Kitabı oku: «Stromlos», sayfa 4
Gottlieb Wegelin trat dazu. Nachdem er am Morgen die Sechs-Uhr-Nachrichten verschlafen hatte, wollte er sich nach dem Frühstück gründlich informieren. Obwohl ihm bald einmal klar wurde, dass eigentlich niemand etwas Genaues wusste, konnte er sich nicht von Radio und Fernseher losreissen, bis der Stromausfall vollendete Tatsachen schaffte. Dieses Ereignis beunruhigte ihn aufs äusserste. Gestern das herzzerreissende Unglück in der Mülenenschlucht, in der Nacht die Explosion im Kernkraftwerk, heute der Stromausfall. Letzteres war natürlich vergleichsweise ein Klacks, kaum der Rede wert. Aber etwas in ihm kam ins Wanken. Da erschien ihm die Lebenslust der beiden Frauen wie ein Lichtblick. Er sprach gut Italienisch, wie auch Französisch und Englisch, dazu hatte er seinerzeit Latein und Griechisch gelernt. Dank ihm erfuhr nun Julia alle Details über Rosannas erzwungene Wartezeit im ascensore und über Elena Niculescus Fürsorglichkeit.
Schliesslich seufzte Gottlieb: «Ich denke, dieser Stromausfall hat mit dem kaputten Kernkraftwerk Mühleberg zu tun. Wenn es bloss nicht noch schlimmer kommt. Die Welt wird immer verrückter und wir immer dümmer.» Julia protestierte, sie habe noch nie einen so klugen Mann wie Gottlieb gesehen, und überhaupt gebe es hier so viele liebe Leute. Das werde sich bestimmt alles wieder einrenken. Das bezweifelte Gottlieb zwar, aber er meinte: «Man sollte etwas tun. Wenn ich nur wüsste was.» Etwas tun. Das war für die Frauen eine aufregende Perspektive, obwohl sie völlig vage war. «Wir helfen mit!», fanden sie einstimmig.
Nachdem sie im Fernsehen die abendliche Medienkonferenz in Bern angeschaut hatte, verkroch sich Regierungsrätin Yolanda Schubiger auf das gestylte Sofa in ihrer Wohnung und spielte mit der Fernbedienung. Sie redete sich ein, dass sie in Sachen Strahlung und Notfallpläne wirklich keine Ahnung haben müsse. Ihr Ding war das kantonale Budget, und das war aufreibend genug. Doch vielleicht würde sie schon morgen gezwungen sein, sich mit einer Reaktorruine zu beschäftigen anstatt mit roten und schwarzen Zahlen, eine höchst beunruhigende Vorstellung.
Stadtrat Yann Niederhauser konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Ereignisse des Tages erschienen ihm wie ein waberndes Gespinst, das seinen Kopf einnebelte. Er hatte heute so gut wie nichts gearbeitet: Zuerst war da die Sitzung ohne konkretes Ergebnis gewesen, dann der Stromausfall, dann ein irgendwie leerer Nachmittag, während dem er zwar mit dem einen oder anderen Mitarbeiter gesprochen, aber ausser seinen Wolken- und Sternenkritzeln nichts zustandegebracht hatte. Jetzt zeigten diese Krakeleien plötzlich radioaktive Wolken und strahlende Nuklide.
In der Wohngemeinschaft an der Engelgasse dozierte Luca Bänninger seine Sicht der, nun nicht gerade Weltlage, aber der lokalen Lage. Sein Publikum war nur mässig interessiert und bestand bloss aus zwei Personen. Tatjana Gordejewa telefonierte nämlich ausgiebig mit ihren Eltern in Jekaterinburg hinter dem Ural und beruhigte sie, dass dieses explodierte Kernkraftwerk wirklich nichts mit St. Gallen zu tun habe. Somit fläzten nur Kai-Uwe Wallner und Marvin Dörig in der Küche am grossen Esstisch herum. Kai-Uwe studierte Jura und meinte, nach den Semesterschlussprüfungen der kommenden Woche werde er ohnehin zu seiner Familie nach Lübeck reisen und den Sommer an der Ostsee verbringen. Marvin steckte in einer Lehre als Polymechaniker und war in der Freizeit leidenschaftlicher Fussballer. Beide mussten allerdings zugeben, dass Lucas Ideen nicht völlig aus der Luft gegriffen seien und dass es in jedem Fall sehr klug sei, viele Lebensmittel zu bunkern, denn Hunger hätten sie sowieso immer. Dass Tati all die Vorräte bezahlt hatte, war eine Selbstverständlichkeit, die kaum erwähnt wurde.
