Kitabı oku: «Stromlos», sayfa 3

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Vorgewarnt

Die St. Galler Stadtpräsidentin Gisela Löpfe erwachte bereits um halb sechs Uhr aus ihren Alpträumen. Ein Blick auf ihr Tablet liess sie erstarren: In Mühleberg hatte sich eine Explosion ereignet, Radioaktivität war ausgetreten. Konnte das möglich sein? Alle Behörden hatten seit jeher und auch neulich anlässlich der letzten Revision bestätigt, das Kernkraftwerk sei siiiicher. Ja, da waren ein paar Risse im Kernmantel, auch schon fast seit jeher, die hatte man aber irgendwie repariert. Einige ewige Pessimisten wiesen ebenfalls seit jeher darauf hin, dass die Notkühlung bei einem Hochwasser ausfallen könnte. Hatten sie jetzt Recht bekommen? Das war schlimmer als alles, was Gisela geträumt hatte. Ihr nächster Blick auf das Tablet galt der Wetterlage: schwacher Westwind. Jetzt kamen ihr diese hundertsiebzig Kilometer, die Entfernung zwischen Mühleberg und St. Gallen, noch viel kürzer vor als am Vorabend. Sie schrie auf, weckte ihren Mann, der noch wie ein Murmeltier schlief, und erklärte ihm, was passiert war und was dies für die Stadt bedeuten könnte. Tim Löpfe war ein ruhiger Typ; er meinte, man müsse doch vorerst auf genauere Informationen warten und es sei noch keine Suppe so heiss gegessen worden wie gekocht. Insgeheim war er froh, dass er sich nicht um das Stadtwohl kümmern musste, sondern seiner Arbeit als Anästhesiepfleger in der Klinik Stephanshorn nachgehen konnte.

Gisela tippte verstört auf ihrem Tablet herum, suchte und fand weitere Details zu den Ereignissen der letzten Nacht, doch sie waren widersprüchlich. Sie liess das Gerät fallen, stürzte ins Bad, verwechselte Shampoo und Body Lotion, war mit ihrer Frisur unzufrieden und versuchte, sich trotzdem adrett zu präsentieren. Der Spiegel zeigte ihr das Gesicht einer mittelalterlichen Frau, die ihre Angst nicht wegschminken konnte. Sie war eine Person, die ausgiebig frühstücken musste, aber heute schmeckten ihr die Brötchen, welche Tim bereits besorgt hatte, und die selbstgemachte Beerenkonfitüre nicht. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nahm sie nicht den Bus, stattdessen marschierte sie die knapp drei Kilometer bis zum Rathaus. Die Krisensitzung, die sie gestern Abend anberaumt hatte, würde um neun Uhr beginnen, und sie musste sich vorher irgendwie austoben. Am liebsten hätte sie bei den Street-Workout-Geräten vor dem Volksbad eine Reckstange gepackt, sich hängen lassen und mit den Beinen gestrampelt. Natürlich traute sie sich nicht, und umso wilder marschierte sie weiter – als ihr plötzlich klar wurde, dass sie, entsprechend der Längsausrichtung der Stadt, nach Südwesten wanderte, gegen Mühleberg zu. Doch inzwischen hatte sie das Rathaus erreicht. Sie stürmte in ihr Büro, ohne jemanden zu grüssen, was sie sonst immer mit natürlicher Freundlichkeit tat. Dort las sie die neusten Meldungen über die Reaktorkatastrophe, wühlte ziellos in den Papierbergen auf ihrem Schreibtisch, wollte einen Bericht zur demographischen Entwicklung der Stadt lesen, konnte sich nicht konzentrieren, trank einen Kaffee und einen zweiten. Sie rief im Computer wieder die Bilder aus Mühleberg auf, worauf jetzt die Helikopter zu sehen waren, welche Wasser in das Reaktorgebäude leerten. Es sah aus, als ob man mit gefüllten Fingerhüten einen überhitzten Kochtopf kühlen wollte. Dann ging sie ins Sitzungszimmer.

