Kitabı oku: «Erstrebtes und Erlebtes», sayfa 5
Modearbeiterin und Ladentochter
Es war mir jeden Tag erneut Freude, in das schöne, vornehme Geschäft zur Arbeit zu gehen. Ich war nun im sechzehnten Jahre und sollte den Konfirmandenunterricht in Unterstrass besuchen. Wodurch ich wöchentlich einen halben Tag versäumt hätte. Das kam dem Geschäftsleiter, Herrn Henneberg, sehr ungelegen. Auf seinen Wunsch meldete ich mich bei der nahen Kirche zu St. Anna, in der ich schon zu Weihnachten statt erst zu Ostern konfirmiert werden konnte. Diese Kürzung der Unterrichtszeit bedauerte ich keineswegs, denn so grosse Freude mir die Sonntagsschule in dieser Kirche einst bereitet hatte, so völlig kühl und innerlich unberührt liess mich der Konfirmationsunterricht. Er bot mir gar nichts, was mein Gemüt hätte bewegen, mein Herz hätte erwärmen können.
Endlich fand die Konfirmation statt, an einem Sonntagabend vor Weihnachten, in hellerleuchteter Kirche. Es sah alles sehr feierlich aus. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, auch Mutter und Schwestern waren erschienen. Zu Hause sagten sie nachher: «Wie froh waren wir, dass uns niemand gekannt hat. Schämen hätten wir uns müssen, deinetwegen! Steif wie ein Stecken sassest du da und wusstest wieder einmal nicht, wie hoch den Kopf tragen. Nicht einmal geweint hast du, wie die andern Konfirmandinnen und wie sich’s doch gehört!» Verzweifelt erwiderte ich: «Ich wollte ja weinen, aber es hat mich nichts gerührt!» Ich glaube, das Schelten meiner Schwestern war nicht so ernst gemeint, denn jede lud mich auf einen der Weihnachtstage zum Mittagessen ein, und jede versicherte mir, es gebe etwas Besonderes.
Zu meiner grossen Überraschung erhielt ich mein Gehalt schon am Weihnachtsvorabend statt erst am Sylvester. Das gab eine Weihnachtsfreude für die Mutter! Die Hauptüberraschung aber blieb mir vorbehalten. Als ich zu Hause das Zahltagsäcklein öffnete, lag darin ausser dem Gehalt noch ein kleineres Säcklein mit der Aufschrift «Fröhliche Weihnachten» und darin lag ein Zwanzigfranken-Goldstück. Meine Freude kannte keine Grenzen. Immer wieder rieb ich das Goldstück mit einem Wollappen glänzend, und ein jedes musste es bewundern, sogar mein blinder Vater. Wie manchmal fragte ich an jenem Abend die Mutter: «Gelt, du hast noch nie ein so schönes Goldstück gehabt, überhaupt noch keines?» «Nein, nein», versicherte sie lächelnd.
Der Vormittagsgottesdienst am ersten Weihnachtstage läutete aus. Beinahe hätte die Spannung, welch seltenes Gericht meiner auf dem Mittagstisch warte, mir die Andacht der ersten Abendmahlfeier gestört. Nun aber, auf dem Weg zu meiner ältern Schwester, liess ich meinen Gedanken freien Lauf. Etwas, was ich noch gar nicht kenne, hatte Schwester Albertine mir gesagt. Was aber auf dem festtäglichen Mittagstisch stand, übertraf meine kühnsten Erwartungen. Koteletten, herrliche, dicke, umfangreiche Schweinskoteletten! Wie liess ich mir’s schmecken, ach, nur allzusehr! Mein einfach gewöhnter Magen vertrug das üppig fette Gericht nicht, versagte den Dienst und meine Geniesserfreude nahm ein gar schnelles und klägliches Ende.
Dafür wartete meiner eine andere grosse Freude. Am folgenden Morgen sagte die Mutter: «Vater und ich sind übereingekommen, dass du für die Hälfte des Goldstückes ein Kleid kaufen und den Stoff dazu selbst aussuchen darfst.» «Hurra!», hätte ich gerne gerufen. Aber mein schönes Goldstück! Ich liess es von einer Hand in die andere gleiten, schaute es an und wieder an und fürchtete mich, es zu opfern. Die Mutter sah den Kampf und half mir aus der Not. Sie erinnerte mich daran, dass ich ja kein Sonntagskleid mehr habe, seit ich das bisherige täglich ins Geschäft anziehe. «Willst du jeden Sonntag zu Hause bleiben, wenn deine Freundinnen spazieren? Denkst du, das Goldstück werde dich über den Verlust trösten?» Das glaubte ich auch nicht und ging nach den Feiertagen auf die Stoffsuche. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich zu einer Wahl entschliessen konnte, denn ich verlangte schöne Farbe, gute Wolle und niedrigen Preis. Das alles vereint erhielt ich um acht Franken; eine Freundin und ich arbeiteten einige Abende zusammen, bis das Kleid fertig war.
