Kitabı oku: «Stromlos», sayfa 2

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Um 17.52 Uhr kippte sie mitsamt dem Maschinenhaus um wie ein Spielzeug. Es war entsetzlich zu beobachten, wie das zwanzig Meter hohe Bauwerk dem Wasserdruck nachgab. Die neuen Pfähle hatten als Hebel gewirkt. Jetzt stürzte nicht nur die gewaltige Abflussmenge der Aare in die Tiefe, sondern der See selbst entleerte sich. Eine unvorstellbar mächtige Wasserwand eilte zügig dem nahen Kernkraftwerk zu. Bäume, Geschiebe und Schlick aus dem Seegrund eilten mit.

Das Kernkraftwerk war seit einigen Stunden abgestellt, aber wegen der Nachzerfallswärme der Brennelemente fiel immer noch eine Leistung von siebzig Megawatt an, die durch gepumptes Kühlwasser in die Aare abgeführt wurde. Die Pumpen bezogen den nötigen Strom aus dem allgemeinen Netz, weil das Werk selber nun nichts mehr produzierte.

Sekunden nach der Zerstörung der Staumauer erreichte die Flut die obere elektrische Unterstation am linken Aareufer und setzte sie unter Wasser. Zwei Minuten später wurde die untere Station ebenfalls überflutet. Damit war das Kernkraftwerk vom allgemeinen Stromnetz getrennt. Die mit Diesel betriebene Notstromanlage startete dank der Versorgung mit Notstrom-Batterien selbständig.

Um 17.55 Uhr spülte die Front der fünf, sechs Meter hohen Wasserwand über das Kernkraftwerk. Sie führte eine Flut an, die während Stunden anhielt.

Um 18.01 Uhr war das Maschinenhaus mit den Generatoren überflutet. Das Wasser stieg und stieg, drang in die Nebengebäude ein. Was dort gelagert wurde, war vorerst verloren.

Um 18.05 Uhr wurden die Notstromanlage und die Batterien überflutet, weil sie seinerzeit in einem tief gelegenen Raum installiert worden waren, und fielen aus. Die konventionellen Kühlsysteme arbeiteten nicht mehr.

Jetzt sprang das Spezielle Unabhängige System zur Abfuhr der Nachzerfallswärme, lustigerweise Susan genannt, an. Es musste mit seinen eigenen Dieselgeneratoren die Notkühlung gewährleisten. Tatsächlich funktionierte das System wie vorgesehen.

Um 18.23 Uhr schaltete sich Susan wieder ab. Ursache war vermutlich die Verstopfung der in der Aare positionierten Röhre, welche die Kühlwasserzufuhr ermöglichen sollte. Die Öffnungen in der Röhre waren mit Geschiebe, Schlick und Bäumen zugepackt.

Der Stromausfall war total. Auch so triviale Systeme wie elektrische Türöffner, Lifte, Beleuchtung oder die Auslesegeräte für die Dosimeter der Angestellten funktionierten nicht mehr. Die Computer stürzten ab, der Mailverkehr war verunmöglicht und die interne Kommunikation funktionierte nur noch mit den Mobiltelefonen oder indem man den Gesprächspartner aufsuchte. Die Leit- und Steuerungstechnik war jedoch dank ihrer eigenen Notstrombatterien noch funktionsfähig, jedenfalls für die nächsten Stunden.

Das Kernkraftwerk hätte jetzt dringend etwa zwei Megawatt Notstrom benötigt. Es war unmöglich, die dazu erforderlichen Dieselaggregate rasch an Ort und Stelle zu bringen. Alle Zufahrtsstrassen waren überflutet wie auch das Werksgelände. Der Druck im Reaktor wurde abgesenkt, so dass er mit Kühlwasser aus einem Hochreservoir versorgt werden konnte. Bei dieser heiklen Operation wurden zahlreiche Brennstabhüllen beschädigt, weil sie sich zwischenzeitlich erhitzt hatten und sich beim Kontakt mit dem kalten Wasser Risse bildeten. Radioaktivität trat in den Reaktor aus. Der Druck stieg gefährlich an, so dass der sich bildende Wasserdampf in das Reaktorgebäude abgelassen werden musste, welches dadurch radioaktiv verseucht wurde.