Kollege Yann Niederhauser sass bereits da und starrte in seinen Laptop, wo ebenfalls die Helikopter kreisten. Kollegin Uschi Neff von der Direktion Soziales und Sicherheit steckte den Kopf in den Raum und sagte, sie habe eine Besprechung wegen der geplanten Asylunterkunft in Winkeln, die sie nicht absagen könne. Löpfe fuhr wütend hoch, was ein so starkes Signal war, dass Neff ohne weiteren Protest an ihren Platz schlich. Kollege Niklaus Wuillemin tauchte auf, fahrig und gestresst. Kollege Franz Amberg tauchte nicht auf. Yolanda Schubiger und Gallus Riedwyl von der Kantonsregierung stolperten ins Sitzungszimmer und sagten, die übrigen fünf Regierungsräte hätten keine Zeit. Als auch Stadtschreiberin Diana Steingruber eingetroffen war, mochte Löpfe nicht länger auf Amberg warten. Sie musste ihre Nervosität überspielen, indem sie die Diskussion eröffnete.

«In Mühleberg ist das Kernkraftwerk explodiert», sagte sie ohne einleitenden Small Talk. «Uschi, was müssen wir tun?» – «Soviel ich weiss, war es dort nur nötig, die Zone eins zu evakuieren, etwa dreieinhalbtausend Personen. Für uns besteht überhaupt keine Gefahr.» – «Aber was müssten wir tun, wenn sich die Situation verschlimmern sollte?» Stadträtin Neff war erst seit Kurzem im Amt und hatte sich noch nie so etwas überlegt. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass jemals ein Chefbeamter dieses Thema erwähnt hätte. «Ich weiss nicht, ist das nicht Bundessache?» Wuillemin warf ein, das sei bestimmt Bundessache, er als Planungs- und Baudirektor müsse jedenfalls diesbezüglich keine Anordnungen treffen. Stadtschreiberin Steingruber meldete Zweifel an, auch wenn sie Wuillemin nicht direkt widersprach. Niederhauser sagte nichts, hatte den Kopf gesenkt und malte Wolken und Sterne auf seinen Notizblock. Das war eigenartig, wie er sich selber eingestehen musste, denn als Direktor der Technischen Betriebe skizzierte er in Besprechungen manchmal Rohrleitungen und Bohrlöcher, Dinge in der Erde, aber niemals Dinge am Himmel. Löpfe fragte die beiden Regierungsräte nach ihrer Meinung. «Ich denke tatsächlich, dass der Bundesrat oder das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat etwaige Massnahmen wie ein Verbot, sich im Freien aufzuhalten, oder gar Evakuierungen anordnen müsste», brummelte Riedwyl, der Gesundheitsdirektor; es klang eher wie ein Selbstgespräch und daher nicht besonders überzeugend. Die Kantonsregierung musste sich dringend um die Hochwasserschäden im Rheintal und St. Galler Oberland kümmern, da hatte sie für eine Reaktorkatastrophe keine freie Kapazität. Schubiger gab freimütig zu, dass sie keine Ahnung habe, aber als Finanzdirektorin auch keine Ahnung haben müsse. Im Übrigen sei sie dagegen, die Bevölkerung durch irgendwelche Verlautbarungen zu verunsichern. Stadtpräsidentin Löpfe konsultierte die Newsticker auf ihrem Laptop. Die Lage in Mühleberg schien unverändert zu sein. Weil auch sie nicht wusste, was man tun sollte und weil die Argumente von Regierungsrätin Schubiger etwas Überzeugendes hatten, wie auch Schubiger persönlich immer überzeugend wirkte, schloss sie die Sitzung. Es war erst halb zehn vormittags, aber sie war erschöpft und fühlte sich als Versagerin.

In Gottlieb Wegelins Alterswohnung lief der Fernseher die ganze Nacht über. Er wollte nichts verpassen und hatte vor, die Ereignisse vom Bett aus zu verfolgen, ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten. Aber der Tag war traumatisierend gewesen, und die Müdigkeit übermannte ihn rasch. So verpasste er die Meldung kurz vor zwei Uhr nachts, dass sich im Kernkraftwerk Mühleberg eine Explosion ereignet habe. Es war eigentlich nicht notwendig, sie in Echtzeit mitzubekommen, weil niemand etwas Genaueres wusste. Die Situation war ähnlich wie beim Seftau-Damm: Fachleute sollten den Fernsehreportern Auskunft geben, dabei konnten sie nichts anderes, als blosse Vermutungen anstellen. Einige stellten ihre Mutmassungen als Expertise dar, andere wollten sich nicht konkret äussern, und die dritten prophezeiten das Schlimmste. Wer diese Nacht wirklich wach vor dem Fernseher verbrachte, wurde Zeuge eines sich fortwährend drehenden Karussells halbstündlich wiederholter Meinungen mit einem zumindest stark beschädigten Reaktor im Zentrum. Vielleicht drohte sogar ein GAU, und der Reaktor würde in nuklearer Glut schmelzen.