Nach Neujahr kamen im Geschäft Sendungen von Schleifen aus Stoff und Spitzen an, welche die Damen, der damaligen Mode entsprechend, zu Schmucke ihrer Kleider unter dem Halskragen befestigten. Sie waren plump und ohne Geschmack. «Die würde ich hübscher machen», sagte ich zu einem Ladenfräulein. Herr Henneberg hörte das und lächelte ungläubig; er hielt mich junges Ding jedenfalls für anmassend; trotzdem ermunterte er mich, Proben anzufertigen. Meine Schleifen fanden bei den Kunden Gefallen und wurden vor den andern verkauft. Der Chef sprach sich anerkennend aus, bedauerte nur, dass ich nicht genügend Schleifen anfertigen könne. Da schnitt ich tagsüber aus den verschiedensten Stoffen Schleifen zu und formte sie abends daheim zusammen, es wurde ein ordentlicher Nebenverdienst. Jetzt konnten wir zuversichtlicher der in Aussicht stehenden zweiten Operation entgegenblicken, und für den Vater war dies eine grosse Beruhigung.
Das kleine Haus, in dem wir wohnten, gehörte einer Witwe, die sehr fromm war und jede Woche mit ihren Töchtern die Bibelstunde besuchte. An dem Tage, da der Vater zu dem schweren Gang in das Spital gerüstet stand, erschien die Hausbesitzerin, verlangte den Rest des Mietzinses und erhöhte zugleich den Preis der Wohnung. Die Mutter brach erschrocken in die Worte aus: «Aber Frau Meli, das verlangen Sie in dem Augenblick, da der Vater zur Operation muss. Gedulden Sie sich bis Monatsende, dann werden Sie, wie verabredet, die fehlenden zwanzig Franken erhalten.» Da giftete sie: «Zu neuen Röcken reicht das Geld, für den Zins nicht!» Mein achtfränkiges Kleidchen, das ich so bitter nötig hatte, musste als Vorwand für den Zinsaufschlag dienen. Mein Vater, der sonst selten etwas sagte, in allen Angelegenheiten die Mutter schalten und walten liess, wies empört den Aufschlag zurück und kündigte kurzerhand die Wohnung.
Als wir den Vater im Spital besuchen wollten, trat uns der Arzt entgegen und erzählte, der Vater sei während und nach der Operation sehr aufgeregt gewesen. Wenn die Ärzte von seinem unangenehmen Erlebnis gewusst hätten, wäre die Operation verschoben worden. «Hoffen wir aber trotzdem das Beste! Sie dürfen jetzt zu Ihrem Vater, aber nur kurze Zeit und – ruhig, ganz ruhig.» Der Vater fühlte, dass etwas nicht stimmte und war niedergeschlagen.
Gedrückt gingen Mutter, Schwester und ich nach Hause, die Angst schnürte uns die Brust zusammen. Wie wird es werden? Der Bericht des Arztes war nicht ermutigend. Der Gedanke an eine Fehloperation quälte uns; wir mochten weder essen noch schlafen.
Endlich kam Bericht, dass der Vater geholt werden könne. Es war wieder ein sonniger Frühlingstag wie im vorigen Jahr. Aber – wie glückselig letzten Frühling, wie traurig dieses Jahr! Nach der letzten Operation fand der Vater den Weg allein nach Hause. Er war rührend in der Freude, uns wiederzusehen. Diesmal musste er im Spital abgeholt werden. Still schritt er neben der Mutter her, sein erneutes Unglück schien ihm so gross, dass er glaubte, nicht darüber hinwegzukommen; ein Auge war infolge der Aufregung verloren.