Nachts wälzte sich nicht nur Gisela Löpfe schlaflos in ihrem Bett hin und her, jetzt hatte es auch ihren Mann Tim erwischt. Er fühlte sich zwar als Murmeltier, aber als eines, das aufmerksam, vielleicht sogar ängstlich, seine Umwelt scannte und nach beunruhigenden Zeichen Ausschau hielt. «Was meinst du, sind diese Strahlenwerte schlimm?», fragte Gisela. «Jedenfalls nehmen sie zu, und dieser Fernseh-Experte von vorhin war nervös.» – «Das betrifft doch Bern, aber nicht uns?» – «Kommt auf den Wind an, und ob es regnen wird.» – «Es ist verdächtig, dass der Bundeskanzler in der Pressekonferenz nichts Substantielles gesagt hat. Wie sollen denn wir zu einem Entscheid kommen, wenn wir nichts wissen und der Bundesrat schweigt? Es ist nicht zum Aushalten!»
Bis anhin hatte Gisela das Amt der Stadtpräsidentin mit Schwung und Freude ausgeübt. Doch jetzt schrumpfte der Schwung unter einem unsichtbaren Strahlenbombardement zu einem armseligen Häufchen, und die Freude hatte sich bereits vor Stunden aus dem Staub gemacht.
Am nächsten Morgen benötigten viele Einwohner der Stadt keinen Wecker, um früh wach zu sein. Bei Gottlieb Wegelin war das normal, bei Gisela Löpfe eher weniger und bei Luca Bänninger überhaupt nicht. Aber sie alle lasen und hörten bereits vor sechs Uhr von nach wie vor steigenden Strahlenwerten in Mühleberg. Um sieben Uhr würde der Bundesrat zu seiner Sondersitzung zusammentreten. Gottlieb tigerte in seiner Wohnung von der Tür zum Fenster und wieder zurück und behielt dabei den Fernseher ständig im Auge. Gisela zwang sich nach einiger Zeit zum Aufstehen und vertrödelte eine Dreiviertelstunde im Bad bei eingeschaltetem Radio. Luca lag im Bett und starrte auf sein Smartphone. Endlich, um acht Uhr fünfzehn, trat Bundeskanzler Guy Pache wieder vor die Medien und verkündete in allen Landessprachen wie auch in Englisch – denn jetzt waren auch viele ausländische Journalisten anwesend: «Bern und der grösste Teil der Notfallzone zwei werden evakuiert. Die weitere Entwicklung in Mühleberg wird beobachtet. Der Bundesrat bezieht den Bunker in Kandersteg.» Die Journalisten bombardierten Pache mit unzähligen, zuweilen wirren Fragen, die er aber meist nicht beantworten konnte. Kein Mensch im ganzen Land, wirklich keiner, hatte in dieser Situation auch nur den Schimmer eines Durchblicks.
Als um neun Uhr die zweite Krisensitzung im St. Galler Rathaus begann, musste die Stadtpräsidentin nichts erklären. Allen Anwesenden waren die Beschlüsse des Bundesrats bekannt. Die allgemeine Ratlosigkeit war fast körperlich zu spüren; für Gisela fühlte sie sich zäh und gallertig an. Viele Fragen, wenige Antworten. «Wird sich die Strahlung bis in die Ostschweiz ausbreiten?» – «Müssen auch wir unsere Evakuationspläne aktivieren?» – «Warum haben wir keine Jodtabletten erhalten? Kann man die noch irgendwo bekommen?» – «Die werden durch die Armeeapotheke hergestellt. Wir könnten ja mal nachfragen.» – «Wo willst du denn fragen? In Bern haben sie jetzt andere Sorgen!» Stadträtin Uschi Neff bearbeitete ihr Tablet. «Es gibt einen Ableger der Armeeapotheke im Glarnerland, in Riedern.» Sie war beinahe froh, dass sie sich nach der Sitzung mit einem Anruf an diese Amtsstelle würde ablenken können. Doch so einfach kam sie als Direktorin Soziales und Sicherheit nicht davon. Gisela schreckte sie auf: «Wahrscheinlich werden wir Evakuierte aus der Region Bern aufnehmen müssen. Welche Möglichkeiten haben wir?» Der Tisch vor Uschi schien zu schwanken, doch dann kam ihr eine giftgrün strahlende Idee: «Es ist hundertmal besser, die neue Asylunterkunft in Winkeln für die Berner zu brauchen als für Syrer, Kameruner oder die Leute aus Tuvalu! Von mir aus dürfen sie gerne kommen.»