Als Gottlieb erwachte, war es bereits Viertel vor sieben. Auch er hatte wirr geträumt und musste sich zuerst orientieren. Sein Blick fiel auf das Fenster, dann merkte er, dass der Fernseher noch eingeschaltet war und dass jemand etwas von einer Explosion sagte. Es war ein aufgeregter Reporter, der die Ereignisse der Nacht zusammenfasste. Dann zoomte die Kamera auf das Gelände des Kernkraftwerks, das nach wie vor überschwemmt war. Schaute man genau hin, so erkannte man, dass einige Betontrümmer herumlagen und das Dach des Reaktorgebäudes beschädigt war. Aber viel gab es nicht zu sehen, zudem nichts Deutliches, weil die Kamerateams vom Geschehen offenbar ziemlich weit entfernt waren. Gottlieb sortierte seine Knochen, die morgens oft schmerzten, und stand auf.

Am Frühstückstisch beteiligten sich die Stillen auch heute nicht an den Gesprächen. Für einmal war Gottlieb nicht der Bestinformierte, was aber belanglos war. Auch wer schon seit fünf Uhr Morgens die Neuigkeiten verfolgt hatte, konnte bloss berichten, dass es in Mühleberg eine Explosion gegeben habe, dass man über das Ausmass des Unglücks noch nicht viel wisse und erst recht nichts über die möglichen Folgen. «Ische e Catastrofe», sagte Pensionärin Rosanna Salarori kopfschüttelnd. Hans Bollhalder, der verhinderte Spanien-Auswanderer, fragte sich im Stillen, ob er zusammen mit Rosanna in südliche Gefilde abhauen sollte. Schnell verscheuchte er dieses Hirngespinst, denn sie war noch weniger fit als er, also würde er doch in diesem Kaff verrecken. Seit letzter Nacht bestand sogar die Möglichkeit des Todes durch radioaktive Strahlung. Was eigentlich nicht schlimmer war als alle anderen Möglichkeiten. Julia Kehl freute sich an diesem Morgen vor allem über den herrlichen Sonnenschein, der ihre Lebensgeister anfeuerte. Sie war während ihres langen Lebens vielleicht dreimal in Bern gewesen, und heute Morgen sah sie auf der kleinen Karte, die im Skandalblatt abgedruckt war, dass Mühleberg noch weiter entfernt war als diese Stadt. «Das kann uns doch nichts anhaben», meinte sie, «das ist so weit weg. Das Hochwasser ist jetzt vorbei, uns geht es gut, und das wird auch so bleiben.»

Rosanna blieb heute länger als üblich im Restaurant unten sitzen und sinnierte über die Catastrofe. Etwas überrascht stellte sie fest, dass diese nicht an allen Tischen das grosse Thema war; manche sprachen wie immer über das Wetter oder ihre Enkelkinder. Erst nach zehn Uhr trippelte sie in den Lift und wählte die dritte Etage. Gemächlich fuhr sie zusammen mit einer rumänischen Reinigungsangestellten nach oben, als die Kabine stecken blieb. Die beiden Frauen schauten sich an. Rosanna hätte am liebsten lautstark reklamiert, nun aber nahm sie zum ersten Mal wahr, wie die Putzfrau hiess: Sie trug ein Namensschild «Elena Niculescu». Elena war die Ruhe selbst und nickte Rosanna freundlich zu, dann drückte sie auf die Notruf-Taste und sprach ins Mikrophon. Rasche Hilfe wurde versprochen, was aber zu grosse Hoffnungen weckte, denn diese Hilfe nahte erst nach einer Dreiviertelstunde. Zufälligerweise waren heute gleich beide Mitarbeiter der Altersresidenz, die Liftevakuationen durchführen konnten, nicht anwesend, und man musste auf externe Hilfe warten. Es war gegen elf Uhr, als Aufzugsmonteur Milos Bekcic am Spisertor eintraf – die automatische Eingangstüre funktionierte nicht, und eine Mitarbeiterin öffnete ihm eine Nebentüre. Bekcic hatte bereits in vier anderen Gebäuden Personen aus steckengebliebenen Liften befreit. Nun stieg er energisch die sieben Stockwerke ins Dachgeschoss hinauf und knipste seine Stirnlampe an. Er schloss die Türe zum Serviceraum auf, schaltete den Hauptschalter aus, trat an die Maschine, entfernte den Wellenschutz und steckte das Handrad auf die Welle, kippte den Bremslüfthebel und drehte am Rad. Dadurch senkte sich die Liftkabine langsam zur nächstgelegenen Etage, deren Halteposition Bekcic an Markierungen auf den Drahtseilen erkannte. Er rannte treppab, öffnete die Lifttüre mit einem Spezialschlüssel und befreite Rosanna und Elena. Die Putzfrau hatte all ihren Charme aufwenden müssen, um die temperamentvolle Pensionärin zu beruhigen. Nun fiel Rosanna dem Monteur vor Begeisterung um den Hals: «Grazie infinite!» Dieser, ein jovialer Mann, lachte und tätschelte ihr die Wange, aber für einen Schwatz fehlte die Zeit. Er musste sich noch um einige weitere Aufzüge mit eingeschlossenen Personen im Gebäudekomplex kümmern und eilte fort. Rosanna stellte fest, dass sie sich nicht auf dem richtigen Stockwerk befand und wandte sich seufzend zur Treppe. Elena erkannte ihr Problem, nahm sie beim Arm und führte sie umsichtig auf die obere Etage und in ihre Wohnung. Rosanna sank in ihren bequemen Sessel am Fenster mit Panoramasicht auf den Spisertor-Platz mit dem Kreisel, den Gleisen der Trogenerbahn und den vielen Fussgängerstreifen. Es war ungewöhnlich ruhig dort unten. Es fuhren weniger Autos herum als sonst, und es tauchte nie eine Bahnkomposition auf. Die Anzeige des Parkleitsystems war erloschen.