Wir versuchten den Vater aufzurichten, sprachen in freudigem Tone von dem grossen Glück, dass ihm doch ein Auge erhalten geblieben und dass er somit seine Arbeit wieder verrichten könne. Er schüttelte den Kopf und meinte bitter: «Glaubt ihr denn, die Direktion stelle mich alten, invaliden Mann wieder ein? Es gibt jüngere Kräfte, die mehr leisten als ich mit meinem geschwächten Augenlicht!» Aber die Direktion stellte Vater wieder an seinen alten Platz. Nach dreissigjähriger Tätigkeit war ihm seine Arbeit so vertraut, dass er sie auch mit verminderter Sehkraft zur Not ausüben konnte. Wurden die Tage kürzer, brachte die Mutter den Vater zur Fabrik, damit ihm in der Dunkelheit nichts passiere, und meine jüngere Schwester holte ihn abends wieder ab. So hatten wir vorläufig unser ordentliches Auskommen, um so mehr, als auch meine Stellung sich inzwischen verbessert hatte.
Herr Henneberg, vom Seidenhaus Zürrer, eröffnete zu dieser Zeit ein eigenes Geschäft gleicher Art, nur viel grösser und lud mich ein, in seinen Betrieb überzutreten, was ich gerne tat. Das Geschäft ging sehr gut und ich hatte mit Bedienen der Käufer so viel zu tun, dass meine Schleifen, nach denen immer Nachfrage war, tagsüber liegen blieben. Dafür musste ich abends zu Hause länger arbeiten. Ich lehrte die Mutter einige kleinere Vorarbeiten, was die Zusammenstellung der Schleifen beschleunigte. So konnte ich jeden Morgen bedeutend mehr ins Geschäft bringen und erntete dafür Anerkennung.
Noch in anderem Sinne wurde mir die Stellung im Hennebergschen Geschäfte nutzbringend. Zum Ärger der Meinigen hatte ich von klein auf manchmal eine störrische Art. Es wurde mir immer schwer, fremden Leuten zu danken oder mich zu entschuldigen. Ich litt darunter, aber ich brachte die Worte einfach nicht heraus, auch dann nicht, wenn ich wegen dieser Verstocktheit geschlagen wurde. Folgendes Vorkommnis heilte meinen Eigensinn: Herr Henneberg wünschte eine bestimmte Sorte Schleifen. Ich raffte probeweise den Stoff, um ihm zu zeigen, wie unschön sie aussehen würden. Er glaubte mir nicht und erwiderte: «Führen Sie die Arbeit aus, wie ich sie wünsche!» «Gut», dachte ich trotzig und gekränkt, «dann soll er sie so haben!» Die Schleifen waren wirklich nicht schön, ganz wie ich vorausgesehen hatte. Da sprach Herr Henneberg: «Ich bedaure, Verena, Ihnen vergebliche Mühe gemacht zu haben.» Das sagte der feine Herr mit einer Selbstverständlichkeit seiner jüngsten Angestellten wie einer Dame! Fürderhin ging mir das Danken und Entschuldigen leichter von den Lippen.
An Weihnachten lagen diesmal meinem Gehaltsäckli sogar drei Zwanzigfranken-Goldstücke als Geschenk bei. Wie glücklich war ich über den Reichtum und gar als der Vater sagte: «Diese sechzig Franken trägst du gleich nach Weihnachten auf die Sparkasse. Sie sollen den Grundstock bilden, auf dem du hoffentlich bald aufbauen kannst.» Schnell nahm ich das Geldtäschchen, schwenkte es in der Höhe hin und her und rief: «Jetzt bin ich Kapitalist, juchhe …!» Ich war glücklich über mein Weihnachtsgeschenk; aber die unbändige Freude wie mit dem ersten Goldstück des vorigen Jahres war es nicht mehr.
Am Neujahrstag lieh mir eine Freundin ihre Schlittschuhe, damit ich auf die Eisbahn gehen könne. Ich hüpfte nach Hause, schlug die Schlittschuhe gegeneinander, dass sie klirrten, und rief: «Seht, was ich habe! Ich darf auf Emmys Schlittschuhen fahren lernen; ist das nicht fein?» Meine älteste Schwester, die gerade daheim war, den Eltern ein gutes Neujahr zu wünschen, sagte ärgerlich: «Es wundert mich, dass du dich nicht schämst, das macht doch kein anständiges Mädchen!» Erst war ich starr vor Staunen. Als ich wieder Worte fand, zählte ich alle Mädchen meines Alters auf, die schon längst Schlittschuh liefen, und um Eindruck zu machen, nannte ich in erster Linie die Namen der reichen Mädchen. Meine Schwester schlug die Hände zusammen und meinte: «Nein! Das geht doch übers Bohnenlied! Du willst dich mit diesen reichen Mädchen vergleichen?» Länger hörte ich nicht zu, warf die Schlittschuhe in eine Ecke, schloss mich in das Schlafzimmer ein und weinte. Das war mein Jahresanfang und das Ende einer grossen, grossen Freude, die mir den Alltag in der Erinnerung noch lange vergoldet hätte.