Um 1.34 Uhr nachts ereignete sich im Innern des Reaktorgebäudes eine Explosion, wahrscheinlich wegen der Bildung von Knallgas aus Wasserstoff, der aus dem beschädigten Reaktor entwich, und Luftsauerstoff. Teile des Dachs wurden weggesprengt, Radioaktivität trat in die Umgebung aus. Der Wind kam von Westen, allerdings war er nur schwach, aber er verfrachtete den radioaktiven Staub Richtung Bern.

In St. Gallen verfolgte Stadtpräsidentin Gisela Löpfe die Vorgänge in Mühleberg mit grösster Unruhe. War denn nicht der heutige Tag schrecklich genug gewesen? Zwei tote Mädchen wegen des Hochwassers. Dass die Feuerwehr den ganzen Nachmittag lang mit dem Auspumpen von überschwemmten Kellern beschäftigt gewesen war, hatte sie dagegen kaum zur Kenntnis genommen. Aber diese neue Katastrophe! Eine geborstene Staumauer und ein überschwemmtes, unkontrollierbares Kernkraftwerk. Eine radioaktive Wolke aus Mühleberg könnte ohne Weiteres bis nach St. Gallen reichen. Löpfe befragte das Internet und nahm zur Kenntnis, dass die Distanz bis zum Unfallort hundertsiebzig Kilometer betrug. So nahe wie jetzt hatte sie sich Bern noch nie gefühlt, pflegte sie doch sonst gerne das uralte Klischee, wonach die Ostschweiz für Bundesbern nicht existiere. Sie wünschte sich, dass die Welt hinter Winterthur, das heisst westlich davon, aufhören möge. Sollten Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung getroffen werden? Sie bestellte die Stadtregierung per Mail zu einer ausserordentlichen Sitzung am nächsten Vormittag – und nach kurzem Nachdenken gleich auch noch die sieben kantonalen Regierungsräte. Spätabends, aber immerhin noch vor Mitternacht, liess sie sich ins Bett fallen und träumte von diffus katastrophalen Ereignissen, gegen die sie ankämpfte, aber mit ihren Massnahmen immer zu spät kam; vielleicht waren es auch die falschen Massnahmen, jedenfalls warfen unidentifizierbare Bedrohungen ihre eiskalten Schatten über die Stadt und löschten alles Lebensglück aus.

Während der Nacht war es ausserordentlich schwierig, im Kernkraftwerk irgendwelche Notmassnahmen zu treffen, nicht zuletzt, weil die Anlage grösstenteils im Dunkeln lag. Nur noch wenige Notstrombatterien waren funktionsfähig, und manche Gebäude waren wegen der grossflächigen Überschwemmung kaum erreichbar. Sämtliche Untergeschosse waren überflutet. Mehrere Personen wurden vermisst. Nach der Explosion zeigten die noch verfügbaren Messgeräte steigende Strahlungswerte. Das beschädigte Reaktorgebäude durfte von ausgewählten Mitarbeitern nur kurzzeitig betreten werden, was aber ohnehin bald vom Schichtleiter verboten wurde, weil dort nichts auszurichten war. Herumliegende Trümmer hatten weitere Teile der Anlage in Mitleidenschaft gezogen, und sie erschwerten den Zugang zu kritischen Stellen. Die Devise hiess Kühlung, Kühlung, Kühlung, was aber nur einigermassen gelang, solange das Hochreservoir noch nicht leer war. Der Wasservorrat reichte bis zum Morgen, dann übernahmen Helikopter die Kühlung aus der Luft. Sie füllten ihre Tanks mit Wasser aus der nahe gelegenen Saane und entleerten sie durch die Löcher im Dach direkt in das Reaktorgebäude. Ein Pilot durfte nicht mehr als sechs Flüge durchführen, nachher wurde er vorsichtshalber ersetzt, damit seine Strahlenbelastung möglichst gering blieb.