Stadtpräsidentin Gisela Löpfe war nach der Sitzung in ihr Büro zurückgekehrt, wo sie versuchte, die aktuellen Tageszeitungen durchzublättern. Alle zeigten in grossen Luftaufnahmen, wie die Flut aus dem Wohlensee das Kernkraftwerk erreichte und überschwemmte. Des Weiteren gab es ein nichtssagendes Interview mit dessen Leiterin Claudine Rochat zu lesen. Doch die Explosionskatastrophe hatte sich erst nach Redaktionsschluss der Blätter ereignet und war deshalb nicht dokumentiert. Allerdings konnte sich Gisela jetzt auf gar nichts mehr konzentrieren. Sie schob die Zeitungen beiseite, so dass sie auf den Boden fielen, und ging hinunter in die Apotheke neben dem Rathaus. Sie hatte keine Ahnung, welches Präparat sie beruhigen könnte: ein Tee, ein Duftöl, ein pflanzliches Medikament? Kaum hatte sie begonnen, ihr Problem der Pharmaassistentin zu schildern, fiel das Licht aus. Die Kasse gab einen letzten Pieps von sich und versagte den Dienst, so dass ein Kunde nicht bezahlen konnte und mit seinen Blutdruck-Tabletten, Augentropfen und einer Zahnpasta in der Hand ratlos dastand. Einer Kundin entfuhr der gequälte Ausruf «Da gits doch nöd!», als sie gewahrte, dass die automatische Eingangstüre jeglichen Automatismus verloren hatte und sich keinen Millimeter mehr bewegte. Die Inhaberin der Apotheke, die goldbebrillte Frau Dr. Angelika Rottmann, tauchte aus dem düsteren Hintergrund auf und versuchte, Gelassenheit zu verbreiten, aber nach wenigen Minuten gab sie es auf, öffnete die Glastüre mit einem Werkzeug und entliess die Kundschaft. Der Blutdruck-Mann musste nicht bezahlen, und Gisela stakste mit leeren Händen zurück zum Rathaus. Auch dort liess sich die Eingangstüre durch die Passanten nicht beeindrucken, so dass ihr ein Mitarbeiter des Empfangs öffnen musste. Verstört wandte sie sich zur Treppe und schlurfte die Stufen hoch. Vor zwei Stunden war sie noch hinaufgerannt, jetzt hatte sie nicht die geringste Eile. Was sollte sie tun?

Sämtliche Computer streikten. Das Smartphone streikte; entweder waren die Antennen ausgefallen oder das Netz war völlig überlastet. Im Rathaus war vor einiger Zeit auf digitale Telefonie umgestellt worden, und ohne Computer funktionierte nichts. Gisela hatte im Büro kein batteriebetriebenes Radio, und sie mochte nicht suchen gehen, ob irgendwo eines zu finden wäre und ob es funktionieren würde. Sie schaute auf den Bahnhofplatz hinunter, konnte sich aber später nicht erinnern, was da zu sehen gewesen war. Jedenfalls verharrten die Uhren am Postturm auf zehn Uhr vier. Die Stille im Büro und draussen war beängstigend. Gisela warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Gleich war es elf, aber von den Kirchen waren weder Stundenschläge noch Geläute zu hören. Sankt Mangen, Sankt Laurenzen und der Dom blieben stumm wie alle anderen Kirchen der Stadt. Das Elf-Uhr-Läuten war für die meisten Einwohner so selbstverständlich, dass sie es üblicherweise kaum wahrnahmen. Jetzt fehlte es plötzlich.

