgenen gedarbt und entbehrt hat – wer weiss?