Eine verlorene Stadt

Was während diesen Stunden und den folgenden Tagen in Mühleberg genau geschah, wird vielleicht nie vollständig aufgeklärt werden können. Jedenfalls trat am Nachmittag nach der Explosion plötzlich deutlich mehr Radioaktivität aus, was nur durch den Beginn einer Kernschmelze erklärbar war. Immerhin war die Notfallzone eins um das Werk bereits in der Nacht evakuiert worden; sie umfasste die Dörfer Mühleberg, Wileroltigen und Golaten sowie einige Weiler. Die Autobahn A1, welche mitten durch diese Zone führte, musste zwischen Frauenkappelen und Kerzers gesperrt werden.

Im Nachhinein gerieten die Schäden durch die Flutwelle in den Gebieten unterhalb von Mühleberg beinahe in Vergessenheit. Sie übertrafen alles Vorstellbare. Natürlich hatten die Bundesbehörden schon vor Jahrzehnten Szenarien für den Fall entwickelt, dass die Mühleberg-Staumauer brechen würde – wie auch für alle anderen grossen Talsperren in der Schweiz. Die Notfallpläne wurden alle paar Jahre aktualisiert und der Bevölkerungs- und Infrastrukturentwicklung angepasst. Doch dies waren Gedankenspiele, Berichte auf Papier und auf Servern. Jetzt waren diese Gedankenspiele lebendig geworden. Direkt an den Ufern des Wohlensees wohnten nur relativ wenige Menschen, die meisten davon in den Einfamilienhäusern zwischen Kappelenring und Talmatt, die übrigen in den verschiedenen Weilern. Sie alle hatten ihre Wohnungen und Häuser bereits am Morgen nach der Entstehung des Seftau-Damms verlassen müssen. Etwa um siebzehn Uhr dröhnten die Sirenen zwölfmal in den Gebieten unterhalb der Staumauer mit unheimlich tiefem Ton: Wasseralarm! Wer sich in Niederried, Kallnach, Müntschemier, ja auch in Aarberg, Lyss und Studen nicht schon während des Tages in Sicherheit gebracht hatte, musste es jetzt tun. Ein Chaos blieb erstaunlicherweise aus, was wohl dem Umstand zu verdanken war, dass die betroffenen Ortschaften nicht besonders gross waren. Trotzdem tötete die eine Stunde später anrollende Flut ein gutes dutzend Menschen, offenbar solche, die den Alarm nicht beachtet hatten oder sich nicht aus eigener Kraft aus der Gefahrenzone retten konnten. Die Wehranlagen bei Niederried stellten für die Wassermassen kein Hindernis dar, sie wurden einfach vollständig überflutet. Der Wohlensee war nach dem Durchgang der Flutwelle ein grässlich brauner, verschlammter, nahezu leerer Fjord, die Aare bis Niederried ein wütender Fluss, die Gegend weiter unten kahlgeschlagen. Ein See voller Trümmer erstreckte sich bis Aarberg, wo er sich mit den bereits vorher überfluteten Gebieten des Seelands vereinigte.

Nach der nächtlichen Explosion im Kernkraftwerk und den steigenden radioaktiven Strahlungswerten im Lauf des Nachmittags trafen sich in Bern am frühen Abend alle anwesenden Regierungsmitglieder von Bund und Kanton zu einer Katastrophensitzung: Bundespräsident Ludovic Dubied, die Bundesräte Roland Oberli, Patrick Vonarburg, die Bundesrätinnen Beatrice Fässler und Antonella Rezzonico. Bundesrat Thierry Favre befand sich zu Gesprächen in Pretoria, und Bundesrätin Marina Jauch leitete eine Wirtschaftsdelegation, die Indien besuchte. Im Schlepptau des bleichen Regierungsrats Thomas Berger trafen fünf seiner Kolleginnen und Kollegen ein, während Finanzdirektor Steuri seit einer knappen Woche in den Ferien weilte.