Dieser giftgrüne Vorschlag kroch unmittelbar auch ins Hirn von Regierungsrat Gallus Riedwyl, und er schaute mit grossen Augen zu Uschi Neff hinüber. Da war endlich jemand mit einer vernünftigen Idee! Schon malte er sich aus, wie man diese Strahlenflüchtlinge in den kantonalen Asylzentren unterbringen würde. Die jetzigen Bewohner würden ausquartiert, was nicht schwierig sein sollte; man müsste ihnen nur klarmachen, dass die Schweiz radioaktiv verstrahlt sei. Dann würden sie freiwillig das Weite suchen. Die einquartierten Berner könnten ab sofort zu den Aufräumarbeiten bei den gewaltigen Hochwasserschäden abkommandiert werden. Für sich selber war Riedwyl froh, dass er und seine Frau vor wenigen Jahren im Tirol eine Ferienwohnung gekauft hatten; sie würden sich wenn nötig gen Osten absetzen.
Auch heute war es wieder Regierungsrätin Yolanda Schubiger, die mit bestechender Logik das Signal zum Beenden der Sitzung gab. «Eigentlich wissen wir noch gar nicht viel, sondern bloss drei Fakten: Erstens breitet sich die Strahlung aus Mühleberg im Moment kaum über grössere Distanzen in unsere Richtung aus. Zweitens wird Bern evakuiert. Und drittens verkriecht sich der Bundesrat in seinen Bunker. Wir haben aus Bern keine Anweisungen erhalten, also gehe ich jetzt wieder in mein Büro!» Gisela Löpfe schluckte leer, nickte, klappte ihren Laptop zu und sagte leise: «Danke fürs Kommen, vorläufig warten wir ab.»
Unbeachtet von Stadt- und Kantonsregierung waren bereits am Vortag die ersten Berner Strahlenflüchtlinge in St. Gallen eingetroffen; nämlich die besonders ängstlichen oder besonders rationalen Menschen, welche hier Verwandte oder Freunde hatten. In den meisten Fällen hatten sie ihr Kommen telefonisch oder elektronisch angekündigt, aber es kam auch vor, dass es mit der Information nicht geklappt hatte und nun plötzlich Leute vor der Wohnungstür standen, die man eigentlich mochte, bloss nicht gerade jetzt. Aber sie kamen, spät abends, am frühen Morgen, zu jeder Stunde und heischten Unterkunft.
Julia Kehl erwachte an diesem Morgen mit einer Idee und war entschlossen, sie so rasch wie möglich in die Tat umzusetzen. Noch vor dem Frühstück kaufte sie im Spisertor-Supermarkt unten zwei Grabkerzen. Mit dem Lift fuhr sie ins Restaurantgeschoss hinauf und stellte die Kerzen mit Elan auf den Tisch an dem Rosanna Salarori sass. «Wir müssen zur Mülenenschlucht gehen und sie dort im Gedenken an die beiden Mädchen anzünden!» Rosanna war etwas begriffsstutzig, doch Gottlieb Wegelin kam vom Nebentisch dazu und erklärte ihr alles auf Italienisch. «Aber Blumen braucht es auch. Ich werde welche kaufen.» Sprach’s und enteilte. Nach einer halben Stunde stand er mit einem Strauss lila und gelber Freesien wieder da. Zu dritt wollten sie sich zur Unglücksstelle aufmachen, als Hans Bollhalder auftauchte und verwundert fragte, was das zu bedeuten habe. «Ihr habt eigentlich Recht», sagte er nach kurzem Nachdenken, «ich komme mit.» Auf dem Trottoir fiel der kleine Trauerzug auf, denn die vier benötigten eine ganze Weile, bis sie die kurze, aber ansteigende Strecke bis zur Talstation der Mühleggbahn bewältigt hatten. Dort fanden sie Fotos von Biljana und Noëmi, zahlreiche Kerzen und ein Blumenmeer vor. Die beiden Frauen stellten ihre Kerzen auf den Asphalt, Hans zündete sie an – eigentlich war es ihm peinlich, dass er Raucher war, aber jetzt konnte er sich ein wenig nützlich machen – und Gottlieb legte die Freesien dazu.