Und er war streng, dieser Alltag! Unser Geschäft blieb abends bis acht Uhr offen, sehr oft auch länger. Wurde dann endlich geschlossen, wanderte ich müde und abgehetzt nach Hause, wo das Abendbrot auf mich Hungrige wartete. Jeden Abend gab es eine Wurst, Brot und ein Glas Bier; das war das Köstlichste für mich. Mir war es täglich aufs neue ein Hochgenuss, recht gemütlich hinter meinem Abendbrot zu sitzen. Wie verstand ich es, diesen Genuss auszudehnen, indem ich kunstvolle Wursträdlein wie Papier so dünn herunterschnitt, mein Brot in kleinen Bröcklein, mein Bier in winzigen Schlücklein zum Munde führte!
«Es ist ein Glück», sagte der Vater einst, «dass du im Schaffen nicht so langsam bist wie im Essen, sonst wäre es schlimm um dich bestellt.» «Bitte, Vater, lass mir doch das Ruhestündchen und das herrliche Geniessen meiner Wurst; ich freue mich den ganzen Tag darauf! Am Morgen habe ich kaum Zeit, die Kaffeebrocken hinunterzuwürgen, am Mittag heisst es, den langen Weg nach Hause eilen, schnell essen und wieder ins Geschäft rennen. Einzig am Abend kann ich in aller Ruhe mein Abendbrot verzehren.»
Herr Henneberg war ein vorzüglicher Geschäftsmann und hielt strenge darauf, dass alle Käufer mit äusserster Zuvorkommenheit behandelt wurden und keiner unbedient blieb. Er zeigte uns, wie jede Verkäuferin sich mehreren Kunden gleichzeitig widmen könne, nur hiess es, die Augen offen halten. Dadurch wurde der Blick auch für scheinbare Kleinigkeiten geschärft, was mir im späteren Leben wohl zu statten kam.
Täglich hörte ich meine Kolleginnen mit den Käufern Französisch und Englisch sprechen. Wie sehnte ich mich, das auch zu können, passte auf jedes Wort auf und versuchte es nachzusprechen, natürlich ganz leise und heimlich, damit niemand etwas merke; man hätte mich sonst ausgelacht. Ich wollte aber doch wenigstens Französisch lernen, obwohl ich die englischen Worte leichter nachsprechen konnte und auch besser behielt; aber der französische Verkehr war grösser.
Eine welsche Professorentochter erklärte sich bereit, mir französischen Unterricht, die Stunde zu fünfzig Rappen, zu erteilen. Wie leicht und freudig stieg ich jede Woche zweimal die fünf Treppen zu ihrem Dachstübchen hinauf. Es war so klein, dass mehr als eine Schülerin neben ihr nicht Platz fand. Vermutlich war die Zahl ihrer Schüler recht gering; darum kam sie mir sehr entgegen. Oft kam ich eine halbe oder ganze Stunde später, war müde und hungrig und brachte deshalb nicht immer die nötige Aufmerksamkeit mit; dennoch war sie immer gleich freundlich und geduldig. Erschien ich rechtzeitig und frisch, dehnte sie den Unterricht oft aus. Trotzdem ging es für meinen Eifer viel zu langsam. Leider hatte ich keine Zeit für schriftliche Aufgaben, die mich tüchtig gefördert hätten. Ich durfte nur studieren, wenn meine Eltern im Bett waren; dann nahm ich mein Lehrbuch vor und lernte laut die Verben und Wörter auswendig, während ich meine Schleifen büschelte.
Als ich eines Abends in den Unterricht wollte, war das Zimmer geschlossen und eine Nachbarin erzählte, dass das arme Fräulein in die Irrenanstalt Burghölzli verbracht worden sei. Ich weinte auf dem Heimweg vor Bedauern, bin aber nicht mehr sicher, galt das Mitleid allein dem Fräulein oder auch mir; denn mit meinen Französischstunden war es aus. Sie kosteten anderswo einen Franken und mussten pünktlich eingehalten werden, was ich leider nicht ermöglichen konnte. Wie hatte ich mich darauf gefreut, meine Kolleginnen mit meiner Sprachkenntnis zu überraschen. Oft überkam mich ein tiefes Weh, dass es mir, die so Freude an Sprachen, überhaupt an Weiterbildung hatte, versagt war, zu lernen und mein Wissen zu vertiefen.