«Je pense que nous nous en tirons à bon compte.» – «Sind Sie wahnsinnig, Sie sind wohl der einzige, der das glaubt!» – «Ich will mich jedenfalls nicht verstrahlen lassen, ich gehe weg.» – «Sie Memme, es geht nicht um uns, es geht um den Schutz der Bevölkerung!» – «E della Svizzera.» – «Die Schweiz ist stark, sie hat noch jedes Unglück aus eigener Kraft bewältigt.» Das war keine geordnete Sitzung, denn jedermann hatte Angst, ob zugegeben oder nicht. Einige klammerten sich an Vertuschungsfantasien und Durchhalteparolen, andere sahen das Land in ein schwarzes Loch aus Strahlung, Chaos und wirtschaftlichem Niedergang stürzen. Die neusten Strahlenwerte, welche aus Mühleberg gemeldet wurden, waren hoch, aber nicht katastrophal; lokal wurden bis 0,005 Millisievert pro Stunde gemessen. «Il faut évacuer Berne!» – «Und Biel und Fribourg auch!» – «Jetzt sind Sie alle wahnsinnig, das ist doch gar nicht machbar. Und wenn die Leute ein bisschen Strahlung abbekommen, so wirkt sich das erst in vielen Jahren aus. Krebs hat es schon immer gegeben und wird es immer geben.» – «Die haben doch alle Jodtabletten erhalten, jetzt können sie diese mal ausprobieren.» Bundesrätin Rezzonico fiel beinahe in Ohnmacht und sagte nichts mehr. Die Stimmung wurde immer gereizter, gleichzeitig schlich sich blankes Entsetzen ein. Bundespräsident Dubied erschrak zutiefst ob dem Gedanken, dass in seinem Präsidialjahr die Stadt Bern, ein Unesco-Weltkulturjuwel aus grauem Sandstein, aufgegeben werden müsste, wie auch eine Reihe weiterer Städte. Dieses Szenario war nicht auszuhalten, und er vertagte die Sitzung auf den nächsten Morgen in der Hoffnung, dass sich die Situation in Mühleberg nach und nach beruhigen würde.

Bereits im Lauf des Tages hatten die ersten Einwohner von Bern und anderen Ortschaften beschlossen, ihre Wohnorte zu verlassen. Es waren die besonders ängstlichen oder besonders rationalen Menschen. Auch wer sonst mit Bus oder Postauto zur Arbeit pendelte und für längere Reisen den Zug benützte, machte jetzt das Auto flott oder mietete eines. Es wurde mit unentbehrlichen, wichtigen und sentimentalen Dingen vollgestopft, dann ging die Fahrt vielleicht zu entfernt wohnenden Verwandten, zu Freunden oder irgendwohin, ohne konkretes Ziel. Auch die besonders rationalen Menschen verhielten sich unter diesen Umständen irrational; die meisten fuhren in die von ihrem Wohnort aus entgegengesetzte Richtung in Bezug auf das Kraftwerk. Nur weg von hier!

Bundesrätin Rezzonico erlebte ein kochendes Wechselbad zwischen ihrem Pflichtgefühl dem Amt gegenüber und ihrer Angst. Schliesslich schrieb sie ein Mail an ihren Kollegen und Bundespräsidenten Dubied, reiste mit einem späten Zug nach Luzern und anderntags zu ihrer Familie ins Tessin.

Die nächste Katastrophensitzung im Bundeshaus begann bereits um sieben Uhr morgens. Es waren noch vier Bundesräte und sechs Regierungsräte anwesend, zudem war der Stadtpräsident von Bern, Claude Guggisberg, eingeladen oder eher herbeibefohlen worden. Die neusten Messwerte aus Mühleberg waren katastrophal: doppelt so hoch wie am Vortag, etwa 0,01 Millisievert pro Stunde und stetig zunehmend. Wahrscheinlich hatte auch im Abklingbecken der verbrauchten Brennelemente eine Kernschmelze begonnen. Es herrschte leichter Westwind – Bern war akut gefährdet. Im Gegensatz zum Vorabend prallten nicht mehr verschiedene Meinungen lautstark aufeinander. Die meisten Anwesenden äusserten sich nur, wenn sie von Bundespräsident Dubied dazu aufgefordert wurden. Entsprechend zäh entwickelte sich eine Diskussion, die nach einer guten Stunde, während der immer höhere Strahlenwerte aus Mühleberg gemeldet wurden, im bis dahin unvorstellbaren Entschluss gipfelte, drei Viertel der Notfallzone zwei um Mühleberg zu evakuieren. Eine halbe Million Menschen: die ganze Stadt Bern samt Köniz und Ostermundigen, südlich davon das Gebiet bis Schwarzenburg, im Norden Jegenstorf, Lyss und Biel wie auch alle Orte, die zwischen den genannten lagen, dazu Kerzers, Aarberg und die Dörfer rund um den Bielersee. Letzteres war notwendig, weil das Aarewasser zwischen Mühleberg und Hagneck radioaktiv verseucht war. Bald würde die Radioaktivität auch im Bielersee stark ansteigen, und das Pumpwerk, von dem die Stadt Biel den grössten Teil ihres Trinkwassers bezog, würde abgestellt werden müssen. Die Region Ins-Murten-Avenches und die Stadt Fribourg sollten nicht evakuiert werden, obwohl sie auch in der Zone zwei lagen, weil der Wind nicht in ihre Richtung wehte. Die dortige Bevölkerung sollte sich aber auf eine Evakuation vorbereiten.