In Gedanken, vielleicht auch in ein Gebet versunken, standen sie alle eine Weile stumm da, dann wandten sie sich mit nassen Augen um und trippelten wieder dem Spisertor zu. Als sie am Supermarkt vorbeikamen, stürmte eine junge Frau heraus, gefolgt von einem ebenso jungen Mann, der beinahe mit Gottlieb zusammenstiess, dann aber die kleine Gesellschaft musterte. Beide trugen je zwei grosse Säcke Holzkohle unter den Armen. «Machen die ein Grillfest?», fragte Julia, den beiden nachblickend. Der offensichtliche Schwung dieser jungen Leute tat irgendwie gut – das Leben würde weitergehen.
Tati Gordejewa mühte sich mit den unhandlichen Säcken ab, während sie neben Luca Bänninger der Engelgasse zu stakste. «Wie ist es wohl, wenn man so alt ist?» – «Ich kann es mir auch nicht vorstellen, aber mir fiel auf, dass alle vier eine eigenartige Entschlossenheit ausstrahlten», sagte Luca. «Vielleicht kommt das von der Altersweisheit. Die müssen ja nichts mehr, sie dürfen nur noch. Eigentlich toll.»
Nach der Sitzung konnte sich Gisela Löpfe, wie bereits am Vortag, auf keine anstehende Arbeit konzentrieren, so dringend diese unter normalen Umständen auch gewesen wäre. Sie surfte im Internet und informierte sich auf allen möglichen Plattformen über Kernreaktoren, den speziellen Bautyp von Mühleberg und was die Kritiker bereits seit Langem daran gemeingefährlich gefunden hatten. Bei der NZZ war eine äusserst realistisch wirkende Visualisierung des Hangrutsches, des Seftau-Dammes und der Flutwelle über den Wohlensee zu finden. Greenpeace orientierte leicht verständlich über radioaktive Strahlen und ihre Wirkung, die verschiedenen Zerfallsarten, die Bedeutung von Becquerel, Gray und Sievert. Obwohl ihr die Zahlen vor den Augen tanzten, fand sie heraus, dass 0,01 Millisievert pro Stunde eine entsetzlich hohe Strahlenbelastung bedeuteten, das gab im Jahr fast hundert Millisievert, eindeutig zu viel für ein gesundes Leben. Aus Mühleberg wurden widersprüchliche Zahlen gemeldet: Offiziell war von weniger als 0,02 Millisievert pro Stunde die Rede, während Greenpeace behauptete, eine von ihren Aktivisten gesteuerte Drohne habe das Doppelte gemessen. Und Jodtabletten hatten irgendetwas mit der Schilddrüse zu tun und waren im Fall einer Reaktorkatastrophe sehr wichtig, denn damit konnten einige Strahlenschäden verhindert werden. Dazu gab es Bilder von der Evakuation der Berner Bevölkerung, die ziemlich chaotisch anzulaufen schien.
Der städtische Baudirektor Niklaus Wuillemin, der Leiter der Fachstelle Wasserbau Lorenz Thurnheer und ein Geologe besichtigten in den Hügeln südlich der Stadt die Situation an Wenigerweiher, Steinach und Rütiweiher. Angesichts der andauernden Starkniederschläge der letzten Tage war das Rückhaltevolumen der Weiher zu klein gewesen. Müsste man ihre Dämme erhöhen? Oder sollte man neben der Mülenenschlucht einen Entlastungsstollen für die Steinach bohren, die doch, wenn es darauf ankam, stärker als alles Menschenwerk wäre? Gab es überhaupt wirksame technische Vorkehrungen gegen alle Launen der Natur? Und falls ja, wären sie bezahlbar? Jedenfalls musste man sich überlegen, wie man in Zukunft bei Hochwasser den Wanderweg durch die Mülenenschlucht wirksam sperren könnte. Trotz aller Probleme schätzte es Thurnheer doch ungemein, dass er sich hier mit der übermächtigen Natur herumschlagen musste, oder besser, sich auf intelligente Weise mit ihr anfreunden konnte, und nicht für einen ausser Kontrolle geratenen Reaktor verantwortlich war.