Herr Henneberg überraschte uns einst mit einem feinen Vorschlag: Es sollte der Abenddienst so eingeteilt werden, dass jede der Ladentöchter wöchentlich zweimal um sieben Uhr heimgehen konnte. Samstag abends kamen immer viele Käufer und es wurde meistens sehr spät, bis der letzte das Geschäft verliess, und just am Samstag war die Reihe an mir, früher heimzugehen. Gelang es mir nicht, Schlag sieben Uhr zu entwischen, war’s vorbei mit meinem schönen Feierabend. Zwar bemerkte eines Samstagabends meine Vorgesetzte etwas vorwurfsvoll: «Verena, Sie machen es ja genau wie die Maurer! Ist der Mörtel schon auf der Kelle, und es schlägt zwölf Uhr, so schmeissen sie ihn eher in den Kübel statt an die Mauer!» «Das ist etwas anderes, Fräulein Emma», erwiderte ich. «Beim Maurer handelt es sich nur um eine Handbewegung, bei mir aber darum, auf den ersehnten frühern Feierabend verzichten zu müssen.» Das Fräulein lächelte, teils weil sie mir nachfühlte, teils wohl auch über den Eifer, mit dem ich mich für mein gutes Recht wehrte. So oft ich später den Vorwurf hörte, dass die Frauen ihre Haushaltungsbedürfnisse immer erst am Samstagabend einkauften, musste ich lächeln, lächeln trotz des berechtigten Vorwurfes; denn ich dachte an die Wochenschlussabende im Geschäfte Hennebergs, an denen die Herren oft bis halb zehn Uhr ihre Krawättli einkaufen kamen.
Wäre es nicht gerade am Samstag gewesen, hätte ich mich wohl kaum so ereifert. Doch damit hatte es eine besondere Bewandtnis. Wenn ich um sieben Uhr das Geschäft verliess, läuteten just alle Glocken die Arbeitswoche aus. Vom Fraumünster- und Petersturm her klang ihr Fei-era-bend – Sonn-tags-ru-he! Oh, ich hätte laut mitjubeln mögen! Feierabend – Sonntagsruhe! Da wo man vom Münsterhof in die Storchengasse einbiegt und die St. Petersglocken so laut ertönen, dass der Boden unter den Füssen zittert, erfasste mich zuweilen ein wonniges Glücksgefühl. Langsam ging ich dann durch die Storchengasse, um das Wohlgefühl ganz auszukosten nach dem vollgerüttelten Mass Wochenarbeit. Und dann der Gedanke an den Sonntag! Herrlich – schlafen zu dürfen, solange ich mochte. Es ertönte kein: «Vreneli, es ist Zeit!», bald darauf schon dringender «Vreneli, es ist höchste Zeit!» Wohl gab ich Bescheid, doch zwischenhinein träumte ich, dass die Arbeit fertig sein müsse, träumte und arbeitete mich in eine solche Hast hinein, dass ich beim letzten Weckruf durch Schütteln endlich erwachte, zur Wirklichkeit erwachte, in Schweiss gebadet – Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Der Sonntagnachmittag gehörte mir. Da besuchten wir Freundinnen uns gegenseitig oder spazierten zusammen. An einen Palmsonntag erinnere ich mich lebhaft. Ich wanderte mit meiner Freundin Mina gegen Witikon. Wir verliefen uns und erreichten gegen Abend müde und hungrig die Waldwirtschaft zu Adlisberg. Es sassen nur noch wenige Gäste dort. Nachdem wir unsere gemeinsame Barschaft gezählt hatten, setzten wir uns an einen Tisch und bestellten einen halben Liter Most und zwei Stücke Bauernbrot. Zaghaft fragte ich, was der Käse koste, und – es reichte zu zwei Portionen. Wir schmausten mit Wonne und fütterten in unserer Freude die Hühner, die zutraulich auf den Tisch hüpften und aus unseren Tellern pickten. Bald war uns die Freundschaft zu viel, und wir verjagten die Frechlinge.
Es war das erste Mal, dass wir allein in einem Wirtshaus gewesen und selber bestellt hatten, und wir fühlten uns sehr. Auf dem Heimweg waren wir so übermütig, dass wir Hand in Hand durch den Wald hüpften und wie die Vögel im Hanfsamen sangen. Es tat uns leid, dass wir nicht auch den Rest unserer Barschaft – die eine hatte noch zehn, die andere fünf Rappen – verjubeln konnten. Wir sagten uns sehr richtig, dass wir mit dem kläglichen Rest unseres monatlichen Taschengeldes doch nichts mehr anfangen konnten, und dabei war es erst Monatsanfang.
