Kitabı oku: «Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung», sayfa 10

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Folgen einer Traumatisierung bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung

Verhalten als »Sprache«

Immer wieder müssen wir uns in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass wir immer differenzierter lernen müssen, dass das Verhalten eines Menschen selbst als »Sprache« verstanden werden kann, insbesondere bei erheblicher kognitiver Einschränkung der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit. So muss der Blick stärker auf das Gesamtverhalten gerichtet werden und außerdem auf körperlich-somatische Phänomene wie Erregung, Erstarrung, taktile Über- oder Unterempfindlichkeit, erhöhte Krankheitsanfälligkeit, auffällig intensives oder geringes Schmerzempfinden oder auch Erbrechen.

Bei einer 42-jährigen Bewohnerin einer Einrichtung (Down-Syndrom, ausgeprägte Intelligenzminderung, nur sehr eingeschränkte sprachliche Kommunikationsfähigkeit) treten heftigste Durchfälle auf. Eingehende körperliche Untersuchungen und Stuhlproben geben keinen Hinweis auf die Ursache. Die Beeinträchtigung tritt über ein Jahr auf, nicht nachvollziehbar immer im Zusammenhang einer anstehenden Busfahrt. Nach dem Suizid des früheren Busfahrers werden sexuelle Übergriffe durch ihn bekannt. Mit größter Wahrscheinlichkeit war auch die Bewohnerin davon betroffen, ohne dass sie dies hinreichend verbalisieren konnte. Der Durchfall war ihre »Sprache«.

Symptome

Es gilt verstärkt wahrzunehmen:

•das Verhalten in sozialen Beziehungen, beispielsweise Bindungsstörungen,

•eine verminderte Fähigkeit zur Affektregulation,

•ausgeprägte Ängste vor Unbekanntem,

•Kontaktvermeidung und Rückzugsverhalten,

•ausgeprägtes Verweigerungsverhalten,

•sexualisierte Verhaltensweisen, generell ungewöhnliche Kontaktgestaltung,

•regressive, d. h. auf frühere Entwicklungsstufen zurückfallende Phänomene,

•schwere aggressive und selbstverletzende Verhaltensweisen.

Auch eine Verstärkung der Anfallsfrequenz bei Epileptikern kann vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Lea, 27 Jahre alt, weist nach einem Sauerstoffmangel unter der Geburt einen Zustand nach frühkindlicher Hirnschädigung (FKHS) mit einer mittelgradigen Intelligenzminderung auf. Weitere Folge der FKHS sind eine Lähmung im Sinne einer Tetraspastik sowie eine fokale Epilepsie mit Neigung zur Generalisierung mit schweren Grand-mal-Anfällen. Im Elternhaus machte sie bis zur Heimaufnahme zur Zeit der Pubertät schwere Gewalterfahrungen. Vor anstehenden Besuchswochenenden zeigte sie eine deutliche Stress-Symptomatik, dabei vor allem eine ausgeprägt erhöhte Anfallsbereitschaft.

verschiedene Ursachen möglich

Selbstverständlich können alle hier genannten Phänomene auch durch andere Umstände oder Ursachen bedingt sein. Sollte aber eine Mehrzahl dieser Phänomene beobachtet werden und ist deren jeweilige Ursache nicht erkenntlich, auch nicht einfühlbar, muss an eine Traumatisierung als Mitbedingung gedacht werden.