Am Marktplatz fischte Olly Scherer eine Gratiszeitung aus einem Mülleimer und setzte sich damit in die Calatrava-Halle. Üblicherweise interessierten ihn Zeitungen nicht; er hatte Tag für Tag genug Arbeit mit «Hend S mer zwe Franke?» und dem Auftreiben von Stoff. Doch jetzt sprachen alle Leute von der Reaktorkatastrophe, und Olly betrachtete mit Neugier, die sich bald in Entsetzen wandelte, die Bilder aus Mühleberg. Bisher hatte er unter Bern immer bloss die Stadt kategorisiert, in der überrissen restriktive Gesetze gegen den Drogenkonsum geschmiedet wurden. Ein Passant, der beobachtete, wie intensiv der Junkie die Fotos von Reaktorgebäude, Wohlensee und Löschhelikoptern studierte, klärte ihn über die neuste Entwicklung auf: «Bern und die ganze Gegend dort wird jetzt evakuiert. Ist alles verseucht. Scheiss-Kernenergie!» Olly machte grosse Augen, vergass fürs Erste das Betteln und versuchte sich einen Reim auf die Ereignisse zu machen. Würden sie irgendwelche Konsequenzen auf sein Leben haben?
Nachmittags besuchte Luca Bänninger wieder Vorlesungen an der Universität. Aber weder europäische Wirtschaftspolitik noch bayessche Wahrscheinlichkeit konnten ihn fesseln, und er dachte über das Quartett der vier alten Leute vor dem Spisertor nach. Es war sehr unhöflich von ihm gewesen, den einen Mann beinahe zu überrennen. Und überhaupt nicht nett, dass er die Gruppe nachher begaffte, sich aber nicht entschuldigte.
Pfarrerin Lotte Mathys hatte eigentlich geplant, am kommenden Sonntag über etwas Frohes zu predigen, etwa über Vorbei ist der Winter, verrauscht der Regen. Auf der Flur erscheinen die Blumen, die Zeit zum Singen ist da, ein Vers aus dem Hohelied. Aber obwohl tatsächlich im Garten draussen die Tulpen blühten und sich die Spatzen lautstark um ein paar Krümel stritten, war sie selbst alles andere als froh, und sie blätterte in der Bibel weiter. Ratlos blieb sie bei den Klageliedern Jeremias’ hängen: Dahin ist unseres Herzens Freude, in Trauer gewandelt unser Reigen.
Marvin Dörigs Arbeitstag an der CNC-Maschine endete um siebzehn Uhr. Auf dem Heimweg an die Engelgasse kaufte er Käse, Salami und Büchsenravioli ein; Lucas Theorie von kommendem Unheil könnte sich vielleicht als zutreffend erweisen, und gestern Abend hatte er beim Essen tüchtig zugegriffen. Wenn er weiterhin so viel fooden würde, könnten die schönen Vorräte schneller zur Neige gehen als erwünscht. Somit lag es auch an ihm, dafür zu sorgen, dass sich in der gemeinsamen Wohnung immer genügend Esswaren stapelten.
Am nächsten Morgen erwachte Luca Bänninger nach schlechtem Schlaf. In den letzten drei Tagen waren Dinge passiert, die schwer einzuordnen waren. Er merkte, dass er ein bisschen Ordnung in seine Gedanken bringen könnte, wenn er in die Altersresidenz am Spisertor gehen würde, um sich beim unbekannten Mann zu entschuldigen. In den Vorlesungen würde er sich ohnehin kaum richtig konzentrieren können. So kaufte er eine Flasche Wein, obwohl er befürchtete, für einen Kenner könnte die Qualität des Inhalts ungenügend sein. Aber für etwas Teureres fehlte ihm das Geld, und überhaupt schien ihm eine Entschuldigung wichtiger zu sein als ein Geschenk.
Zögernd trat er in den gerundeten Bau, der den Spisertor-Platz dominiert. Offenbar musste er ein Stockwerk höher steigen. Tatsächlich lud dort ein Restaurant zum Verweilen ein, aber jetzt hatte er keine Ahnung, wie er einen Ansprechpartner finden könnte. Ratlos sah er sich um und machte ein paar Schritte in die Tiefe des Raumes. Doch – dort drüben sassen die zwei Frauen, die er gestern gesehen hatte. Etwas verlegen trat er zu ihnen. «Guten Tag, ich habe Sie gestern Vormittag da draussen gesehen, und zwei Männer waren auch dabei. Den einen habe ich in der Eile beinahe umgeschubst. Wissen Sie vielleicht, wie er heisst?» – «Das war Gottlieb Wegelin», sagte Julia Kehl und musterte Luca neugierig. «Er ist ziemlich erschrocken, aber es ist ja nichts passiert. Fragen Sie doch dort vorne nach ihm. Wegelin!»