Eine Freundin, die im Töchterchor war, erzählte mir hie und da, wie hübsch es dort sei, das Singen und die Geselligkeit. «Das wäre nett für dich», meinten meine Eltern und ermunterten mich, dem Chor beizutreten. So kam ich in den Töchterchor Oberstrass und fühlte mich dort bald heimisch. Mein angeborener Frohsinn, durch schwere Verhältnisse lange zurückgedrängt, gewann wieder Oberhand, ja brannte manchmal mit mir durch, so dass der Dirigent mich öfters «Fräulein Übermut» nannte.
Im Februar erhielt ich unverhofft einen Brief mit Einladung zum Turnerball. Der erste Ball! Wer war der Einladende? Ich kannte ihn nicht, erinnerte mich nicht, ihn schon gesehen zu haben. «Ob er hübsch ist, ob gross», denn ich schwärmte für grosse Männer. Gar zu gern hätte ich gewusst, wie er aussah. Aber was nützte mir das alles? Obwohl ich im Töchterchor leidlich tanzen gelernt hatte, war es mir nicht möglich, den Ball zu besuchen – es fehlte mir das Ballkleid. Meine Eltern bedauerten es, sie hätten mir die Freude von Herzen gegönnt. Ich konnte mich nicht entschliessen, gleich am nächsten Tage abzuschreiben; ein kleiner Funken Hoffnung lag doch in meiner Brust; wer weiss, vielleicht fand sich noch ein Ausweg. Am folgenden Tage besuchte mich meine Freundin und hörte von meinem Kummer. Da erklärte sie einfach: «Du gehst an den Ball! Ich leihe dir mein Ballkleid.» Der Vater stimmte zu meiner grossen Verwunderung zu. Meine Schwester frischte das weisse Kleid auf, dass es wie neu aussah, und ich verzierte es mit hübschen Seidenschleifen und war selig in dem geborgten, einfachen Kleide. Am Ballabend klopfte mein Herz zum Zerspringen. Ich war längst gerüstet und wartete voller Neugierde und Zappeligkeit auf meinen Ballherrn. Er hatte den Vater besucht, um seine Erlaubnis zum Ball einzuholen. Nun schmeichelte ich dem Vater, um zu vernehmen, wie er aussehe; es nützte nichts, er neckte mich nur. Endlich läutete es; ich hielt die Hand aufs Herz und – er gefiel mir gut.
Im folgenden Winter bekam ich wieder eine Einladung an einen Turnerball. Im Töchterchor fragte ich: «Kennt ihr einen Alfred Meyer? Er hat mich zum Ball eingeladen.» Da lachten die Mädchen laut: «Du hast es aber fein getroffen! Du brauchst kein Licht in der Kutsche; Alfred zündet dir mehr als genug!» «Hat er denn rote Haare?», fragte ich schnell. «Ja, ja, feuerzündrote», gaben sie zurück. Ihre Neckereien quälten mich. Kaum war ich eingeschlafen, strich mir im Traum ein feuerroter Wuschelkopf mit seinen Haaren übers Gesicht, so dass ich voller Schrecken auffuhr. Das wiederholte sich und am Morgen war mir recht elend zumute. Beim Abendessen erzählte ich meinen Traum. Da meinte der Vater: «Es ist besser, du schreibst dem Herrn ab, wenn dir schon beim Gedanken an seine Haare übel wird.» Bald darauf lernte ich den Verschmähten kennen und fand in ihm einen netten, angenehmen Menschen und seine rötlichen Haare gar nicht hässlich. Zu spät merkte ich, dass mich die Töchterchörlerinnen geuzt hatten.
Oft malte ich mir in Gedanken aus, wie schön es sein müsste, einmal in den Armen eines geliebten Menschen durch den Saal zu schweben. Da sich mein Traum nicht verwirklichte, wies ich alle weitern Einladungen ab; bald hiess es, ich sei hochmütig, was mir den Übernamen «’s stolz Knechtli» eintrug.