Reflexion

Symptome als Selbstheilung

Meines Erachtens reicht es nicht aus und ist es auch nicht sinnvoll, die oben geschilderten Symptome ausschließlich als »krank« oder als »Defizite« zu beschreiben. Natürlich ist das Erleben dieser Symptomatik mit Leiden, oft schwerstem Leiden verbunden, das soll in keiner Weise infrage gestellt werden. Dennoch: Ich halte es für berechtigt, manche dieser Symptome auch unter dem Aspekt einer allerersten »Selbstheilung« zu sehen. Zumindest aber können wir hinter den Symptomen einen – wenn auch unbewussten – Versuch der Betroffenen erkennen, die schweren Folgen einer Traumatisierung für das alltägliche Leben bewältigbar zu machen und damit ein »Überleben« zu ermöglichen. Hier meine ich gerade Aspekte wie Vermeidung, Übervorsichtigkeit, Amnesie, Schlafbeeinträchtigung und auch eine begrenzte Gefühlstiefe, eine eingeschränkte Emotionalität. Auch wenn dies vorläufige »Lösungen« sind, ermöglicht dies vielleicht den Menschen, die Schwere ihres Lebens zu ertragen.

Ein Jugendlicher, der ohne Begleitung durch seine Eltern oder vertraute Personen eine lange, gefährliche und extrem belastende Flucht aus Afghanistan geschafft hat, verbrachte in den ersten Monaten, die er in Deutschland lebte, die Nächte damit, angekleidet in seinem Bett zu sitzen und immer wieder nur kurz einzunicken. Ein Schlafmittel lehnte er ab. Es war deutlich, dass es ihm darum ging, seine Aufmerksamkeit und Kontrolle aufrechtzuerhalten, die ihm letztlich dazu verholfen haben, die Flucht zumindest äußerlich heil zu überstehen.

Übervorsichtigkeit

Ein seelisch verletzter Mensch, der in der Überforderung und Überwältigung der Traumatisierung ohnmächtig war, zeigt in dem vielleicht als übervorsichtig oder auch vermeidend oder überkontrolliert empfundenen Verhalten, dass die Situation dadurch für ihn im Moment beherrschbarer erscheint.

Sicht von innen oder der Versuch, sich in einen traumatisierten Menschen hineinzuversetzen

Ein Versuch, wie er hier angestrebt wird, ist immer und prinzipiell einer großen Verunsicherung ausgesetzt: Nie bin ich wirklich und definitiv am inneren Ort des anderen. Trotzdem soll hier das Indianerwort »Wer den anderen verstehen will, muss in seinen Mokassins gehen« konkret werden. Anders gesagt: Es sind des anderen Schuhe, nicht seine Füße, in die wir probeweise schlüpfen.

Bereitschaft, die eigene Einschätzung zu ändern

In diesem Sinne wird das nun Folgende eine vorläufige Einschätzung, eine Hypothese sein, die immer aufs Neue ergebnisoffen geprüft werden muss. Es ist wie gesagt als Versuch anzusehen, immer in der Bereitschaft, meine Haltung und Einschätzung zu ändern. Dahinter steht auch das Wort Søren Kierkegaards: »Wenn ich wirklich einem anderen helfen will, muss ich zuallererst begreifen, was er verstanden hat.«45 Dennoch: Bei Menschen, die nicht in der Lage sind, sich verbal zu artikulieren, ist der Versuch wesentlich, sich die Situation vorzustellen und sie so zu schildern, als würde der andere sich aussprechen. Vielleicht mag es sich so anfühlen, vielleicht würde es ein Betroffener so formulieren, oder auch anders, ganz anders – die Formen des Erlebens sind so vielfältig!

Immer und immer wieder diese Verunsicherung. Abgrundtief, bodenlos. Worauf, auf wen kann ich mich verlassen? Ich kann mich ja nicht auf mich selbst verlassen. Ich nehme mir etwas vor, verabrede mich, will etwas unternehmen – und muss dann spüren, dass meine Kraft nicht reicht. Spüre, wie die Beine weich werden oder zittern.

Ja, zittern, immer diese Angst. Eigentlich macht alles Angst. Mit anderen zusammen sein macht Angst, was wollen sie von mir, kann ich ihnen genügen, lassen sie mich am Ende alleine oder stellen sie mich bloß – oder ich verstehe nicht, was sie wollen oder meinen oder denken – oder ich bekomme dann wieder diese merkwürdigen Zustände, wo ich nichts mehr blicke, rein gar nichts. Dann mache ich verrückte Dinge, sage etwas, was ich nicht sagen will, oder sage gar nichts, weil mir keine Worte einfallen oder keine Gedanken da sind.