Auch Gottlieb wurde neugierig, als ihm gemeldet wurde, im Restaurant warte ein Besucher auf ihn. Er prüfte den Sitz seiner Krawatte und fuhr mit dem Lift hinunter. Luca musste sich erklären: «Guten Tag, Herr Wegelin, es tut mir leid, gestern stiess ich Sie beinahe um, als ich da unten aus dem Supermarkt kam. Ich – möchte mich entschuldigen; bitte nehmen Sie diese Flasche als kleines Zeichen.» Julia und Rosanna Salarori trippelten herbei. «Sie sind doch derjenige von der Grillparty, oder was hatten Sie vor?» Gottlieb wurde noch neugieriger, so etwas war ihm noch kaum je passiert, und er bat Luca an einen Tisch. «Möchten Sie einen Kaffee?» Beinahe hätte Luca gesagt: «Nein, lieber ein Bier», merkte aber noch rechtzeitig, dass ein solcher Wunsch hier überhaupt nicht passte und nickte.
«Was hielten Sie denn da Unförmiges unter den Armen?», fragte Gottlieb. «Holzkohle zum Grillieren», antwortete Luca. «Aber so viel?» Luca rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er fürchtete, dass seine Theorie auf völliges Unverständnis stossen könnte und er sich damit lächerlich machen würde. Deshalb begnügte er sich mit der allgemeinen Feststellung, dass der Sommer vor der Tür stehe, dass er auf der Dachterrasse einen Grill mitbenützen dürfe und dass es immer eine gute Idee sei, benötigte Waren rechtzeitig einzukaufen. Gottliebs Miene wechselte zwischen Belustigung und Respekt. «Ich habe gemeint, heutzutage beziehe man alles just on time und halte keine Lager mehr. Sie verhalten sich ziemlich altmodisch!» – «Äh, ich studiere Volkswirtschaft, nicht Betriebswirtschaft. Hier an der Uni. Besondere Zeiten verlangen besonderes Verhalten.» – «Ich kann Ihnen versichern, die Zeiten waren noch nie gewöhnlich, das gab es mein ganzes Leben lang nicht. Und ich habe viel gesehen; zwar bin auch ich nicht Betriebswirtschafter, aber ich war Anwalt mit eigener Kanzlei und habe viele Firmen beraten.» Luca war verblüfft und fand seinen doch sehr alten Gesprächspartner höchst interessant. Ob er vielleicht von ihm etwas lernen könnte? Er fühlte, dass er ihm vertrauen konnte und legte los: «Aber dieser Reaktor ist doch eine Katastrophe. Und vorgestern hatten wir diesen Stromausfall, ich denke hier im Spisertor auch. Das könnte einen Zusammenhang haben, und mit Holzkohle könnte man sich warmes Essen zubereiten, wenn – wenn die Energieversorgung zusammenbrechen würde.» Jetzt war es an Gottlieb, verblüfft zu sein. Diesen Zusammenhang hatte er auch schon befürchtet.
Julia fand das alles zu kompliziert, die Befürchtungen ohnehin übertrieben. Rosanna verstand nicht besonders viel, und sie zog ihre Begleiterin auf die besonnte Terrasse. Als sie nach einer knappen Stunde wieder ins Restaurant zurückkamen, diskutierten die beiden Männer immer noch lebhaft: über die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen, volkswirtschaftliche Desaster, Rückversicherungen, den Frankenkurs und das peinliche Bild, das jetzt die Schweiz im Ausland abgab. Gottlieb seufzte und sagte: «An nescis, mi fili, quantilla prudentia mundus regatur?» Weil sein Gegenüber verständnislos guckte, lieferte er gleich die Übersetzung nach: «Weisst du nicht, mein Sohn, mit wie wenig Klugheit die Welt regiert wird?» Luca meinte: «Das wird wohl stimmen. Ich kenne nur Murphy’s Law: If anything can go wrong, it will. Und was mir besonders gefällt: Smile … tomorrow will be worse.»
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