Warum mir die Ablehnung als Hochmut und Stolz ausgelegt wurde, erfuhr ich eines Sonntags bei einem Spaziergang mit meinen Schwestern. Ich ging voraus, ihren Kinderwagen stossend. Ein Mädchen aus dem Töchterchor gesellte sich zu mir und wir sprachen über den bevorstehenden Vereinsausflug. Da sagte sie unvermittelt: «Emil Widmer hat mich kürzlich gefragt, worauf du eigentlich stolz seiest. Du habest ja nichts.» Das also war die Auffassung! Hätte ich Vermögen gehabt, wäre mir die Ablehnung einer Einladung gestattet gewesen. Als armes Mädchen aber durfte ich mir nicht erlauben, einen so eingebildeten und zudringlichen Burschen, wie Widmer, abzuweisen. In gekränktem Stolz warf ich den Kopf zurück. Das sahen meine Schwestern und äusserten sich wieder einmal ärgerlich über meine Art. Das also war des Rätsels Lösung: weil ich mich hie und da über die Grenzen erhob, die nach der Ansicht meiner Schwestern der Armut gezogen waren, oder weil ich Anmassungen zurückwies, trug ich in ihren Augen den Kopf zu hoch.
Seit einiger Zeit wohnten wir weit draussen an der Nordstrasse; ich hatte ins Geschäft reichlich eine halbe Stunde zu gehen. Der lange Weg machte sich besonders über die Mittagszeit unangenehm bemerkbar. Unsere Mittagspause dauerte nur anderthalb Stunden, und da über Mittag das Geschäft offen blieb, mussten die Angestellten zwischen elf und zwei Uhr einander ablösen. Niemand wollte zuerst zum Mittagessen. Da musste ich, als die jüngste, mit dem weitesten Weg, um elf Uhr heim. Auch meiner Mutter kam die frühe Essenszeit recht ungelegen, da Vater und Schwester erst eine Stunde später nach Hause kamen. Mir blieben im günstigsten Falle zwanzig Minuten Zeit zum Essen, und kam ich nur wenige Minuten zu spät ins Geschäft, traf ich Herrn Henneberg schon mit der Uhr in der Hand, da ich ihn ablösen musste.
Diese Hasterei verursachte mir während des Sommers häufig Nasenbluten. Eine Bekannte rief zum Schröpfen; sie meinte, ich hätte zu viel Blut. Meine Mutter schickte mich vorerst zu unserm Arzt. Der platzte in seiner kurzen Art heraus: «Was, Sie und zu viel Blut! Solch ein Blödsinn! Zu wenig Blut haben Sie. Das einzig Richtige wäre, Sie den Sommer über auf eine Alp zu schicken, wo Sie frische Luft, Milch und Ruhe hätten!» Als ich ihm entgegnen wollte, fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum und fiel mir ins Wort: «Weiss schon, weiss schon, dass es nicht geht. Trinken Sie wenigstens täglich zwei Glas frische Kuhmilch und ein Likörgläschen Chinawein mit Eisen! Es ist höchste Zeit, dass Sie für Ihre Kräftigung sorgen.»
Täglich erhielt ich nun frische Milch, Chinawein, und die Mutter gab mir mittags ein Stück gebratenes Fleisch mit. Aber daran dachte niemand, dass ein blutarmes Mädchen vor allem genügend schlafen sollte. Seit meinem vierzehnten Jahr gab es selten einen Abend, an dem ich nicht bis zwölf Uhr und noch länger arbeitete und dann vor Übermüdung den Schlaf erst recht nicht finden konnte.
Ein grosses Fest, eine Jubiläumsfeier der Sänger und Turner, sollte stattfinden, wozu auch ich Programme erhielt. Ich bat den Vater, das Fest mit mir zu besuchen. Davon wollte er aber nichts wissen; er führe seine Tochter nicht auf den Markt. Wenn ich nicht eingeladen werde, solle ich daheim bleiben. Ich konnte dem Vater lange erklären, dass es ein Familienfest sei und nicht einzeln eingeladen werde, es nützte alles nichts. Wie rückständig waren doch meine Lieben in solchen Dingen! Da gab es kein Stipendium, kein Schlittschuhlaufen, kein Begleiten auf ein Fest; alles fassten sie auf, wie es fünfzig Jahre früher Brauch gewesen.
Dass ich so zurückgezogen lebte und alle Einladungen ablehnte, war nicht Hochmut. Aber – ich liebte – liebte schon lange! Wir hatten beide auf der gleichen Schulbank gesessen, der neueingetretene, hochaufgeschossene Junge mit seinen lachenden Braunaugen und seinem Lockenkopf. Schon am ersten Morgen unserer Bekanntschaft lächelten wir zwei uns zu und so blieb es. Eines Tages fragte die Mutter: «Was ist auch mit dem Maurerbub drüben? Die Frauen hier herum (sie sassen immer vor den Häusern, zupften Rosshaar und sahen dabei alles!) sagen, der Bub gucke immer an unsere Fenster hinauf; das gelte natürlich dir.» «Natürlich gilt das mir, sicher nicht den alten Frauen!», erwiderte ich. Des Maurerbubs Vater baute das Haus nebenan, und der Junge sollte das Bauhandwerk von Grund auf erlernen. Nun stellte ich mich so oft als möglich ans Fenster, damit er nicht umsonst hinaufgucke.