Oder wo ich meinen Körper nicht mehr spüre: Sitzen, stehen, alles fühlt sich so fremd an.

Ich habe Angst, mit anderen zusammen zu sein. Aber alleine sein macht auch Angst.

Ich finde kein Vertrauen mehr, zu nichts und niemand. Gerade habe ich Vertrauen zu jemand aufgebaut, bin ich unsicher: Meint es dieser Mensch denn wirklich ernst? Oder verlässt er mich bei nächster Gelegenheit wieder, oder tut mir etwas an – da wende ich mich doch lieber selbst ab, dann habe ich es wenigstens in der Hand – auch wenn es furchtbar ist, dann wieder alleine zu sein und dazu noch seine Enttäuschung zu spüren.

die innere Seite des anderen nachempfinden

Ich halte es für lohnend, immer wieder zu versuchen, die innere Seite des anderen nachzuempfinden, sich im Team darüber auszutauschen – zu versuchen, sich der Innensicht, dem inneren Erleben des anderen anzunähern.

Ein tief verletztes Leben – Einzelfallschilderung

Astrid kam achtjährig von einer Förderschule in eine Schule und ein Heim für sogenannte geistig behinderte Kinder, einen Lern- und Lebensort für seelenpflegebedürftige Kinder und Jugendliche. Von der Gestalt war sie zartgliedrig, für ihr Alter relativ klein, ihr dunkles Haar war dünn und spröde. Sie hatte Ringe unter den Augen, die Schultern hingen herab, als würde sie eine große Last tragen. Der Schritt war schwer. Dabei verfügte sie über eine einfache Sprache, die Artikulation war nicht durchgestaltet. Unmittelbar aber berührte der Blick – eine eigentümliche Mischung aus hoffnungsvoller Bitte um Geborgenheit und angstvoller Distanz, dabei durch eine nicht kindgemäße große Müdigkeit geprägt.

Was stand im Hintergrund? Manches bleibt im Dunkel. Den Unterlagen und Gesprächen konnte ich entnehmen, dass sie mit einem Geburtsgewicht von ca. 2.700 Gramm geboren wurde, wahrscheinlich in der 34. Schwangerschaftswoche (also sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin). Es war eine Kaiserschnitt-Geburt, die wegen beeinträchtigter Herztätigkeit des Kindes erforderlich wurde.

Die Schwangerschaft war belastet. Zum einen durch Nikotin. Dies bedeutet eigentlich ein Doppeltes: Da ist zum einen der Stoff Nikotin, der die Blutgefäße verengen lässt und dadurch insbesondere die Ausgestaltung des hochempfindlichen Gehirnorgans behindert. Aber eine rauchende Mutter bedeutet auch eine Mutter mit mangelnder Fähigkeit, die Bedürfnisse der Leibesfrucht wahrzunehmen. Die Mutter selber wiederum erlitt während der Schwangerschaft schwere körperliche Gewalt durch ihren damaligen Partner. Und mittendrin ein zutiefst ausgeliefertes Kind, auf das all das einwirkte – Nikotin, Gewalt, Angst der Mutter. Trotz allem war die werdende Mutter auch in »guter Hoffnung«, in immer wieder aufkeimender freudig-liebevoller Erwartung des Kindes, das sie trug. Die Dinge sind nie nur schwarz oder weiß.