Der Stromausfall dauerte fast zwei Stunden lang, nämlich bis kurz vor Mittag, und betraf praktisch das ganze Stadtgebiet vom Neudorf bis zur Sitter. Tausendfacher Ärger und Stress waren die Folge, von einigen Verkehrsunfällen mit Blechschaden, Computerabstürzen und mehr als nur gereizter Stimmung in den schummrig beleuchteten Einkaufszentren ganz zu schweigen. Aber einige Menschen wurden mit einem unerwarteten Moment von Spass oder Glück beschenkt:

Ein kleiner Bub, der mit seinem Grossvater durch die Steinachstrasse spazierte, staunte ob all der Trolleybusse, die mit ihrem Reserve-Dieselantrieb langsam und röhrend ins Depot fuhren und schaute ihnen verzückt nach.

Ein junger Mann, der an einem Tischchen vor seinem Lieblingscafé einen Espresso geniessen wollte, wurde belehrt, dass zur Zeit keine einzige Kaffeemaschine funktioniere. Stattdessen erhielt er ein strahlendes Lächeln von der Serviererin. Erst jetzt fiel ihm auf, wie hübsch diese Frau war, und er nahm sich vor, sie gelegentlich zum Essen einzuladen.

Eine Bäuerin auf dem Marktplatz schätzte sich glücklich, dass sie bereits vor dem Mittag alle ihre Karotten, Rispentomaten, Broccoli und Frühkartoffeln verkauft hatte, dazu das Holzofenbrot, die Konfitüren und die eingelegten Tomaten. Sonst wurde es immer zwei Uhr nachmittags oder noch später, bis die Ware weg war. Manche Kundinnen erzählten ihr etwas von: «Im Coop geht nichts mehr, zum Glück gibt es den Markt.»

Wer gerade zitternd im Wartezimmer eines Zahnarztes auf die Behandlung wartete, wurde nach einiger Zeit nach Hause geschickt. Dumm war nur, dass fast überall die Terminbücher von Hand geführt wurden, so dass man mit einem kleinen Kärtchen in der Hand durch ein düsteres Treppenhaus auf die Strasse hinunter stolperte und bereits dem Ersatztermin entgegenzitterte.

Nach einer Ewigkeit, wie es den meisten schien, war der Spuk vorbei. Im Spisertor fanden sich nach und nach die Bewohner zum Mittagessen ein. Küchenchef Rolf Beer entschuldigte sich persönlich an jedem Tisch: «Wir haben belegte Brote und Salat vorbereitet, und weil wir seit einer halben Stunde wieder Strom haben, können wir Ihnen auch eine Suppe offerieren. Mehr war leider nicht möglich!» Die am Morgen vorbereiteten Kartoffelgratins musste Beer seufzend in den Bio-Abfall werfen. Immerhin wurde daraus neuerdings Kompogas produziert. Wie stets reklamierten einige Gäste und mochten die Improvisationskunst der Küchenmannschaft nicht würdigen. Andere dankten und hofften, dass so etwas nie wieder geschehe. Wer sich nach dem Essen noch einen Kaffee gönnte, hatte den unerwarteten Eindruck, der Gaumen werde auf so liebliche Weise gekitzelt wie schon lange nicht mehr.

Im Rathaus konnte Gisela Löpfe den Computer wieder hochfahren. Es dauerte ein bisschen, bis das Netz funktionierte, aber eigentlich hätte sie lieber nicht gesehen, was es an Neuigkeiten aus Mühleberg zu berichten gab. Die Strahlenwerte stiegen. Die Experten vor den Kameras sagten in gewundenen Sätzen nicht viel mehr, als dass man nicht wisse, was im Reaktor zurzeit geschehe. Die Kommentare waren etwa so viel wert wie Zinngiessen und Kaffeesatzlesen. Gisela holte sich am Bahnhofgrill eine Bratwurst, kehrte in ihr Büro zurück und konnte trotz der fehlenden echten Informationen den Blick nicht vom Bildschirm lösen. Sie hatte das Gefühl, dass die Ratlosigkeit, mit der sie am Vormittag die Sitzung beendet hatte, zu einem Monster anwuchs, das sich in ihr Gehirn setzte und dort alle rationalen Gedanken auffrass.