Jede Woche holte mich Carl, so hiess er, einige Male vom Geschäft ab. Oft musste er wohl eine Stunde und länger warten; aber er hielt getreulich Wacht, bis ich kam. Wie freuten wir uns auf den Heimweg, und was hatten wir uns nicht alles zu erzählen! Er begleitete mich immer nur zur Hälfte, höchstens zwei Drittel des Weges, nie bis heim; dann wurde Abschied genommen mit einem lieben Blick und einem warmen Händedruck. So ging es Jahre.
Wurde ich eingeladen, bat mich Carl eindringlich, anzunehmen, da er noch nicht in der Lage sei, mir etwas zu bieten. Er bildete sich im Baufach aus und war daher von seinen Eltern abhängig; wir konnten deshalb noch längere Zeit nicht daran denken, dass sich unser Verhältnis ändern werde.
Wenn Samstags die Wagen mit Ballpärchen durch die Strassen fuhren und ich die Wolken von weissem Mull durch die Fenster leuchten sah, packte mich eine fieberhafte Erregung. Dann schwärmte ich Carl vor, wie herrlich es sein müsste, wie glückselig ich wäre, nur einmal in seinen Armen durch den Saal walzern zu können. Seine sonnigen Augen leuchteten, und er vertröstete mich: «Habe nur noch eine Weile Geduld, es kommt schon. Ich hoffe und freue mich sicherlich nicht weniger darauf als du.»
Nach einiger Zeit zeigte sich Carl seltener, und ich glaubte ihn mehr beschäftigt. Da fragte mich unerwartet einer seiner Freunde: «Ist denn nichts mehr zwischen euch zwei, dass Carl mit einem andern Fräulein den Männerchorball in der Tonhalle besuchte?» Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um meine Bestürzung nicht zu verraten und sagte: «Ja, schon länger nichts mehr; wussten Sie das nicht? Wen hatte er als Balljungfer?» Der Freund nannte den Namen einer Wirtstochter und bemerkte dazu: «Es ist ein hübsches Mädchen!» Todwund über das Unfassbare verschloss ich das Leid in mir. Aber der Stachel war tief in mein Herz gedrungen, und noch lange, lange Zeit fühlte ich seine Spitze. Hochmütig war ich nun wirklich geworden, der Verrat an der Liebe hatte mich verbittert und ich fühlte mich damals erhaben über eine Wirtstochter. Jede weitere Annäherung Carls wies ich stolz zurück. Ich liess es zu keiner Entschuldigung kommen; ich war zu sehr verletzt. In Wirklichkeit war es mehr das Gefühl innerer Schwäche, das mich so mit Stolz wappnete, dass ich sogar seine freundlichen Grüsse nicht mehr erwiderte. Später schämte ich mich meines kindischen Benehmens, obwohl ich es nicht eingestanden hätte.
Das war das Ende meiner ersten Liebe! Und doch hätte ich sie nicht missen mögen; denn sie hatte mir schöne, glückliche Stunden gebracht. So oft ich junge Menschenkinder in ihrer schämigen Verliebtheit sehe, wünsche ich ihnen in Gedanken von Herzen Glück. Vor wie manchem Hässlichen, vor wie schwerem Leid bewahrt ein zartes Liebesband junge Leute. Noch jetzt als alte Frau kann ich in Erinnerung an die Reinheit und Seligkeit erster Liebe nicht anders, als mich mit aller Wärme und Beredsamkeit wehren, wenn ich spöttisch oder abschätzig über zwei junge Menschenkinder reden höre.
Eines Tages wurde mein armer Vater aus der Fabrik heimgebracht; der dritte und schwerste Schlaganfall hatte ihn betroffen. Der Arzt zeigte wenig Hoffnung auf Genesung; er bereitete uns im Gegenteil auf eine lange, schwere Leidenszeit vor. Kleinere Schlaganfälle folgten nach. Bei dem einen stand ich zu Tode erschrocken dabei, als mein kräftiger Vater wie eine gefällte Eiche vor meine Füsse fiel.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.