In den ersten Lebensjahren oblag die Erziehung der überforderten Mutter, die bei wechselnden Partnern Halt suchte und Gewalt fand. Dazwischen ein Kind, das weder die leibliche noch die seelische Ernährung erfahren konnte, derer es bedurft hätte. Die Mutter selbst hatte keinen stützenden familiären Umkreis. In den ersten Lebensjahren Astrids fand eine nur sehr zögerliche Beobachtung durch das Jugendamt statt, keine wirkliche Hilfe auch von dieser Seite. Irgendwann und irgendwie hat Astrid in den frühen Jahren ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erlitten, wahrscheinlich über Jahre. Die Äußerungen und das spätere Gebaren des Kindes waren eindeutig. Viel später konnte sie auch anfänglich etwas von dem Erlittenen erzählen. Also ein früher, schwerer zusätzlicher Einbruch in Körper wie Seele des heranwachsenden Kindes. Mit all dem, mit all diesen prägenden Erfahrungen kam Astrid achtjährig in das Heim.

Die Diagnose, die seinerzeit gestellt wurde, war zum einen ein Zustand nach frühkindlicher Hirnschädigung und zusätzlich eine komplexe Traumatisierung. Letztere umfasste sowohl eine emotionale Traumatisierung – dies beschreibt zum einen eine besondere Form der Verwahrlosung, aber auch einen ausgeprägten Verlust von Fürsorglichkeit – als auch auf diesem äußerst labilen Untergrund eine sexuelle Traumatisierung.

Gerade bei früh, anhaltend und komplex traumatisierten Kindern lässt sich oft schwer nur eine Grenze zwischen den Auswirkungen einer möglichen frühkindlichen Hirnschädigung und den Auswirkungen einer Traumatisierung ziehen. Die Symptome können sich überschneiden. Auch die eingeschränkte kognitive Entwicklung mit leichter Minderbegabung oder ein nur mangelhaft durchdrungenes Bewegungsbild kann durch beide Beeinträchtigungen verursacht sein.

Die relativ ausgeprägte Beeinträchtigung ließ mich hier diese kombinierte Diagnose stellen.

Für den therapeutischen Ansatz war dieses zunehmende Wissen um die erlittene Traumatisierung ein wesentlicher Ausgangspunkt. Ebenso das Wissen um die Maxime: Grundlage jedweder therapeutischen Beziehung ist das Schaffen von Sicherheit.

Wir empfanden es folgendermaßen: »Unterstützt mich bitte in meiner Suche nach Sicherheit. Schafft für mich einen sicheren Ort.« Nach den Wirrnissen und Kränkungen der ersten Lebensjahre war das die zentrale Bitte, die Astrid durch ihr So-Sein aussprach. Ein solcher sicherer Ort umfasst vor allem drei Bereiche: eine vertrauensvolle Beziehung, einen positiven Bezug zum eigenen Leib sowie einen konkreten sicheren Ort in der konkreten Lebenssituation.

Im Vordergrund stand das Schaffen und Aufrechterhalten einer sicheren Bindung, auch einer möglichst kontinuierlichen therapeutischen Beziehung. Dabei konnte nicht verhindert werden, dass sich die Lebensentwürfe von Bezugspersonen änderten. Dennoch blieb es das Grundanliegen, die jeweiligen Beziehungen getragen zu wissen von Einfühlung, Vertrauen und Sicherheit, besonders auch von einem Verzicht auf Willkür und einem hohen Maß an Vorhersehbarkeit für Astrid.

Weiterhin galt es einen positiven Bezug zum eigenen Leib zu ermöglichen. So erfuhr Astrid zunächst sensorische Integration,46 einen Ansatz der Physiotherapie, immer wieder in Epochen, um insbesondere auch Freude an der Bewegung durch deren vertiefte Durchdringung zu ermöglichen. Hinzu kamen Einreibungen, unter anderem mit Rosenöl und Solum. Gerne hätten wir Astrid anschließend fest eingewickelt, um ihr Halt zu geben; sie reagierte aber mit Angst. So ruhte sie in der Hängematte nach, was sie gut akzeptieren konnte, und behielt dadurch die Kontrolle – es war richtig so.