Tim Löpfe hatte vom Stromausfall nichts bemerkt. In der Klinik Stephanshorn war er zu einer Schlüsselloch-Operation der Gallenblase eingeteilt worden. Es trat eine unerwartete Komplikation auf, deshalb dauerte der Eingriff länger als geplant. Bei der Patientin lag eine kleine Arterie anders als normal, es kam zu einer Blutung, und das Gefäss musste genäht werden. Die beiden Chirurgen arbeiteten hochkonzentriert. Jede Person des Teams gab ihr Bestes, und es wurde nur das nötigste gesprochen. Irgendwann schien es Tim, als würden die Anzeigen auf den verschiedenen Monitoren einen Augenblick lang verschwinden, aber das Ereignis war so kurz, dass er es gleich wieder vergass. Die Notstromaggregate waren zuverlässig angesprungen, schnurrten im Untergeschoss wie friedliche Stubenkatzen und lieferten den Operationssälen, der Intensivstation, der Neonatologie und der ganzen kritischen Infrastruktur die benötigte Energie. Dank dem Können und der Professionalität aller Beteiligten führte die Operation zu einem vollen Erfolg. Tim erfuhr erst während der Rückkehr in sein Büro vom Stromausfall, der glücklicherweise vorbei, aber auf den Korridoren das dominierende Gesprächsthema war. Auch die Küche war mit Notstrom versorgt worden, so dass im Restaurant das ganze Verpflegungsangebot erhältlich war. Tim gönnte sich eine dicke, goldene Omelette mit Zwiebeln, Kapern und viel Tomatensauce.

An der Universität auf dem Rosenberg oben stand das Ende des Frühjahrssemesters bevor. Professorinnen und Professoren bemühten sich, die letzte Vorlesungsstunde ihres jeweiligen Kurses als zusammenfassenden Höhepunkt zu gestalten, was nicht allen gleich gut gelang. Als während der Zehn-Uhr-Pause der Strom ausfiel, merkten das nicht alle Studierenden sofort, weil sich viele nach draussen begeben hatten, um die lange vermisste Sonne zu geniessen. Wer aber eine Toilette aufgesucht hatte, tappte in der Dunkelheit, je nach Temperament fluchend oder verängstigt, nach dem Ausgang. Gegen zehn Uhr fünfzehn trollte man sich durch Korridore und Treppen wieder den Hörsälen zu, doch dieses Mal erschienen die vertrauten Wege wie düstere Pfade durch ein Betonlabyrinth, das von Notlampen spärlich beleuchtet war. In den Unterrichtsräumen mit Fenstern bemühten sich manche Dozenten mit aller rhetorischen Kraft, die wichtigsten Punkte der zu Ende gehenden Vorlesung in Erinnerung zu rufen und plastisch darzustellen. Das war eine Herausforderung, die nur wenigen wirklich gelang, denn für ein Mal konnten keine Computer, Beamer oder Tageslichtprojektoren benützt werden. Einige Könner alter Schule besannen sich auf frühere Zeiten und zeichneten ihre Grafiken mit bunten Kreiden und wahrem Feuereifer auf die Wandtafel. Wer nicht zu den Könnern gehörte – und zu jung für viel Wandtafelerfahrung war – brabbelte vor sich hin oder liess die Stunde ausfallen. In den Räumen ohne Tageslicht verzichtete man ohnehin auf die Vorlesungen.