Bundeskanzler Guy Pache informierte die Zivilschutzbehörden und anschliessend die Medien, während sich der Bundesrat in aller Eile darauf vorbereitete, den vor Jahren eigens für die Landesregierung erstellten riesigen Bunker in den Felsen hinter Kandersteg zu beziehen. Die Sommersession der eidgenössischen Räte, welche in der folgenden Woche hätte beginnen sollen, wurde abgesagt und der nächste Urnengang auf unbestimmte Zeit verschoben. Jetzt hatte das Land andere Probleme zu bewältigen, als über die drei zur Abstimmung stehenden Volksinitiativen zu befinden: «Die Schweiz den Schweizern», «Keine Chips für Haustiere» und «Für eine fixe Lohnobergrenze in allen Branchen».

Gerüchteweise vernahm man später, dass Bundesrat Favre und Bundesrätin Jauch von ihren Auslandreisen vorerst nicht in die Schweiz zurückgekehrt seien.

Die Evakuation der halben Million Menschen überforderte alle Beteiligten, die Behörden von Bundes- bis Gemeindeebene, die Zivilschützer und die sonstigen Rettungskräfte. Für eine solche Katastrophe lagen keine Pläne vor, wo die Leute fürs Erste unterkommen sollten und wie man sie später auf das unverstrahlte Gebiet der Schweiz verteilen würde. Verteidigungsminister Roland Oberli verfügte, dass sämtliche Rekruten, die zur Zeit in Ausbildung waren, für die Evakuation eingesetzt wurden, was das organisatorische Durcheinander nicht kleiner machte. Viele Leute weigerten sich, ihren Wohnort zu verlassen; sie erklärten sich höchstens bereit, nur in dringenden Fällen nach draussen zu gehen und ansonsten in ihren vier Wänden zu bleiben, im Übrigen hätten sie ja ihre Jodtabletten geschluckt. Besonders alte Menschen wollten bleiben, wo sie waren. Im allgemeinen Chaos wurden manche von ihnen durch die Helfer abgeschleppt, andere überliess man ihrem Schicksal.