In diesem Zusammenhang war auch die Gestaltung einer Sinnespflege wesentlich, hier zunächst vor allem das Haltgebende des Tastsinns. Dieser Sinn vermittelt die Urerfahrung: Ja, das bin ich, und ich erfahre es durch das Gehaltenwerden. Weiterhin galt unser Bemühen der Pflege des »Lebenssinns«, also einer Förderung des Wohlgefühls im Körper, unterstützt auch durch die Ritualisierung des Alltags und durch Wärme, immer wieder Wärme.

Als weitere Körpertherapie kam die Heileurythmie zum Einsatz. Ergänzt wurde die Behandlung in dieser Phase durch Medikamente aus der anthroposophischen Medizin, vor allem Aurum comp. sowie Bryophyllum und Silber.

Ein kleiner, aber wesentlicher Ansatz in der gelebten therapeutischen Begleitung war das Bemühen, dass das, was man sich jeweils vorgenommen hatte, auch realisiert wurde, gemäß dem Grundgedanken: Das, was ich mir vornehme und tue, stärkt meinen Willen. Wille hier gesehen als die innere Kraft, die mir Selbstorientierung und Selbstsicherheit vermitteln kann. So einfach dieser Grundsatz erscheint – wir haben ihn auf Astrids Weg immer wieder vergessen und mussten uns dann schmerzlich daran erinnern. Dann waren die Aufgaben zu groß und hatten ein Scheitern, Resignation, Frustration, später auch Aggression zur Folge.

Der Wille muss langsam, fast millimeterweise wachsen dürfen, sonst schreckt er zurück. Für uns Begleiter heißt es dann, dieses Vornehmen und Tun innerlich wie äußerlich zu begleiten.

Der andere, den ersten ergänzende Leitsatz heißt: Was ich mir vornehme und nicht tue, schwächt den Willen. Und solch ein Vorsatz umfasst auch, was ich von dem Kind erwarte und ihm abverlange.

Vornehmen und Tun, d. h. auch ruhig schreiten, Schritt für Schritt, ganz ähnlich wie bei einer anstrengenden Bergwanderung, wo ich auch immer nur jeweils einen Schritt nach dem anderen setzen kann.

Die Anpassung der Erwartungen an die Möglichkeiten Astrids wie an die Möglichkeiten des Teams führte zunächst zu einer Beruhigung der Situation. Dann aber zeigte es sich, dass Astrid mutiger wurde, sich die Frustrationstoleranz verbesserte und auch ihr Durchhaltevermögen zunahm.

Die Jahre um die Pubertät führten bei Astrid zu erheblichen seelischen wie leiblichen Veränderungen. Die zartgliedrige Gestalt wurde gröber und schwerer. Die vorher immer wieder aufleuchtende feine Helligkeit wich einer zunehmenden Dunkelheit, fast Dumpfheit. Manchmal dachte ich: Ob wohl die kompakte Gestalt und die Dunkelheit wie ein Schutzwall sind, um einen Rest von Licht tief drinnen zu bewahren?

Die Art, mit ihr zu sein, veränderte sich: Wer ihr begegnete, ihr begegnen musste – Pädagogen in der Schule, Erzieher im Heim oder Therapeuten –, versuchte zunehmend, sie zu meiden. Sicher unbewusst, aber sie trug einiges dazu bei: Sie verprellte gerade die Menschen, die sich besonders um sie bemühten. Kleptomane Züge zeigten sich; mehr noch, sie nahm Gegenstände von anderen, sogar von der Lehrerin, zu der sie ein besonders inniges Verhältnis hatte, auch Wertvolles – und zerstörte es. Dieses Verhalten nahm immer mehr zu.