Luca Bänninger sass in der Makroökonomie-Vorlesung eines Brabblers. Bald einmal schweiften seine Gedanken ab. In Mühleberg war also letzte Nacht das Kernkraftwerk explodiert. Und jetzt war die Universität von einem Stromausfall heimgesucht worden, vielleicht war die ganze Stadt oder ein noch grösseres Gebiet betroffen. Sein Smartphone gab ihm darüber keine Auskunft wie auch nicht über andere Probleme, denn das Netz schien zu streiken. Selber denken blieb die einzige Option, und Luca dachte über seine private Mikroökonomie nach. Wie lange würde der Stromausfall dauern? Würde der Mühleberg-Unfall Konsequenzen für St. Gallen haben? Was musste er tun, um in einem möglichen Strudel bedrohlicher Ereignisse nicht unterzugehen? Alle Szenarien, die ihm in den Sinn kamen, benötigten Geld, und davon besass er nicht allzu viel. Im Übrigen ging es bei der Mikroökonomie nicht nur um ihn alleine, sondern zumindest um die vierköpfige Wohngemeinschaft, in der er lebte. Tatjana Gordejewa studierte an der Uni Internationale Beziehungen, und sie stammte aus einer neureichen Familie. Sie verbrachte viel Zeit mit Shoppen und schleppte beinahe wöchentlich neue Schuhe oder Designer-Handtaschen in die Wohnung. Luca hatte seinen Plan noch vor der Elf-Uhr-Pause fertig: Er musste sich mit Tatjana verbünden und sie erst einmal auf dem Campus finden. Es war ungewohnt, nach einer Person Ausschau zu halten, ohne das Smartphone benützen zu können. Aber Tati stand wie oft vor dem Hauptgebäude bei Hans Arps Schalenbaum, der ihr ausnehmend gut gefiel. Luca war ziemlich aufgedreht und kam direkt zur Sache.

«Hallo Tati, vergiss die Vorlesungen, wir haben jetzt Wichtigeres zu tun! Hast du die Kreditkarte dabei? Komm, wir müssen einkaufen gehen.» Sie hatte tatsächlich keine Lust, weiterhin einer Wandtafel-Vorlesung zu folgen, und trottete neben Luca durch Dufour- und Splügenstrasse zum Migros-Markt St. Fiden. Unterwegs legte er ihr seine Sicht der Dinge und denkbaren Katastrophen dar. Tati fand alles in höchstem Mass nachvollziehbar und schätzte sich glücklich, dass sie in der gleichen Wohngemeinschaft wie dieser so weitsichtige Kumpel lebte. Unten angekommen, stellten die beiden fest, dass auch der Supermarkt vom Stromausfall betroffen war; vor dem geschlossenen Eingang standen einige Security-Typen und hielten die Neugierigen auf Distanz. Luca und Tati wandten sich zu einem Kiosk, wo man einkaufen konnte, obwohl weder Kasse noch Licht funktionierten. Die Verkäuferin reichte ihnen bereitwillig zwei Energy-Wings-Büchsen und meinte bloss, das seien so ungefähr die letzten, die sie noch am Lager habe, denn die Firma im Rheintal könne wegen der Hochwasserschäden zurzeit nicht produzieren. Tati wies auf eine Bank, auf der sie sich niederliessen und eine Einkaufsliste zu schreiben begannen.

Kurz vor zwölf erwachte die Stadt aus der ungewohnten Stille. Offenbar gab es wieder Strom. Die Sicherheitsmänner lümmelten vor der Migros noch eine Weile lang herum, dann durften die Kaufwilligen den Konsumtempel betreten. Luca und Tati schnappten sich beide einen grossen Einkaufswagen und rafften zusammen, was sie notiert hatten:

30 Liter Wasser ohne Kohlensäure und ein paar Sixpack Bier.

Teigwaren in allen Varianten, Glasnudeln, Kartoffelstock, Rösti, Mais, Hirse, Reis – ebenfalls in allen Varianten – und Linsen.

Stapelweise Konserven: Spargeln, Erbsen-Karotten, Bohnen, Ravioli, was immer sie fanden, auch Fleisch in Büchsen.

Salz, Öl, Fett, Bratbutter, Saucen und Suppen, Trockenfleisch und Landjäger.

Eingelegte Heringe, Essiggurken, Ketchup, Mayonnaise, Dip-Saucen.

60 Eier, denn «damit kann man alle möglichen Gerichte zubereiten», meinte Tati.

Knäckebrot und Zwieback.

Mehl, Zucker, Milchpulver, Frühstücksgetränkepulver, Kaffee, Müsli, Konfitüre, Schachtelkäse, Parmesan.

Energieriegel, Biscuits, Biberli, Schokolade, Mini-Marzipan-Gemüse.

An der Kasse zückte Tati ihre Karte, dann ruckelten sie mit den vollen Wagen durch Strassen und Gässchen bis zu ihrer Wohnung an der Engelgasse. Nachmittags folgte eine Expedition in ein Fachgeschäft für Outdoor-Artikel, wo sie einen grossen Campingkocher, zahlreiche Gaskartuschen, Zündhölzer, Batterien, Dynamo-Taschenlampen und ein Dynamo-Radio erstanden. Dabei kamen sie in der Vadianstrasse an einem Plakat vorbei: Lebensqualität ist, dass ich mir einen Tag ohne Strom gar nicht vorstellen kann. Anschliessend überprüfte Luca den Grill, der auf dem Dachgarten stand, und nahm sich vor, am nächsten Tag Holzkohle und Anzündwürfel zu kaufen.