Daniel Rüegsegger wollte nicht abgeschleppt werden. Einen Moment lang erwog er, zu Freunden ins Elsass zu reisen, aber die Vorstellung von hoffnungslos verstopften Strassen und bis zum Bersten gefüllten Zügen schreckte ihn ab. Und eigentlich hatte er sich doch vorgenommen, dieses Desaster, das durch ein Hochwasser ausgelöst worden war, zu dokumentieren. Als ein Trupp Zivilschützer sein Quartier nach vergessenen Personen absuchte, war es ein Einfaches, sich zu verstecken, denn diese Männer waren verängstigt, müde und nicht besonders eifrig. Daniel fotografierte, so viel er konnte. Obwohl es verboten war, sich in die Notfallzone eins zu begeben, radelte er eines Nachts nach Oberruntigen und knipste frühmorgens das verwüstete Gelände des Kernkraftwerks vom anderen Ufer aus. Einige Personen in weissen Ganzkörper-Schutzanzügen stapften dort drüben herum, und für einen Laien war völlig unklar, was sie taten. Dann nahm er von Wickacker aus einen Augenschein der Trümmer von Staumauer und Maschinenhaus, die in der Aare lagen. Sie führte jetzt endlich weniger Wasser, und die umspülten Betonblöcke, riesigen Rohrstücke und Maschinenteile ergaben ein Bild, das grotesk wirkte, tatsächlich aber unvorstellbar schrecklich war. Im steilen Waldgelände oberhalb des ehemaligen Wasserkraftwerks konnte er unbemerkt fotografieren. Auf dem Rückweg, den er so weit möglich durch den Wald nahm, sah er kaum Menschen, und glücklicherweise interessierte sich niemand für ihn. Die Häuser zwischen Talmatt und Kappelenring am ehemaligen See unten waren von der Flutwelle zerstört worden, aber dank der frühzeitigen Evakuation, vor dem Dammbruch, gab es hier keine Opfer zu beklagen. Daniel dokumentierte auch diesen Ort der Verwüstung. Die Kappelenbrücke war unpassierbar, so dass er zur Halenbrücke radelte, auf der er vor wenigen Tagen Zeuge der Katastrophe geworden war. Wieder stand er nachdenklich am Geländer, aber als unerwartet heftiger Regen aufkam, strampelte er durch den Bremgartenwald hinauf ins Länggassquartier und zu seiner Wohnung.

Dieser Regen bedeutete das endgültige Verdikt für Bern und die Rettung für die Gebiete östlich davon. In der Kraftwerksruine war nochmals viel Strahlung ausgetreten; gleichzeitig strich eine heftige Niederschlagszone vom Jura her über das Seeland, erreichte Mühleberg, zog weiter Richtung Bern und kam dort zum Stillstand. Sie brachte massiven radioaktiven Fallout mit sich. Vorher hatten die Behörden noch gehofft, dass die Stadt nach einer gründlichen Dekontamination wieder bewohnbar würde – wobei eigentlich niemand eine Ahnung hatte, wie man denn so eine Dekontamination praktisch durchführen könnte. Manche Fachleute hofften weiterhin, aber die Pessimisten behielten Recht: Wie sich später herausstellte, war Bern verstrahlt, auf Generationen hinaus. Alle Verkehrswege blieben unpassierbar, Münster und Bundeshaus würden zerfallen, die unersetzlichen, weltbedeutenden Schätze im Historischen Museum und in den Kunstmuseen ebenso. Dagegen blieben praktisch alle Gebiete ausserhalb der Zone zwei vom Fallout verschont.

Es war bekannt, dass sich in Bern noch zahlreiche Leute aufhielten, so wie Daniel. Vielleicht zehntausend Personen. Man organisierte sich, holte Lebensmittel in Worb oder Schönbühl, die Stromversorgung funktionierte noch, und das Trinkwasser war nicht verseucht. Nun wurde über die Medien dringendst dazu aufgerufen, die Stadt zu verlassen. Daniel dokumentierte, so viel er konnte, sprach mit allen, die er zufällig auf der Strasse traf und fragte sie nach ihren Beweggründen. Er knipste verlassene Wohnungen, herumstreunende Hunde, aufgebrochene Supermärkte, das leere Inselspital. Nach einer Woche reiste er mit seinem Auto zu den Freunden im Elsass. Dort arbeitete er hektisch an der Aufarbeitung des gesammelten Materials. Er schrieb seine Erlebnisse, Beobachtungen und Vermutungen detailliert nieder und plante, sie zusammen mit den Fotos als Buch zu veröffentlichen. Es gelang ihm nicht mehr. Nach einigen Monaten, im Januar des nächsten Jahres, wurde er krank. Er vermutete eine heftige Grippe, aber es war Leukämie. Offenbar eine Folge seines Ausflugs nach Mühleberg und seines viel zu langen Aufenthalts im radioaktiv kontaminierten Bern. Im April, elf Monate nach der Reaktorkatastrophe, starb er in Strassburg. Daniel Rüegsegger, Historiker, Forschungsgebiet Historische Hochwasser, dreiundfünfzig Jahre alt, Opfer eines Jahrtausendhochwassers und eines Schrottreaktors.

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