Immer stärker wurde in dieser Zeit aber auch das Bedürfnis, sie innerlich zu verstehen, diese empathische Grundhaltung wurde sehr herausgefordert. Es galt, hinter diesen vordergründig verwirrenden oder auch abstoßenden Erscheinungen und Verhaltensweisen die große Not der Seele dieser nun bereits Jugendlichen zu erkennen, ihre eigentliche Frage wahrzunehmen. Hinter ihrem herausfordernden Handeln stand die kontinuierliche Suche nach Akzeptanz, letztlich das Bedürfnis, ohne jede Bedingung geliebt zu werden. Die Frage an den Begleiter lautete: Schaffst du das, willst du das? Immer wieder neu bedurfte es einer Bekräftigung und Bejahung der therapeutischen Beziehung durch die Bezugspersonen. Diese Haltung und unsere ständige Bemühung darum war in diesen Jahren vorrangiges therapeutisches Mittel. Daneben wurden Maßnahmen der Heileurythmie fortgesetzt, zum Teil auch Physiotherapie als Arbeit an der eigenen Gestalt zur Stärkung der Aufrichtekräfte sowie der besseren Durchdringung der eigenen Bewegung. Astrid liebte im Besonderen die Reittherapie – die aus äußeren Gründen aber leider nur begrenzt eingesetzt werden konnte.

Eine neue, tiefere Frage trat mit dem Erwachsenwerden in Astrids Leben auf. Als ob das Eis, auf dem die sich entwickelnde Seele nun stand, zu dünn sei, zeigten sich tiefe, immer umfassendere Ängste, im weiteren Verlauf auch Zweifel, ob der andere wirklich der andere ist. Kurz gesagt: Ein paranoides Erleben als Ausdruck einer sich entwickelnden Psychose trat auf. Später kamen akustische Halluzinationen dazu, dieses eigentümliche innere Hören. Auf dem Boden der dazugehörigen Ängste, dann auch begleitet von schweren Selbst- und Fremdaggressionen, flammte die Psychose schließlich auf. Vielleicht stand hinter ihr eine Dissoziation, dieses tiefe Aufbrechen des seelischen Zusammenhalts als schwere Auswirkung einer Traumatisierung. Tiefe Selbstzweifel beherrschten Astrid zunehmend. Ein Wort des österreichischen Psychiaters Christian Scharfetter kam mir in den Sinn, das er einem Buch über Psychosen vorangestellt hat und die Äußerung eines an einer Psychose erkrankten Menschen zum Inhalt hat: »Das ist die Kernfrage: Ob ich überhaupt bin.«47

Wir setzten uns zum Ziel, in der äußeren Lebensgestaltung die verminderte Belastbarkeit zu berücksichtigen, besonders durch eine Entlastung bei den Anforderungen im Alltag. Angesprochen durch die zunehmende Wirrnis in ihrem Inneren versuchten wir, die Umgebung schön zu gestalten: soweit möglich äußere Ordnung, eine Blume, ein farbiges Tuch, Harmonie und Freude fürs Auge. Vor allem aber wurde die Haltung der Begleitenden herausgefordert, die notwendige Echtheit und Aufrichtigkeit. In ihrer ungemein hohen Sensibilität spürte Astrid unmittelbar, ob diejenigen, die sie begleiteten, aus einer inneren Authentizität heraus handelten. Dieses Handeln kann nur dann wirksam sein, wenn es von einem echten, vielleicht sogar gesteigerten Interesse am anderen getragen wird.

Die Psychose bedingte einen Therapiewechsel bzw. eine Erweiterung des Therapieangebots. So wurden ab dem jungen Erwachsenenalter auch Neuroleptika eingesetzt, im Wesentlichen Quetiapin und Risperidon. In den Jahren des jungen Erwachsenenalters trat dann auch Psychotherapie hinzu. Obwohl dieser psychotherapeutische Ansatz jetzt schon Jahre andauert, konnte diese Therapie »nur« dazu genutzt werden, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen.