Gisela Löpfe hatte die Bratwurst mit einer grossen Tasse Tee hinuntergespült. Sie surfte durch alle möglichen amtlichen Webseiten, aber ausser der knappen Mitteilung, dass in Mühleberg die Zone eins noch in der vergangenen Nacht evakuiert worden sei, fand sie dort kaum Informationen zur Reaktorkatastrophe. Zudem hatte diese Mitteilung auf den verschiedenen Informationskanälen, inbegriffen die Webseiten der Printmedien, nahezu den gleichen Wortlaut. Die einzige handfeste, aber sehr beunruhigende Information betraf die im Lauf des Nachmittags steigenden Strahlungswerte rund um das Kernkraftwerk. Aus Bundesbern war nichts anderes zu erfahren, als dass der Bundesrat am frühen Abend zu einer Sondersitzung zusammentreten werde. Eigentlich wollte Gisela die Antwort studieren, die ein Mitarbeiter der Standortförderung auf eine jener nervigen Interpellationen aus dem Stadtparlament verfasst hatte: «Macht es Sinn, bei Vollbeschäftigung und angesichts der knappen städtischen Baulandreserven weiterhin neue Firmen anzulocken?» Aber keiner der Sätze des Textes schaffte es wirklich in ihr Hirn. Das Ratlosigkeitsmonster besetzte jede Synapse ihrer grauen Zellen. Schliesslich verschickte sie wie am Vortag wieder eine Einladung zu einer Sondersitzung an Stadt- und Kantonsregierung. Am kommenden Morgen um neun würde man über allfällige Entscheide des Bundesrats mehr wissen. Gisela machte sich viel früher als üblich auf den Heimweg, auch jetzt zu Fuss, denn heute hatte sie nicht die geringste Lust, im Bus von Passagieren angequatscht zu werden. Ihre Rechnung ging aber nicht auf: Vor ihrem Wohnblock wollte ein Nachbar wissen, was da in Bern vor sich gehe und was sie als Stadtpräsidentin zu tun gedenke. Eigentlich sagte ihre abwehrende Handbewegung schon alles, aber sie rang sich doch zu einem «Wir werden das morgen Vormittag besprechen» durch. Der Nachbar hatte sie noch nie so ratlos gesehen. Offenbar wusste sie kaum mehr als ein einfacher Bürger wie er.

Im Lauf des Abends wurde bekannt, dass sich der Bundesrat zu einer Sondersitzung getroffen, aber vorläufig keine Beschlüsse gefasst habe. Bundeskanzler Guy Pache verwies in allen Landessprachen auf die geplante Sitzung am nächsten Morgen. Mehr war nicht zu erfahren, obwohl die nach Informationen gierende Meute der Journalisten ihn mit Fragen überhäufte. In einer anderen Situation hätte Gisela am Fernsehschirm diese Meute mit Schmunzeln beobachtet, doch jetzt gierte sie selbst nach Neuigkeiten. Sie fragte sich, ob es bei der morgigen St. Galler Krisensitzung überhaupt etwas Konkretes zu beschliessen geben würde, und wenn ja – was.

Im Spisertor genoss Julia Kehl den Tag. Sie hatte am Vormittag seit Langem wieder einmal Patiencen gelegt, und erst als sie nachdenklich die ausgebreiteten Karten betrachtete, fiel ihr auf, dass es ungewöhnlich ruhig war, denn aus keinem Nebenzimmer war ein quäkendes Radio zu hören, und draussen kurvten weniger Autos als sonst um den Kreisel. Einmal fuhr ein weisser Lieferwagen der Firma Auffi Lifte vor und parkierte auf dem Trottoir. Doch die Sonne schien, das war die Hauptsache, und als Julias vierte Patience aufging, war sie vollkommen zufrieden. Beim Mittagessen erfuhr sie mit Verwunderung vom Stromausfall, liess sich aber Suppe und belegte Brote schmecken und kam mit Rosanna Salarori ins Gespräch. Das war etwas schwierig, denn Julia konnte nicht Italienisch und Rosanna nicht besonders gut Deutsch. Doch das Abenteuer mit dem steckengebliebenen Lift bot genug Stoff für eine aufregende Erzählung, «Die signora Niculescu war tanto cara, so lieb», und «Der signore vom ascensore molto forte», sprudelte es aus Rosanna.

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