Wenn diese Beziehung einmal als wirklich tragfähig erlebt werden kann, dann kann ein Ort entstehen, an dem Bilder, vielleicht auch Worte für das Erlittene gefunden bzw. geschaffen werden können, vielleicht auch unter Einbezug der zunehmend bewährten bilateralen Stimulation, zum Beispiel in Form von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Dabei handelt es sich um eine spezifische Traumatherapie, die auf der Erkenntnis beruht, dass die rasche wechselseitige Stimulation der rechten und linken Gehirnhälfte helfen kann, Erlittenes bzw. die Erinnerung an Erlittenes in die Seele zu integrieren.48 Doch das liegt bei Astrid noch in der Zukunft. Zunächst geht es bei dieser wie bei jeder anderen Therapie um das entscheidende Vermitteln von Vertrauen und Sicherheit.

Als Astrid 26 Jahre alt war, wurden die psychotischen Zustände schwächer und ruhiger. Die ergänzende neuroleptisch-medikamentöse Behandlung konnte weitgehend zurückgenommen werden. Trotzdem traten noch überwältigende Erinnerungsstürme auf, sogenannte Flashback (siehe Seite 91), verbunden mit großer Angst und Hilflosigkeit.

Zunehmend konnten auch innere Entwicklungsschritte angeregt und unterstützt werden. So erwies sich ein Tagebuch in den Jahren des jungen Erwachsenenalters als wichtig, geführt in unterschiedlicher Intensität, zunächst mit Hilfe der Betreuer, dann auch für sich selbst – ein »Dankbarkeits- bzw. Freudetagebuch«. Der Sinn eines solchen inneren Ansatzes ist, durch den Ausdruck von erlebten positiven Eindrücken den belastenden Eindrücken etwas entgegenzustellen, als Grundlage für Hoffnung und die Bewältigung des Erlittenen. Astrid malt seit Jahren zunehmend und nimmt Malunterricht in einer Gruppe. Es geht nicht um eine Technik, einen Stil etc., sondern um schöpferisches Gestalten, um das »Spielen« mit dem Medium Farbe, darum, die eigene Ausdrucksfähigkeit jenseits von Sprache zu vertiefen. Kunsttherapie wie die Beschäftigung mit Kunst, das Aufnehmen von Kunst wie die aktive Gestaltung kann therapeutische Wirkung entfalten. Es weitet die Sinne und die Seele, fördert die Annäherung an das, was hinter den Dingen liegt, das macht es zur Therapie.

Erstaunlich vor dem Hintergrund der Entwicklungsbedingungen war, dass Astrid eine Beziehung zu einem Mitbewohner einging. Erstaunlich war, dass trotz immer wieder aufbrechender Ängste – vor allem der Angst, verlassen zu werden – die Freude über diese Beziehung über lange Zeit vorrangig war. Sie erfuhr darin Geborgenheit und Halt. Aber sie musste auch Irritation und Verzweiflung erleben, das ist menschlich und kommt in vielen anderen Beziehungen vor. Eine qualifizierte Paartherapie seitens der Sozialtherapeutin unterstützte diese Prozesse.

So weit kann der Weg von und mit Astrid geschildert werden. Er wird weitergehen. Ein Weg, der zunehmend ihr eigener geworden ist, nachdem sie in den Jahren der Kindheit und Jugend therapeutisch begleitet wurde. Die Unterstützung hat die Form einer Assistenz angenommen, die in Absprache gewährt und gestaltet wird.

Dieser Weg hat einen offenen Ausgang – wie jeder therapeutische Prozess. Therapeutisches Handeln kann immer nur prozessorientiert sein. Aufseiten der therapeutischen Begleiter steht das aufrichtige Bemühen. Ob und wie Heilung oder Linderung eintritt, liegt nicht in ihrer Hand – letztlich ist es ein »Moment der Gnade«.

Ist dieser geschilderte Weg eine »Erfolgsgeschichte«? Wohl nicht im vordergründigen Sinn. Aber: Geht es denn überhaupt darum?

Es ist ein Weg, es ist ihr Weg – und es ist der Weg der Begleiter mit ihr.

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9783825162009
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